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HYPE OHNE HYPE: RUTTE GIN

Manche Marken machen die Pferde verrückt, um überall das große Thema zu sein. Rutte Gin aus Dordrecht tut im Prinzip fast gar nichts – und ist dennoch plötzlich ein Riesenthema.  MIXOLOGY-Chefredakteur Nils Wrage über den Besuch in einem beeindruckenden Traditionshaus.

Der „Hype“ ist schon ein eigenartiges Wort: Die einen verwenden es in positiver Absicht, andere wiederum negativ. Die einen meinen damit, dass etwas schlichtweg gerade das „Große Ding“ ist, ein zentrales Thema einer bestimmten Szene. Der Rest spricht eher vom Hype, wenn er der Ansicht ist, dass ein Thema medial zu Unrecht dominiert und aufgebauscht wird, ihm eine Relevanz zugesprochen wird, die es gar nicht hat. Unterscheiden sollte man vom Hype den Boom: dieser sagt schon eher aus, dass etwas vor sich geht, was sich mit Zahlen belegen lässt – eine rasante Steigerung, der reißende Absatz eines Produkts oder eines Drinks. Ansonsten sollte man mit beiden Begriffen ganz generell vor allem eins sein: sehr vorsichtig.

Wenn es – neutral gemeint – in den letzten Monaten hinter den deutschen Bars einen Hype (freilich neben einigen anderen) gegeben hat, dann hieß dieser definitiv Rutte Gin. Ein niederländisches Traditionshaus aus dem Jahre 1872 (dessen Vorläufer ebenfalls schon Genever gebrannt haben), das seit 2011 zum Likörgiganten DeKuyper gehört und seit Herbst 2015 mit der neuen Range aus drei Produkten in Deutschland und Österreich von Borco vertrieben wird. Und dann sind diese neuen Produkte ausgerechnet zwei Gins und ein Genever. Also eine Kategorie, bei der Bartenderaugen mittlerweile auch häufig zu rollen anstatt zu strahlen beginnen.

Einer unter vielen? Aber was für einer!

Anders bei den neuen Rutte-Produkten: Besonders in Bezug auf den Celery Gin und den Old Simon-Genever hieß es an jedem Tresen, in jedem Chat-Verlauf, bei jedem Telefonat: „Hast Du die eigentlich schon probiert?“ Besonders Jörg Meyer als prominenter Fürsprecher der Produkte dürfte stark zur Etablierung und raschen Anerkennung der Rutte-Produkte im deutschen Raum beigetragen haben. Heute ist der Rutte Dry Gin in Meyers Le Lion der offizielle Gin für den Gin Basil Smash, das täglich hundertfach ausgeschenkte flüssige Flaggschiff seiner international prämierten Bar. Zusätzlich flankiert eine Sellerie-Variante mit dem Celery Gin den grünen modernen Klassiker.

Mittlerweile kennt nicht nur jeder Bartender die Marke Rutte Gin, sie hat mit Ex-Raclette-Bar-Impresario Steffen Zimmermann sogar bereits ihren eigenen Markenbotschafter. Das ist dann – ganz gleich, ob man die Produkte probiert und für wirklich gut befunden hat – der Moment, in dem man sich fragt: Was steckt hinter dieser Marke, dass sie so einen Wirbel macht? Es ist der Moment, in dem man sich aufmacht zu Rutte & Zn nach Dordrecht.

Dordrecht sehen und … ?

Kommt man dort an, fällt es einem schwer zu glauben, dass die verschlafene Stadt an der Peripherie von Rotterdam, in deren Innenstadt auch unter der Woche die Geschäfte gegen 17 Uhr schließen, derzeit solch einen Wirbel in der deutschsprachigen Bartenderszene verursachen kann. Denn wenn überhaupt, sollte man erwarten, dass jener Wirbel wenigstens aus Schiedam kommt, das auf der anderen Seite von Rotterdam liegt und wo sich gegen Ende des 16. Jahrhunderts fast alle Destillateure niederließen, nachdem man sie per Dekret aus Rotterdam selbst hinausgeworfen hatte. Die Familie Rutte ging nach Dordrecht, das seinerzeit noch eine wesentlich größere Bedeutung als Handelshafen hatte: Die meisten Botanicals konnte man seinerzeit quasi direkt vom Schiff kaufen. Auch das änderte sich, seit Rotterdam seine gewaltige Bedeutung als Überseehafen bekommen hat.

