Den Toten einen Drink!

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Der „Día de los muertos“, der Tag der Toten, steht auch bei eingen Bartendern als Anlass zum Shots-Kippen in Kalender. Dabei geht es um so viel mehr.  Der Festtag der Toten lässt tief in die mexikanische Seele blicken, ins fantasievolle, melancholische Herz, in den kulturellen Schmelzofen dieses wilden Landes.

Cuernavaca, 1. November 1938, Tag der Toten. Für den britischen Konsul Geoffery Firmin beginnt der schicksalhafteste Tag seines Lebens. Da ist die Nachricht von der Rückkehr seiner Frau, die ihn noch immer liebt – doch der vom Alkohol besessene Konsul flüchtet sich in den Rausch und streift durch die Cantinas der Stadt, jedes Mal dem Vollrausch ein Stück näher. Am Ende des Tages liegt er tot in einem Straßengraben, erschossen von Milizen, einem sinnlosen Tod erlegen. All das geschieht unter den Augen der schneebedeckten Gipfel des mexikanischen Schicksalsbergs Popocatépetl. Malcolm Lowrys Roman „Unter dem Vulkan”, angesiedelt in der zentralmexikanischen Stadt Cuernavaca, ist das verstörende Zeugnis eines Zusammenbruchs, eine tragische, aber kunstvoll gewobene Geschichte, eine Höllenreise mit kurzen Ausflügen ins Paradies des flüchtigen Rauschs. Seine bedrückende Intensität verdankt der Roman auch der zugrundeliegenden Symbolik – seine Mezcals kippt Firmin inmitten einer allgegenwärtigen Dekoration aus Skeletten und Totenköpfen: Autor Malcolm Lowry hatte die Handlung von „Unter dem Vulkan“ an einem Tag angesiedelt, an dem Mexiko die Verstorbenen einlädt, ins Reich der Lebenden zurückzukehren.

Der Tag der Toten ist nicht makaber, er ist mexikanisch

Der Día de los muertos – der Tag der Toten – muss Außenstehenden makaber erscheinen: Feiern mit den Toten? Ein Festschmaus auf dem Friedhof? Und Kinder, die Gedichte über ihr eigenes Ableben reimen? Was sich jedes Jahr am 1. und 2. November in Mexikos Wohnzimmern und Friedhöfen abspielt, ist das Relikt eines jahrtausendealten Brauchs, der den Tod nicht in ein fernes Jenseits verbannt, sondern ihn ins Hier und Jetzt integriert, als Teil des Lebens. Während die Kulturen der Alten Welt dem Lebensende mit Ablehnung und Angst gegenübertraten, hatten die indigenen Völker Mittelamerikas ein entspannteres Verhältnis zum Tod. Sterben war für sie Teil des Zyklus der Natur, ein allgegenwärtiger Vorgang, in dem sich die Dualität allen Seins widerspiegelte.

Bis heute gehört der eigenwillige Umgang der Mexikaner mit dem Tod zu den wichtigsten Aspekten ihrer Identität. Mit ihrer Melange aus prähispanischen und katholischen Traditionen sind die Bräuche um den Día de los muertos auch ein Symbol der Mestizenherkunft des Landes. Schon vor 3.000 Jahren holten die Azteken die Schädel ihrer Verstorbenen für Rituale hervor, in denen sie Tod und Wiedergeburt zelebrierten. Der prähispanische Totenkult nahm im Kalender der Indios einen ganzen Monat ein; über die Festlichkeiten waltete Göttin Mictecacíhuatl, besser bekannt als „die Dame des Todes“. Mictecacíhuatl starb bei ihrer Geburt – seitdem wachte sie über die Gebeine der Toten und galt zugleich als „Herrin der durchschnittenen Nabelschnur“. Da war sie wieder, die Dualität, die den Übergang in den Tod nur als weiteren Schritt in einer kontinuierlichen Metamorphose begriff.

