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Philosophie des Kochens

Von Resten und Rasten: „Die Philosophie des Kochens“

Nicht schon wieder ein Kochbuch? Doch. „Die Philosophie des Kochens“ von Herausgeber Stevan Paul ist eine Bereicherung. Das Werk ist weitaus weniger profan als sein Titel vermuten lässt, sondern vielmehr eine mit Eifer und Expertise verfasste Essaysammlung, die bislang gefehlt hat.
Ganz im Ernst, ein neues Kochbuch? Ich persönlich habe noch nie aus einem Kochbuch gekocht und die, welche zu Hause bei Muttern standen, waren eher essentieller Status eines mittelständisch schwäbischen Haushalts denn Kundgabe einer Kochpassion. Ich erinnere mich an eine komplette Reihe von „Gräfe und Unzer“, angefangen von „Aubergine und Zucchini“, „Cocktails“ oder eben auch „Vegetarische Küche“. Weil man ja in den Stuttgarter 1990ern gar nicht gewusst hat, wie man vegetarisch kocht.

Online-Rezepte für alle Geschmäcker

Doch ernsthaft – Kochbücher sind, mitunter durch fortschreitende Übernahme des Alltags durch das Internet, überholt. Wer etwas kochen will und nicht weiß, was genau, googelt. Ob auf Chefkoch oder diversen anderen Foren – es gibt für wirklich jeden Kühlschrank und jede Konstitution, jeden Dauerhype und jede Diät eine Online-Rezeptsammlung, in der Regel lassen sich sogar die Personenzahlen modifizieren, so dass man nur eineinhalb Zwiebeln kaufen muss und nicht drei.
Nein, ein Kochbuch im Sinne von Zutatenlisten und Schneideanweisungen braucht nun wirklich kein Mensch mehr – wenn er es denn überhaupt irgendwann einmal gebraucht hat. Sagt zumindest jemand, für den Resteessen eine der Königskategorien in der Küche darstellt und eigentlich denkt, Restekochen sollte zu einer olympischen Disziplin werden.

Reste: die Mutter des Neuen

Und genau für solche Leute gibt es jetzt ein Buch über das Kochen, das sich mit jedem Satz lohnt. Auf 238 Seiten sammelt der Journalist und Autor Stevan Paul Essays, die eine neue Dimension vom Sprechen über die Zubereitung von Essen erreicht. Eine, die tatsächlich den Anspruch erhebt, über eine „Philosophie des Kochens“ zu sprechen. Und wir wissen ja, wie es in der Regel um die „Philosophie des …“-Literatur bestellt ist: ähnlich anspruchsvoll wie „… für Dummies“-Lektüre.
Hier allerdings geht es tatsächlich um die Philosophie des Kochens. Um das Woher und das Warum, über das Wie und Wohin, separiert in sechzehn gedankliche Fokusse. Allesamt geschrieben von Kulinarikern, die sich hier auf die Physik, dort auf die Historie oder die Politik des Essens spezialisiert haben, kann man bei jedem einzelnen der Autoren froh sein, dass der Mensch nicht nur Essen und Genießen, sondern auch darüber schreiben kann.
Zum Beispiel eben über die Resteküche. Da erzählt der studierte Jurist und Philosoph Jörn Kabisch, der dankbarerweise auch für die taz und Der Freitag schreibt, über Pepe Dayaw, den Restekünstler. Im Neuköllner Centre for Contemporary Practices vor Ort oder als Performance-Koch seiner Nowhere Kitchen buchbar, kocht er mit dem, was er in diversen Kühlschränken nun eben findet.
Da könnte er sich bei mir aber schön umgucken, denke ich mir insgeheim, und sinniere über das letzte Stückchen Schafskäse, Misopaste, zwei Eier, Schalotten und den Rest von Whiskysenf, außerdem eine Nussmischung. In der Beschäftigung mit Resteessen konzentrieren sich daher nicht nur die Fragen nach Kunst und Können, sonder auch politische Fragen nach Konsum und Nachhaltigkeit – nicht umsonst öffnen derzeit Lokale wie das Neuköllner Reste-Restaurant Restlos Glücklich. Weniger Wegschmeißen und dabei kochen lernen, davon erzählt Jörn Kabisch.

