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Island

Island: Die Nobelpreistrinker

Island ist bekannt für alles mögliche. Dafür, dass man der Erde beim Werden zusehen kann, Wale romantisch anglotzt, mit Autos Gletscher hochjagt, Götter in Wasserfällen, Elfen für übersinnliche Forschende, Menschen, die noch vor Kurzem in Höhlen lebten und Schafe züchten. Pferde, die komisch gehen und Weltmächte, die sich auf der amerikanisch-eurasischen Scholle die Hand zum Frieden reichen. Aber auch für vergorenen Hai, klares Gletscherwasser für Gin und diverse Superlative. Die Französische Revolution nahm hier ihren Ausgang, die Trinkkultur folgt eigenen Gesetzen.
 Island ist das Land mit der höchsten Dichte an Nobelpreisträgern, es hat genau einen und der war auch noch Schriftsteller – zählt also doppelt. Auf die Einwohnerzahl umgerechnet, die bei etwas 320.000 Menschen liegt, ist dieser gern zitierte Superlativ zutreffend, wie so manch anderes auch. Ob es Schachspieler sind oder MDMA-Junkies, Gletscherdimensionen oder Vulkane, Elfen und Trolle oder Alkoholkonsum pro Stunde, die Südländer des Nordens sind immer unter den Ersten und vielleicht haben sie indirekt die Französische Revolution ausgelöst und somit die Geschichte der Westmenschen neu gewendet.
Die mächtige Insel unter dem Polarkreis, deren Landmasse geografisch Eurasien und Amerika teilt, deren Hauptstadt Reykjavik die nördlichste der Welt ist, übt einen besonderen Zauber auf seine Bewohner wie auf die vielen Besucher aus. Alles ist jung. Island ist erst seit etwa 1100 Jahren besiedelt und die Einwohner sind im europäischen Vergleich mit durchschnittlich 35 Jahren Prototypen der juvenilen Kultpyramide. Dennoch wirkt vieles so, als sei es seit Äonen in Fleisch und Blut. Davon künden die berühmten Sagas voller Rache, Mord und Totschlag. Archaische Bräuche treffen auf eine mystische Landschaft. Ein steter Abgrund aus Kultur und Natur. Diese kalte, schroffe und doch verletzliche Natur aus Kratern und Kalderen, Moos, Eis und Wasserfällen, hat eine Seele, die jenseits des Esoterischen liegt, sondern greifbar von Menschen in sie hineingearbeitet wurde. Daher rührt auch die enge Verbundenheit der Isländer mit ihrer Heimat, die nur verstehen kann, wer bei solchen Begriffen angstfrei aus der Komfortzone hinausdenkt oder einfach einmal hinfährt und schaut, isst, trinkt.

