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Lost in Grub Street, Punches und Craftbrand

Oliver Ebert und seine Frau Cristina haben mit der Bar Becketts Kopf im Berliner Prenzlauer Berg Maßstäbe der Barkultur gesetzt. Und Pionierarbeit geleistet zu einer Zeit, als in dieser Gegend Goafestival-Hippies mit Krawall- und TexMex-Touristen um die Vorherrschaft im Kiez rangen. Nun haben sie eine weitere Bar eröffnet – mit eigenwilligem, avantgardistischem Konzept und mysteriösem Namen.

Zum Teufel mit allen Regeln der Bar und ihrem ewigen Wahn der zeitgescheuchten Individualitätssünde. „Der Geist ist eine Welt für sich, in der die Hölle zum Himmel und der Himmel zur Hölle werden kann.“ In diesem Zitat des revolutionären Dichters John Milton sind schon einige Ingredienzien für eine Bar genannt. Für einen Kreativraum, der polarisiert. Und wenn es an einem Abend ganz dumm läuft, folgt noch die Vertreibung aus dem Paradies – eben wie bei Miltons Langgedicht „Paradise Lost“ über Gott, den Teufel und die Ursünde von Adam und Eva.

Wem das nun zu weit hergeholt oder zu kompliziert ist, der darf sich am Ende des Artikels über die Lösung des Rätsels, warum die Bar Lost in Grub Street heißt, freuen. Außerdem: diese Bar ist auf die schönste Art kompliziert, auch wenn alles ganz einfach ist. Wer aber den Theatermenschen Oliver Ebert kennt, der eine Bar Becketts Kopf nennt, wird nicht sonderlich verwundert sein.

Punchlines und Punchtime

In der Redaktion waren wir gerade in eine Diskussion über sogenannte „Punchlines“ in Reportagen verstrickt, also die Fähigkeiten ihnen eine starke Richtung zu geben und Aufmerksamkeit zu erzeugen. Da standen unvermittelt zwei dunkel wie der Leibhaftige gekleidete Gestalten vor dem Schreibtisch und erzählten etwas von „Punchtime“.

Fünf Finger zur Faust geballt und damit im Boxring kräftig zugeschlagen, nennt man einen Punch. Der englische Begriff hat der Legende nach seinen Ursprung im hindustanischen Wort „Panch“ und bedeutet fünf – wie die fünf Ursprungszutaten der Punchbowls, jenes Cocktailvorfahrens aus Indien, das die britischen Seefahrer im 17.Jahrhundert von dort einführten. Genau diese Tradition wiederzubeleben, hat sich diese neue Trinkanstalt in Berlin-Mitte um den MIXOLOGEN DES JAHRES 2013 Oliver Ebert und seine Partner auf die Fahnen geschrieben.

Punch trinken ist assoziiert mit Geselligkeit und Zeit. Erst mit Beginn der Individualisierung hielt auch die Logik des Cocktails Einzug in die Bars. Seither haben viele Spirituosensegmente ihr auf und ab erlebt und legendäre Drinks hervorgebracht. Aber über Gin, Whisky, Rum, Tequila oder Vodka soll hier nicht gesprochen werden. Wohl aber über handwerkliche Edelbrände. Kennen Sie? Nein, kennen Sie nicht – jedenfalls nicht als Basisspirituose für Cocktails, als Stars in einer Bar.

Feuer und Licht im Kaltblau

Berlin-Mitte, Jägerstraße. Eine Gegend, die so hübsche Fassaden verpasst bekommen hat, dass sie nur Fassade sind. Auswärtiges Amt, Ärzte, Kanzleien, Finanzdienstleister. Ab und zu einmal ein Restaurant, ein Hotel oder Café. Nach Büroschluss sind nur noch wenige Menschen außerhalb dieser wohlanständigen Marmor-, Stuck, Stahl- und Glaskörper – oft in mattem Weiß oder elfenbeinfarben in die Stadtmitte gemalt – auf den Straßen zu sehen.

Plötzlich ein dunkles Etwas, ein schemenhaftes Logo. Lost in Grub Street. Nebenan hat der ehemalige Berliner Clubpapst Cookies seine Vegetarier-Bonanza Chipps erfolgreich der Ödnis entgegengesetzt, der Langeweile in die Fresse geschmiert. Jetzt also ein neues Versprechen.

Die Tür geht auf und man sucht – nämlich eine Bar in dem ins nachtblaue getauchten L-förmigen Raum. Murmelnde Musik, ein kleines Separee, auf dem eine Flamme lodert. Bei genauem Hinsehen handelt es sich um eine horizontal aufgeschnittene Bierdose, eine Minigrilltonne, auf der eine aufgespießte Chorizo-Wurst geduldig vor sich hin brät –, vom Gast nach eigenem Gusto zu vollenden. Begleitet von weiteren Spezereien thront inmitten eine Punchbowl aus poliertem Edelstahl. Die Flüssigkeit wird von einer überdimensionierten Eiskugel auf Temperatur gebracht.