Die vielen Ruhestätten der Toten

Das katholische Konzept, das die Toten je nach Frömmigkeit mit dem Paradies belohnte oder mit Hölle und Fegefeuer strafte, war den Azteken jedenfalls fremd. Für sie lag das jenseitige Schicksal allein in den Umständen ihres Todes bestimmt. Und je nach Todesart hielt ihr Glaubenssystem ein ganzes Repertoire an Jenseitswelten bereit. Da war Tlalocan, das Paradies des Regengottes, in dem die Ertrunkenen und vom Blitz Erschlagenen ruhten. In Omeyocán, dem Sonnenparadies, weilten gefallene Krieger und Mütter, die bei der Geburt verstarben. Wer hierher kam, durfte bei Gesang und Tanz vier Jahre das Jenseits feiern, bevor er als buntgefiederter Vogel zurück zur Erde flatterte. Den auf natürliche Weise verstorbenen galt das düstere Schattenreich Mictlán, und die verstorbenen Kinder weilten in Chichihuacuauhcom, wo Milch von den Blättern riesiger Bäume tropfte.

Wo auch immer die Reise hinging – der Weg dorthin war beschwerlich. Vier Jahre sollte die Tour ins Jenseits dauern; als Weggefährten legte man dem Vestorbenen auch schon mal einen toten Hund zur Seite. Mit der Ankunft der Spanier im 16. Jahrhundert vermischten sich die vorzeitlichen Indiotraditionen mit dem katholischen Brauchtum der Konquistadoren. Jene erwiesen ihren Toten ebenfalls die Ehre: an den Feiertagen Allerheiligen am 1.November und Allerseelen einen Tag später. Am Ende stand mit dem „Tag der Toten“ ein Fest, das weder aztekischen noch christlichen Gottheiten huldigte, sondern vielmehr den Verstorbenen selbst in den Mittelpunkt rückte. Wie durch ein Zeitportal sollte sein Geist für wenige Tage auf die Erde zurückkehren, Treffpunkt war der Friedhof. Und der Zweck: gemeinsam eine gute Zeit verbringen.

Blumen und Mezcal

Wenn sich am Tag der Toten ein Kanal in die Vergangenheit öffnet, finden die Verstorbenen ihre Gräber herausgeputzt vor, mit Kerzen und Blumen geschmückt, verziert mit Allem, was ihnen einmal lieb war: Da sind ihre Leibspeisen, Familienfotos, Schokolade, Weihrauch und Salz, Totenköpfe aus Zucker und das obligatorische Pan de muertos, jenes Totenbrot, das die Azteken einst aus gemahlenem Amaranth und dem Blut der Menschenopfer buken. In seiner heutigen Form stellt das süße, feine, nach Orange duftende Brot nur noch symbolisch Schädel und Knochen dar. Gegen den Durst stehen Kakao, Kaffee und ein heißes Maisgetränk namens Atole bereit, und auch der Alkohol darf nicht fehlen: Auf den Gräbern warten geöffnete Bierdosen und Gläser mit Tequila, Mezcal oder Pulque auf den seligen Heimkehrer. Nicht selten heuert die Verwandtschaft ein Mariachiorchester an, das die Lieblingslieder des Toten in den Himmel schmettert. Und da ist eine allgegenwärtige Blume, die den Gottesacker in leuchtendes Orange taucht: Cempasúchil, die Blume der Toten, die auf deutsch den nüchternen Namen „Aufrechte Studentenblume“ trägt. Schon die Azteken dekorierten damit ihre Gräber, in dem Glauben, die strahlenden Blüten würden das Sonnenlicht speichern und den Seelen den Weg zurück ins Diesseits weisen.

Wenn Kinder ihren Tod besingen

In etlichen Teilen Mexikos säumen Cempasúchilblüten den Weg vom Friedhof zum Haus der Familie. Denn auch zuhause dreht sich in den ersten Novembertagen alles um die Toten; auf Altären mit bis zu sieben Stockwerken werden ihnen Speisen und Opfer dargebracht. Ähnlich den Azteken, die ihre Toten den Todesumständen gemäß in allerlei verschiendenartige Paradiese verschickten, sind auch die neuzeitlichen Feierlichkeiten um den Día de los muertos nach Todesart gestaffelt: Bereits am 28. Oktober kommen die Seelen derer auf die Erde, die bei einem Unfall oder auf ähnlich tragische Weise ums Leben kamen. Am 29. machen sich die Ertrunkenen auf den Weg und am 30. die ungetauften Kinder. Der 31. Oktober gehört den Vergessenen, die keine Angehörigen hatten und der 1. November den Kindern. Am 2. November endet das Spektakel mit den Festivitäten für jene Erwachsenen, die eines natürlichen Todes gestorben sind.

