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Geschichten von der (Apo(theke: Das Ora in Berlin

Das Ora am Berliner Oranienplatz spannt einen Bogen aus dem Jahre 1860 in die Moderne. Sowohl architektonisch wie auch im Glas. Barchef Ruben Neideck veranstaltet in der ehemaligen Apotheke, tagsüber ein Café, eine nächtliche Reise durch die Cocktailgeschichte. Lokalaugenschein an einem besonderen Ort.

Ein Trend hat Einzug gehalten in Berlin-Kreuzberg. Den Anfang machte 2014 die Apotheken Bar, die in die medizinalen Räumlichkeiten der ehemaligen Mariannen-Apotheke zog. Nun ist einige Straßen weiter aus der Oranien-Apotheke das Ora geworden. Es handelt sich bei der Namensgebung nicht um eine Aufforderung zu intensiverer Gebetstätigkeit, es wurden schlichtweg die ersten drei Buchstaben des ursprünglichen Schriftzuges erhalten. Am Eingang weist noch die alte Reklametafel einer Leverkusener Pharmamarke den Weg.

KUCHEN & STUCK

Vier Treppenstufen gilt es zu erklimmen, um den herrlichen Saal zu bestaunen, in dem die Patina der wunderhübschen alten Apotheke aus dem Jahre 1860 wundervoll zur Geltung kommt. Das dunkle Holz der Apothekerschränke, Stuckaturen der Gründerzeit und historische Details an den Wänden werden illuminiert von alten Leuchtern aus verschiedenen Epochen. Holz, Marmor und Spiegel tragen weiter zu  einer zauberhaften Atmosphäre bei.

Bereits morgens geöffnet, verwandelt sich der Raum im Laufe des Tages vom Frühstückssaal zum gemütlichen Tagescafé, bis dann gegen 19 Uhr die Bartender ihren Arbeitsbereich aufbauen. Der frühe Bar-Gast erlebt eine betriebsame Übergangsphase vom Tagesgeschäft zur Abendbewirtschaftung. Ein fröhliches, charmant-chaotisches Serviceteam ist noch im Kuchen-Modus und kann mit einer Negroni-Bestellung noch leidlich wenig anfangen. Ein intensiver Essensgeruch weht aus der Küche in die hohen Hallen und umwabert den langen Marmortresen, an dem zunächst kaum jemand Platz nimmt. Zu gemütlich sind die Sitzgruppen inmitten der Bilder und Pflanzen. Eher karg wirken da die Holzhocker vor dem Tresen, der zu niedrig für die Sitzhöhe ist. Zudem wird dort nicht gemixt. Man betrachtet eher das betriebsame Personal mit der Bon-Ablage, die Spülmaschine und den Kaffee-Abstell-Bereich. Gäste scheinen dort nicht wirklich vorgesehen zu sein.

ZITIERT, ETABLIERT, VERGESSEN

Die eigentliche Bar, also im Sinne des Arbeitsbereichs, befindet sich an einem Ende des Tresens, gegenüber des einen der beiden Eingänge. Es ist eher ein Pult mit Rührglas und Shaker. Der Mix-Bereich ist sehr klein, aber immens schlau organisiert. Spirituosen, Gläser und Arbeitsgeräte sind von bester Qualität, die Abläufe verdeutlichen rasch, dass man hier sein Handwerk versteht.

Um 19 Uhr rückt der Service dann auch endlich die eigentliche Bar-Karte heraus.

Im farbcodierten Klemmbrett-System macht die Auswahl vortrefflich Laune auf die angepriesenen Trinkvergnügen. Das erste der vier Blätter enthält die Saisonkarte, die just von Vorfrühling auf Frühling gewechselt hat und sorgfältig darauf bedacht ist, saisonale und regionale Produkte mit einzubinden. Das mag ein Rote Beete-Geist sein, Eisenkraut oder ein Spargel-infusionierter Korn. Die drei folgenden Blätter enthalten Drinks unter den Überschriften: Zitiert, Etabliertes, Vergessenes. Dahinter verbergen sich bewährte Klassiker, Kreationen von Bartender-Kollegen aus aller Welt und wiederentdeckte Rezepturen aus historischen Cocktailbüchern.

Die Drink-Auswahl fällt nicht leicht bei einem Angebot mit Brandy Crusta, Penicillin oder Remember the Maine. Reizvoll auch das Angebot, einen aufwendigen Ramos Gin Fizz serviert zu bekommen. Sehr köstlich und bestens abgeschmeckt mundete der El Puente Cocktail, den Jim Meehan einst im New Yorker PDT ersann. Die Kombination aus Tequila, Grapefruit, Wermut und Holunder dürfte sich gerne öfters auf den Barkarten wiederfinden. Die Preise der Cocktails liegen bei fairen neun Euro, dazu kommt ein Apotheker-Kolben mit Leitungswasser zum Gast.

ZWISCHEN LATTE UND LONGDRINK

Verantwortlich für das Barkonzept zeichnet Ruben Neideck, Berliner Bargängern bestens bekannt aus dem Stagger Lee oder der Bar Marqués. Seine Erfahrung bei Rezepturen und der Getränkeauswahl fließt prächtig in diesen besonderen, wunderschönen Raum ein.  Wer sich an den riesigen Holzregalen mit den medizinisch-lateinischen Schriftzügen sattgesehen hat, kann sich fortan an der Spirituosenauswahl durstig sehen. Eine feine Craft Beer-Auswahl reizt, einen der schönen American Whiskeys als Herrengedeck zu genießen. Das Barteam ist gut geschult und arbeitet konzentriert und akkurat, um dann einen Drink zu servieren, der optisch und aromatisch herrlich stimuliert. Die Gläser sind schön ausgesucht und anscheinend nutzt das Team zuweilen auch eine Kettensäge zur Eisbearbeitung.

Allmählich ist es dunkel geworden, die Küchendünste sind verflogen und das Publikum ist von Latte auf Longdrink übergegangen. Die Schwingungen sind nun eher etwas für wahre Barflys. Zuvor kam doch eher die Kreuzberger Kuchen-Kinderwagen-Klientel auf ihre Kosten. Leider ist das Ora keine echte Am-Tresen-Sitz-Bar. Vor dem Mini-Tresen stehen zwei gut gemeinte Kleinsthocker, hier auch in angemessener Höhe zu dem übrigen Mobiliar. Sie strahlen eine gewisse Melkschemel-Funktionalität aus, dennoch lassen sich glückliche Stammgäste dort nieder, um vertrauensvoll die Beratung der Bartender zu genießen.

Das Ora ist ein wunderhübscher Ort und ein wahre Bereicherung für diesen Teil von Kreuzberg. Die Drinks sind hervorragend gemixt und die Eigenkreationen sprühen vor Kreativität. Die Mischung aus Tagesgastronomie und Bar ist voller Geschichten und Momenten, die einer Nur-Bar vorenthalten bleiben. Kreuzberg dürfte den Satz nun häufiger hören: „Ich muss noch ganz rasch in die Apotheke!“

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