Rasend in die Moderne

Rund 1,7 Millionen Menschen haben das 2016 getan. Eine unfassbare Zahl, deren Wachstum ungebremst eruptiv bleibt, obwohl eine drastisch erhöhte Tourismussteuer und aberwitzige Preise – besonders für Alkohol – diesem Schaudrang Fesseln anzulegen versuchen. „Die Krone ist um 20 Prozent gestiegen, die Übernachtungssteuer von 11 auf 23 Prozent erhöht worden. Dann bleiben die Besucher eben nur 3,5 statt 4,5 Tage in Durchschnitt“, beschreibt die Tourismusmanagerin Emma Magnusson das Phänomen. Schon geistert die Zahl 3 Millionen über die Insel, das Zehnfache der Einwohnerzahl. Amerikaner, Asiaten und Europäer fallen über Gletscher, Wale und Menschen her, fühlen unter Polarlichtern der Sonne nach, machen taghelle Nächte noch tagiger und spülen vergammelten Hai (Hákarl) mit einem Schnaps in ihr Innerstes, der so heißt wie er schmeckt: Brennivín. Vor fünf Jahren haben drei Airlines Island ganzjährig angeflogen, inzwischen sind es elf, und dort, wo sich Isländer treffen, in den heißen Quellen, wird der Verkehr geregelt. Ein Besuch in der berühmten Blauen Lagune muss online gebucht werden. Um so erstaunlicher ist, dass diese Einflüsse zwar die üblichen Probleme des Massentourismus mit sich bringen, aber die Lebensgewohnheiten, gastronomischen Angebote und trinkkulturellen Usancen Zeit und Raum wieder sehr dehnbar erscheinen lassen.
Der Exzentriker und Nobelpreisträger Halldór Laxness hat die Entwicklung Islands fast ein Jahrhundert lang begleitet und beschrieben, wie sich das Land innerhalb weniger Jahrzehnte in die Moderne katapultiert hat. Es ist atemberaubend. Anfang des 20. Jahrhunderts ist Island eines der rückständigsten Länder Europas: Reiykjavik hat etwa 6.000 Einwohner, Lehmhütten, keine Kutschen, keine Straßen, zwei Polizisten und zwei  Huren. Nachzulesen beim Biografen von Laxness, Halldór Gudmundsson, der auch eine der ersten öffentlichen Trinkstätten erwähnt. Einen Salon für Künstler und andere Alkoholiker, der während des Ersten Weltkrieges entsteht.
Heute nageln und cruisen die aufgepimpten PS-Feiermobile mit Wikingerbässen am Wochenende zwischen der Hauptstraße Laugavegur – mit geothermisch beheizten Bürgersteigen – und Hafen hin und her. Bars, Kneipen, Clubs. Reykjavik, dessen Name übersetzt „Stadt an der Rauchbucht“ bedeutet, wird zur Rauschbucht. Ab 1 Uhr beginnt am Wochenende die Bonanza. Sperrstunde ist schon wieder um 4.30 Uhr, man hofft so die Exzessfolgen im öffentlichen Raum zu bändigen. Aber spätestens seit der Fußball-Europameisterschaft 2016 weiß die Welt, dass sich Isländer schwer bändigen lassen. Jedenfalls die Engländer haben ihre Lektion gelernt. Sie haben nicht nur gegen den Riesenzwerg das Spiel verloren und mussten nach Hause fahren, sie können auch beim Trinken nicht mithalten. Sie fallen schneller um. Wieder ein Superlativ.

Preise sind Wirkungstreffer auf die Leber

Diese Wüterei beschreibt aber nur einen Teil der isländischen Trinksitten. Bier war lange verboten, Spirituosen nur in speziellen Geschäften zu erwerben. Doch das Jahr 1989 beschreibt auch auf der Insel einen Wendepunkt. Gerstensaft ist wieder erlaubt und das Brauereiwesen erfährt auch dank deutscher und dänischer Brauer einen wahren Braukunstboom bei einheimischen Bieren jenseits der allgegenwärtigen Major-Brands Viking, Gull und Tuborg. In Reykjavik betreibt sogar Mikkeller eine Tasting-Bar. Die „Skúli Craft Bar“ bildet auch die lokale Bierwelt ab, um an die Craft Beer-Szene heranzuführen. Vor allem Einstök hat sich international schon einen Namen gemacht. Das Geheimnis liegt naturgemäß in der Qualität des Gletscherwassers, das auch Liebhabern des britischen „Martin Miller’s Gin“ bekannt ist, der seinen Brand in den hohen Norden schippert und mit diesem Wasser auf Trinkstärke bringt.
Vereinzelt sieht man schon mittags Menschen bei einem Glas Bier in den Cafés und Restaurants. Noch immer gerät man dadurch schnell in Alkoholismusverdacht. Zu privaten Feiern dominieren Limonaden und Café zum Kuchen. Erst am Abend wird zu Bier oder Wein gegriffen. Unter der Woche ist in den Bars und Kneipen um 1 Uhr Feierabend. In den Supermärkten kann man nur Leichtbier mit maximal 2,5% Vol. kaufen, härteren Stoff und Weine bieten – wie in anderen skandinavischen Ländern auch – die staatlich kontrollierten Vinbuden an, die meist nur wenige Stunden am Tag geöffnet haben. Die Auswahl ist dennoch im Vergleich zum Festlandeuropa eher frugal und schon die Preise sind ein erster Wirkungstreffer auf die Leber.
Da es üblich ist, am Wochenende vor dem Ausgehen „vorzuglühen“, bringt man daher sein Bier oder seine Spirituosen selbst mit, auf dem Land werden Bottle-Partys organisiert, um dem Rausch zu seinem Recht zu verhelfen.