Die Verniedlichung des Todes geht dabei so weit, dass Schulkinder im ganzen Land ihre eigene Grabinschrift verfassen. In den Calaveras genannten Epitaphen machen sich die Kinder über ihre charakteristischen Eigenschaften lustig – und stets enden die Reime mit der Versicherung, dass auch sie eines Tages der Tod holen werde. Über den Straßen der mexikanschen Dörfer flattern an diesen Tagen Wäscheleinen mit bunten Papierservietten, aus denen mit feinen Scherenschnitten das Konterfei eines lachenden Skeletts gestanzt ist: Die Catrina. In der heutigen Tradition steht sie wie kein anderes Symbol für die Bilderwelt des Día de los muertos.

Es war das Jahr 1910, die Blütezeit des Porfiriats, einer autoritären, aber wirtschaftlich ertragreichen Periode, als der mexikanische Zeichner José Guadalupe Posada die Karrikatur eines Skeletts im Festkleid anfertigte. „Der Tod ist demokratisch“, setzte er darunter. „Egal ob weiß, braun, arm oder reich, am Ende bleibt von allen nur ein Skelett.“ Später nahm sich der große mexikanische Muralist Diego Rivera des Motivs an. Der Ehemann von Malerin Frida Kahlo fertigte 1947 das Gemälde „Traum von einem Sonntagnachmittag in der Alameda Central“ an, in dessen Zentrum ein elegant gekleidetes Skelett inmitten einer aristokratischen Festgesellschaft steht. „Catrina“ nannte er seine Knochenfrau. Catrín, das war ein Mann von Stand, und die knöcherne Catrina fortan das schlechte Gewissen einer scheinheiligen Gesellschaft. Nur zu gut passte sie in die Bilder- und Symbolwelt, die sich um den urmexikanischen Feiertag des Día de los muertos zu entspinnen begann.

Stirbt der Día de los muertos?

Wenn heute zahllose Mexikaner am Tag der Toten ihr Gesicht zu einem lachenden Totenkopf schminken, dann ist das auch eine Homenage an die Werke Riveras und Posadas. Das Motiv findet sich auch auf überlebensgroßen Figuren aus Pappmaché – Kinogänger werden sich an die spektakuläre Eingangsszene des James Bond-Streifens „Spectre“ erinnern, in der sich der Agent mit einer Totenkopfmaske im Gesicht seinen Weg durch die Prozession am Día de los Muertos bahnt, vorbei an Festwägen aus haushohen Totenschädeln.

Die Tradition des Tag der Toten, die im 20. Jahrhundert zu ihrer Blüte fand, ist heute selbst vom Aussterben bedroht. Über den Río Bravo schwappt mit Halloween ein neuer Brauch ins Land, der Jahr für Jahr in mehr Haushalten Fuß fasst – bunter, kitschiger, konsumorientierter. Auch deshalb hat die UNESCO den Día de los muertos in ihr Programm „Meisterwerke des mündlichen und immateriellen Erbes der Menschheit” aufgenommen. Vielleicht war es die kultivierte Todessehnsucht um den Tag der Toten, die einst den selbstzerstörerischen Grenzgänger Malcolm Lowry zu seinem Opus Magnum inspirierte und sein Alter Ego, den trunksüchtigen Konsul, ins Verderben schickte. Noch kann man sie bewundern, die Tage zwischen Leben und Tod, und auf dem Friedhof mit den Ahnen anstoßen. So nah kommt man den Toten selten.

Anmerkung: Der vorliegende Text erschien erstmals in der Ausgabe 4/2017 von MIXOLOGY, dem Magazin für Barkultur.


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