Gleich mehrere Personen füllen ihre Gläser. „Ich habe den Individualitätszwang nie verstanden. Wenn drei Gäste Cocktails bestellen, achten sie meist darauf, dass jeder etwas anderes wählt, obwohl oft alle das Selbe wollten. Warum sich nicht auf einen gemeinsamen Geschmack einlassen, sich Zeit nehmen und einen Punch bestellen, in London ist das gerade das kommende Ding?, fragt sich Oliver Ebert.

Und so dürfte – neben dem historischen Interesse für den Urvater des Cocktails – die Idee zu einer Spirituosenwerkstatt entstanden sein, die sich vorwiegend dem Punch als gemeinschaftliches Erlebnis widmet. Dem folgt auch das Interieur. Schlicht und formalistisch tritt der Raum dezent in den Hintergrund. Auch die langen Sitzbänke und Sitzecken sind Ton in Ton, keine glitzernden Designelemente gieren nach Aufmerksamkeit. Die Decke ist kaum wahrnehmbar kupferfarben, der Boden aus braunem Holz und die puristischen Lampen verströmen warmes Licht in das kaltblaue Nichts, in dem auch nichts von der gustatorischen Entschleunigung ablenken soll.

Infrarot vor dem Cocktailgebot

Jedenfalls fast nichts. Von einem Fluter in Szene gesetzt, funkelt ein umgebauter Servierwagen in diesem Bühnenbild, das – wie könnte es anders sein – an die radikal minimalistischen Inszenierungen eines Samuel Beckett erinnert. Hier montiert zu einer Zuchtanstalt des Trinkens. Nachträglich angebrachte Speedracks, ein paar Flaschen auf dem Bodenblech und in der Mitte eine Eiswanne, gefüllt mit einer Mischung aus Crushed- und Trockeneis. Kein fließend Wasser, das war´s. Hier werden die Bowls und Rührgläser mittels einer Infrarotmessung temperiert, speziell abgestimmt auf die verwendeten Aromatiken der Drinks. Ja, die gibt es auch.

Womit das zweite dominierende Element ins Spiel kommt. Sorgfältig gewählte Edelbrände aus dem GSA-Raum, werden in Cocktails dazu eingesetzt andere Spirituosen zu ersetzen oder völlig neue Geschmacksbilder zu entwerfen. Meist von Brennern, die Kurioses in Kleinstauflagen destillieren. Stellvertretend seien hier Stählemühle, Hiebl oder Siedler genannt. In der Karte haben die Drinks keine Namen, sondern lediglich die Aromaten und Inhaltsstoffe werden verraten. Hier wartet auf den Service eine wahrhaft herkulische Aufgabe, um dem Gast Halt und Orientierung zu geben.

So soll zum Beispiel die Komposition Vogelbeere, Bitterorange, Holz als Avatar für einen würzigen Whiskydrink fungieren. Aber keine Panik. Es gibt auch ein Bier, ein Pale Ale von Heidepneters, Champagner und Alkoholfreies (Eistee, Kvass und Filtercafé) für Normalsterbliche. Auf die Frage nach Gin & Tonic grinst Ebert schelmisch und frohlockt. „Klar haben wir Gin! – von Hiebl und Siedler, kennt doch jeder.“ Es brechen schwere Zeiten heran für Mainstream- und interessante für Neugierdetrinker.

Street-Look, und ein Tiefschlag

So ist es folgerichtig, dass Bartender und Service in schwarzen Laborkitteln herumlaufen. Weit gefehlt! T-Shirt, Jeans, Hoody und Sneaker nach persönlichem Geschmack sind an diesem Eröffnungsabend angesagt. Das soll die lockere Atmosphäre unterstreichen, die trotz aller formaler Abgrenzung spürbar ist. Allerdings ist das ein Anachronismus der nicht ganz passen will, jedenfalls einige Jahre zu spät kommt und gewollt wirkt.

Kommunikativ ist das Lost in Grub Street ohnehin, da es viel zu entdecken, erraten, erklären und erschmecken gibt. Das Ganze klingt kompliziert, wird aber einfach und charmant gelöst. Es soll aber nicht unerwähnt bleiben, dass ein derartiges Konzept nicht nur an den Freigeist des Gastes appelliert, sondern auch seine finanziellen Möglichkeiten auf den Prüfstand stellt. Der Jägerstraße und weniger der Grub Street angemessen. Ein echter Punch, ein Tiefschlag in die Börse in der Boxersprache eben.