Show und Fischhappen-Aromen im Glas

Prohibition, Sortenarmut und Preisverschärfung lösen oft einen kreativen Schub aus. Lokale Produkte erfahren eine gesteigerte Aufmerksamkeit, werden neu interpretiert und veredelt. Wenn dann noch durch eine globalisierte Welt und den Einfluss internationaler Gäste Impulse ins Land kommen, ist schnell die Matrix für eine aufregende Barkultur verfügbar. Theoretisch. Die lange in Berlin tätige Bartenderin Annika Leverenz lebt nun in Reykjavik und hat sich beim Aufbau der Pablo Discobar im Restaurant „Burro“  engagiert. Sie beurteilt die Lage deutlich kritischer: „Der Wissensstand vieler Bartender hier ist noch rudimentär. Einige beziehen ihre Kenntnisse  aus Aufenthalten in Kopenhagen, die wenigsten sind mit kontinentalen Standards vertraut, mit regionalen Produkten wird wenig gearbeitet, der Fokus liegt mehr auf der Präsentation“. Da werden dann Pac-Man-Gesichter in Gurken geschnitzt, mit Brennern am Tisch hantiert oder das Servicepersonal stimmt ein Lied an, bevor der Drink, behangen mit viel Lametta, auf den Tisch kommt – „Fancy“ ist die Zauberformel. Show ist Trumpf. Tom Cruise in dem Film „Cocktail“ kann als Referenz für Form und Inhalt des Standards dienen. Allerdings soll diese nüchterne Lagebeurteilung nicht abwertend gemeint sein. Insellagen haben es immer etwas schwerer und es gibt auch objektive Hemmnisse. „Das fängt schon bei der Logistik an. Die meisten Häuser sind sehr klein, also gibt es auch wenig Platz, zum Beispiel für die Kühlung von Gläsern. Und auch, wenn es zu begrüßen ist, dass sich der Multi Diageo hier engagiert, so hat er natürlich das legitime Interesse, seine Brands im Backboard unterzubringen, was die vermeintliche Vielfalt gleich wieder reduziert. Aber vielleicht ist das ein Anfang und die Misere der brutal überteuerten Importspirituosen hat bald ein Ende“, hofft Leverenz.
Der Inhaber Ásgeir Már Björnsson des Familienunternehmens „Burro“ ist auch der Initiator des „Reykjavik Bar Summit“. Diese jährliche Zusammenkunft von Bars aus England, Dänemark, Niederlande und den USA informiert über das Bargeschehen, veranstaltet Workshops und bringt das Handwerk in Wettbewerben auf die Bühne. Auch hier verweist Leverenz auf den ambivalenten Effekt, „da Competitions nun einmal vor allem den Show-Charakter und Eigenkreationen bei der Zubereitung von Drinks betonen“. Sie wünscht sich eine stärkere Besinnung auf das Beherrschen klassischer Drinks, bevor sie einen Twist erfahren.
Björnsson hat es sich auch zur Aufgabe gemacht, Exoten wie Pisco und Mezcal am Polarkreis vorzustellen – auch wenn man damit schnell an die Grenzen des Zumutbaren stößt. Dabei ist Tequila auf Island in aller Munde. Ob als purer Shot, Tequila Sunrise-Shot oder in Verbindung mit dem von jungen Isländern so geliebten Dill-Aquavit: „Das ist bei uns der Renner. Eine Mischung aus Dill-Aquavit, weißem Tequila, Zitrone, Zucker, gefloatet mit selbst gemachtem Dillöl.“ Von Aromen, die man eher in Fischhappen vermutet, ist der Gaumensprung zu Lakritz und Anis nicht fern. Damit wächst man auf Island auf, ein Kindergeschmack, der sich bis ins Erwachsenenalter transportiert. „Absinth ist ein großes Thema hier, auch Vodka mit Lakritzsirup oder Rhum Agricole. Wirkung spielt dabei allerdings eine große Rolle. Lokalpatrioten veredeln sich die Sinne mit isländischen Vodka-Shots von Opal und Topas.
Da Geschwindigkeit auch in Reykjaviks Nachtleben ein A-Faktor ist, besteht neben illegalen Pulvern und Mixturen auch eine starke Nachfrage nach der Axt an der Trinkkultur und Turbobetankung für Schmerzsedierte: Vodka-Energy. Sonnigere Gemüter verarmen sich mit Mojito, Long Island Iced Teas, Margaritas in allen Spielarten oder Corps Reviver No..