Steven Paul kümmert sich auch um Menschenfleisch

Eines der persönlichen Favoritenkapitel ist auch jenes über das Essen von Menschenfleisch. Habe ich mich, ehrlich gesagt, schon lange gefragt. Also, nicht proaktiv, wohlgemerkt. Eher, weshalb es in unseren Kulturkreisen so verpönt, ja, abartig wahrgenommen zu werden scheint und weshalb wir Menschen in der Regel eher hungern als einander zu verspeisen.
Vermutlich, weil es eines gewaltigen Regelwerks bedürfe, da eine gesellschaftsfähige Politik hineinzukriegen? Und natürlich frage ich mich auch, wie es wohl schmeckt. Darüber und über die Kultur des Kannibalismus schreibt Tobias Müller, der sich darüber ausführlich mit Kulturwissenschaftlern und Ethnologen unterhalten hat. Neben jedweden Formen der weltweit verschiedenen Zubereitungen vom Menschenfleisch bleibt die Vermutung nicht aus, der menschliche Körper schmecke nach Schwein. Ein mit Tribalmotiv tätowiertes Oberarm-Medaillon des Tischnachbarn gefällig?

Existentielles Essen

Ein wenig angepasster geht es dabei in dem Restaurant sosein zu. Wenn die Lektüre von Albert Camus womöglich weniger verbreitet sein mag als früher – dass Kochen Zeit kostet, weiß jeder, der mindestens einmal in seinem Leben berufstätig war und nach einer Woche Mittagspause sogar seine wochenendlichen selbstgekochten Nudeln mit Tomatensauce mit neuer Wonne zubereitet. Das Konzept von sosein geht daher, gemäß Camus’ Credo, vor: „Der Künstler erschafft die Welt auf seine Rechnung neu.“
Der Mensch – so der Existenzialismus als die selbständige Bestimmung unseres Seins dazu auffordert, das Selbst permanent zu gestalten – ist daher gezwungen, Prioritäten zu setzen. Im sosein gelten diese dem Essen in all seinen Facetten: seinen Erzeugern und seiner Herkunft, seiner Saison und Kultur, seiner Zubereitung und Aufnahme. Im Grunde ein modernes Restaurantkonzept, in dieser Elaboration allerdings nicht selbstverständlich – was ein Blick auf die Masse an Fast Food-Dichte in weiten Teilen des Landes beweist.

„Die Philosophie des Kochens“ kann auch Food Porn

Leider können wir nicht alle Kapitel des von Herausgeber Stevan Paul kuratierten Buches eigens vorstellen, also schließen wir – selbstredend mit dringender Leseempfehlung aller Essays – mit jenem, dessen Titel am wohl einprägsamsten ist: Orgasmen sind wie Pommes – Eine soziologische Erkundung der Gastroerotik.
Dass Pommes orgastische Freude auslösen können, weiß man, wenn man gegen halb vier in der Nacht vor einer Pommesbude sitzt. Ich persönlich habe solche Gefühle tendenziell eher bei Steak – daher auch die Freude an dem Kannibalismus-Essay – allerdings kenne ich einige Menschen, die verstünden den Pommes-Vergleich auf Anhieb.
Viel spannender scheint doch der Begriff der Gastroerotik. Dieser, so schreibt der Soziologe Daniel Kofahl, setzt sich im Grunde aus einer immer schon gelebten Verknüpfung von Essen und Sex zusammen. Seit Urzeiten kredenzen wir einander Aphrodisiaka, haben uns „zum Fressen gern“ und eine Askese ist stets auf zumindest Essen und Sex bezogen. Wer heute auf den sozialen Kanälen aktiv ist, wird außerdem kaum drei Minuten scrollen müssen, bis er zum ersten Mal ein Burgerbild mit dem Hashtag food porn stößt. Essen und Sex sind beides extrem sinnliche Erfahrungen, oftmals irrational und lustvoll, wie alle sinnlichen Erfahrungen zeitlich flüchtig und dabei mit hohem Maß an Befriedigung verbunden; also, im Optimalfall.
Auch cineastische Beispiele, wie etwa „Chocolat“, „Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr Liebhaber“ oder „Das große Fressen“ zeigen außerdem recht eindeutig, dass, wo gegessen wird, auch Liebe gemacht wird. Gastroerotik also, ein Topos, in dem angenommen wird, dass aus gastrokulinarischen Praktiken erotisch aufgeladene Situationen entstehen können. Abschließend, so schreibt Kofahl, bestünde auch ein ganz ähnliches Gefühl der Reue, sollte das anvisierte Maß überschritten worden sein. Und hiermit überlassen wir Sie, lieber Leser, Ihren Erinnerungen.

Die Philosophie des Kochens im Whiskysenf

Es gab übrigens gebackenen, in Whiskysenf eingelegten Schafskäse, der mit gerösteten Schalotten in eine Miso-Suppe kam, danach eine Crème brûlée mit kandierten Nüssen. Japanische Vorspeise mit französischem Nachtisch, darauf kommt man im Supermarkt stehend ja keinesfalls!
 
 
Stevan Paul (Hg.) – “Die Philosophie des Kochens”
Mairisch Verlag
ISBN 978-3-938539-49-1
Preis 20,00 €

Credits

Foto: Carolin Rauen

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