“Lügenpresse” und Trinkerparadiese

Hier kommen wir nun zur Entschlüsselung des Namens dieser herausfordernden Kopfgeburt oder elitären Schöpfung – je nach Standpunkt. Die Grub Street, etwas außerhalb der historischen Stadtmauern Londons gelegen, war seit dem späten Mittelalter bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts der Tummelplatz einer Spezies, die ebenso wenig Reputation genoss wie heute: den Lohnschreibern, der “Lügenpresse”, der arbeitsscheuen Schreiberlinge.

Sie lungerten auf der Straße herum und verfassten kurze Pamphlete, Flugblätter und kleine Journale. Wenn sie das nicht taten, tranken sie im unmittelbar angrenzenden Brauereiviertel oder in einer der vielen Punchtavernen. 1830 wurde die Punch Street umbenannt in Milton Street. Nach John Milton, und dessen berühmtestes Werk heißt: „Paradise Lost“ und handelt wie eingangs erwähnt von gefallenen Engeln, ihrem Kampf mit Gott und der Hölle. Soweit muss man in dieser Bar nicht gehen. Richtig verstanden und mit der Lust auf Entdeckungen und dem Willen die Zeit zu verlieren, kann man hier auch sein: Lost in Paradise.

 

 

Nachtrag durch die Redaktion am 22. September 2016: Seit Mai 2016 ist das Lost in Grub Street geschlossen.

Credits

Foto: "Der Sündenfall und die Vertreibung aus dem Paradies": William Blake

Comments (9)

  • Oliver Ebert

    Wir danken für die freundlichen Wortkaskaden. Nur damit der geneigte Interessierte nicht aus Angst vor einem Besuch seinen Bankberater konsultiert, sei zu geschlagenen Börsen angemerkt:

    Die meisten unsere Punches kosten um die 16 € pro Person und enthalten ca. 3 Gläser für jeden Trinkenden. Macht 5,33 € pro Glas. Dafür gibt es Cognac von Ferrand, Bio-Zitronen, Portwein von Bulas oder Pfirsichbrand von Hiebl.

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    • Redaktion

      Lieber Oliver,

      der Kaskadeur gibt mal zurück. Die Preise sind hoch, und zwar zu Recht! Nichts anderes habe ich geschrieben. 2 cl Edelbrand von dieser Qualität, Punches und Shortdrinks zwischen 10 und 18 Euro bekommt man eben nicht überall. Schon gar nicht so speziell präsentiert. Dennoch sollte man dies vor einem Besuch wissen, bevor der beturnschuhte Bartender einem das letzte Hoody auszieht. MO

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  • Goncalo

    Herrlich.
    Ihr Beiden schreibt so großartig.
    Wen intersierts die Preise?

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  • T-Fresh

    Wo Goncalo recht hat, da hat er recht, deshalb teile ich seine Meinung, um a) recht zu haben und b) das Wesentliche genannt zu haben.

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  • Alkohol ist Gift

    Gähn. Unausgegorene Ideen. Selbstfindung und der ständige Wunsch nach Anerkennung. Die Fähigkeit ein Feedback nicht stehen zu lassen und Schlaubischlümpfe, die dämeln.
    Ich danke für die Möglichkeit überflüssigen Trash zu lesen und zu kommentieren hier im GSA Raum.

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    • Redaktion

      Lieber [email protected],

      haben wir das Feedback lange genug stehen gelassen? Vielen Dank für Ihre Meinung. Da haben Sie es uns “Kreativen” ja mal richtig gegeben. Sehr drollig. Sie sind ja ein ganz putzig empörter Nonalc. Trinken Sie doch mal ein Gläschen, dann werden Sie vielleicht auch inhaltlich. Wir haben nämlich gesucht. Gesucht nach Ihren Anregungen, dem Substrat jenseits der Dämeleien, Ihrem Denken. Zumal, in einem Dreizeiler der so ‘gelahrt’ erscheinen mag, gleich zwei Fehler einzubauen, das ist Ihre Leistung, erscheint aber selbst uns unausgegoren. Überraschen Sie uns und unsere Leser. Wir alle brennen darauf.

      Ungegähnt und ungezähmt, grüßt Trashorschiedt aus dem GSA-Raum

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  • Ott

    Ging eben am “Lost” vorbei … Der Laden hat leider dicht gemacht. Jetzt zieht da eine Bar für “Champagner & Caviar” ein. Schade – fand das Konzept sehr originell und die Drinks waren erstklassig. Allerdings wohl eine schwierige Ecke, keine besonders gute Anbindung … und leider kam der Barkeeper auch manchmal etwas hochnäsig rüber. Die 4-5 Male, die ich seit Herbst 2015 dort war, gähnte eigentlich immer vor Leere. Trotzdem: ein Verlust!!

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    • Redaktion

      Hallo, Ott!

      Danke für den Hinweis, dass das Lost in Grub Street geschlossen hat.

      Mit lieben Grüßen, das MIXOLOGY-Team

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