Gym & Tonic

Annäherung an zeitgemäße Barkultur ist beinahe nur in Hotelbars zu finden. „Die können es sich leisten zu experimentieren, da sie den nötigen finanziellen Background haben“, so Leverenz. Unabhängige Bars sind ohnehin schwer zu finden, die meisten sind ein Appendix von Restaurants und Clubs. Touristen sind in ihrem Bestellverhalten volatil und orientieren sich gerne an den Beständen des Rückbuffets oder lassen sich von den Bartendern beraten. Eine Empfehlung kommt keinem über die Lippen – Piña Colada. Er ist das Hassobjekt und seine Zubereitung gilt als uncool, „obwohl ich gestern sogar eine Rum-Kokos-Infusion in einer Bar bekommen habe“, ergänzt Leverenz. Festlandbartender staunen hingegen über die vornehme Wertschätzung, die Vodka genießt. Allerdings muss es schon mindestens ein Ketel One oder Grey Goose sein. Diese flüssige Neutralnoblesse wird besonders gerne mit Soda kuratiert und tatsächlich für das Vademecum durch die Nacht gehalten.
Aber selbst wenn Islands berühmtester Wasserfall Godafoss, also „Götterfall“, heißt – hier hat man nach alter Sage das Heidnische versenkt und das Christentum angenommen – ein Gott fällt nie: Gin & Tonic. Hier hat man sie endlich, die Auswahl zwischen verschiedenen Gins, vermählt mit Fentimans, Fever Tree oder Thomas Henry, als sei man ein ganz normales Land oder müsse Elfen und Trolle wohlgesinnt stimmen. Der messianische Wacholderkult hat in Islands Bars jedweder Güte zum Teil bizarre Züge angenommen. Ein multifunktionaler Tagungs- und Veranstaltungsraum im schicken aber lässigen „Kex“ Hotel neben der Bar trägt den Namen „Gym & Tonic“.

Café & Eis    

Ganz allmählich kündigt sich in Islands Trinkwelt eine Hinwendung zu einem Klassiker an, der in den kontinentalen Bars seinen Siegeszug schon angetreten hat. Bourbon wird immer häufiger von Einheimischen geordert. Ein anderes barkulturelles Versprechen hingegen ist auf Island längst eingelöst. „Wenn es eine Nation gibt, die auf Kaffee steht, dann sind es die Isländer! Espresso Martinis, Irish Coffee und White Russian müssen in keine Getränkekarte, denn alle kennen und lieben sie“, erklärt Annika Leverenz. Das weckt die Frage nach Techniken und Verfahren an der Bar. „Was sie alle gut beherrschen, ist das Herstellen von Sirups und Likören. Säfte kommen kaum zum Einsatz, meist wird nur mit Zitrone und Limette gearbeitet.“ Beim Shaken verfährt man traditionell, das Rühren ist eher ein „build in glas“, „werfen“ hingegen ist die coolste Bartenderexpression. Grundlage hierbei ist auf „Iceland“ natürlich gutes Eis. Hoshizaki Eismaschine, Clevers und Eisblöcke sind fast schon Standard.

Island: Brennender Chartreuse mit Brennivín

Durch den verheerenden Ausbruch des Laki-Kraters im Jahre 1783 kam es zu einem tödlichen Schwefelschleier über Europa mit vielen Toten und jahrelangen Missernten. Die sich damit verschärfenden sozialen Unruhen werden heut von Historikern als Katalysator für den Beginn der Französischen Revolution gesehen. Welthistorisch wohl Islands bedeutendster Beitrag – sieht man einmal von den armen Briten ab: Gleich drei „Kabeljaukriege“ haben sie gegen das NATO-Gründungsmitglied ohne eigene Armee am Verhandlungstisch verloren. Der Fisch bleibt bei den Isländern. Die Revolutionierung der Bar- und Trinkkultur kann man hingegen getrost den Kontinentaleuropäern und den Freaks in London überlassen. Zumindest, wenn sich doch noch eine so nobelpreisverdächtige, lokal interpretierte Preziose findet. Auf einer Insel, die fast keinen Wald kennt, aber alles Spirituelle liebt.
 
Dieser Artikel erschien ursprünglich in der MIXOLOGY 4/2017.

Credits

Foto: Foto via Pixabay.

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