Mitten in der malerischen und – man kann es nicht anders sagen – pittoresken Innenstadt, in der sich ein schmales Häuschen an das nächste schmiegt, steht in der Vriesestraat 130 ein altes, aber unscheinbares Haus mit einem Laden im Erdgeschoss, über dessen Fenster sich weinrote Markisen spannen. Es ist schwer vorstellbar, dass in diesem wahrlich alles andere als großen Gebäude, in dem das Unternehmen vor knapp 145 Jahren gegründet wurde (die Hausnummer hat sich irgendwann geändert, aber es ist das Gründungsgebäude), tatsächlich das komplette Volumen gebrannt und gefertigt wird. Aber so ist das manchmal, wenn handwerklicher Sachverstand und eine Schwarzwälder Kupferbrennblase im Souterrain aufeinander treffen.

Rutte und seine First Lady: Myriam Hendrickx

Für diese Brennblase ist seit 2003 Myriam Hendrickx zuständig, sie ist insgesamt die erst siebte Person, die sich hier Master Distiller nennen darf, überdies die erste davon, die nicht aus der Rutte-Dynastie stammt. Und während ebenjene sympathische Dame, die als studierte Lebensmitteltechnologin über Jobs im Getreide- und Molkerei-Business irgendwann zum Destillieren kam, im Besucherraum im ersten Stock des Brennerei- und Ladengebäudes über ihre Produkte spricht, wird einem relativ schnell klar, was an ihrer Arbeit und dadurch an den Produkten aus dem Hause Rutte besonders ist: Hier wird eben nicht einfach geredet, sondern wirklich gesprochen. Wenn Myriam Hendrickx über das Brennen ihrer Spirituosen oder das Ansetzen ihrer Liköre spricht, gibt es keine Floskeln. Es gibt keine ausufernden Bekundungen darüber, welche Botanicals von woher und natürlich von Hand ausgewählt und verarbeitet werden. Denn die Qualität, die scheint hier so selbstverständlich zu sein, dass sie sich lieber Zeit nimmt, um über ihre persönliche Leidenschaft zu sprechen: Genever.

Schließlich ist es nicht Gin, der das Haus Rutte dort hat ankommen lassen, wo es heute ist und auf Grundlage dessen ein Global Player wie DeKuyper die Firma übernommen hat. Es ist Genever, jenes große flandrische (über den belgisch-niederländischen Zwist zu diesem Thema wollen wir nicht sprechen) Heiligtum der Brennkunst. „Genever ist die große Konstante in meiner Arbeit als Brennerin. Er ist das, was ursprünglich meine Begeisterung geweckt hat“, so Hendrickx. Als Grund führt sie vor allem folgendes an:

„Beim Gin geht es ja darum, den Neutralalkohol als Träger für die Aromen der Botanicals zu benutzen. Beim Genever hingegen ist es vollkommen anders: Hier geht es zu allererst um den ‚Moutwijn‘, also um die verschiedenen Malz- und Kornbrände, deren Aromen vermählt und dann wiederum durch Botanicals bereichert werden.“

Dadurch bricht Hendrickx auch mit einer in der Barbranche oft verbreiteten Fehlbezeichnung vom Genever als Vorstufe des Gin: „Er ist ein Vorläufer, aber keine Vorstufe. Wer ihn als Vorstufe zum Gin bezeichnet, wird der Komplexität des Genevers nicht im Ansatz gerecht.“

Der transparente Keller: Wir verstecken hier nichts!

Ein Blick in den Keller untermauert den Anspruch und die Hingabe, mit der Hendrickx an der Aromatik all der vielen Genever feilt, die im Hause Rutte hergestellt werden. Denn jener Old Simon, der im Namen und Rezeptur die Reminiszenz an den Firmengründer Simon Rutte trägt und der nun in Deutschland und Österreich zu der Dreier-Range gehört, ist nur das jüngste und vielleicht gar das modernste Kind der vielfältigen Genever-Familie, die dort in der Vriesestraat das Licht der Welt erblickt (wenn er auch gemäß seiner Kornbrand-Zusammensetzung ein „Oude Genever“ ist). Die Zahl der hier vorgehaltenen Sorten und Abfüllungen – teilweise in Glas, aber eben auch in der derben Tonflasche – ist erstaunlich und beeindruckend.

Noch erstaunlicher und beeindruckender ist jedoch folgende Sache: Dieser Keller, der einem dort gezeigt wird, ist kein glatt gebügeltes „Visitor Center“ mit einigen sorgsam drapierten  Gegenständen, Vitrinen, Superlativen und Apothekergläsern. Letztere gibt es zwar freilich, sogar in Hülle und Fülle. Aber dieser Keller, in dem sich auch die Brennblase befindet, ist das Herz der Produktion und Produktentwicklung, das hier stolz zur Schau getragen und gezeigt wird. Das merkt man in jenem Moment, wenn man das Zimmer mit den hübschen Tonkrügen und der Pot Still verlässt und tatsächlich in die ganz uncharmant gekachelte Testküche geführt wird, eine Art Mischung aus Labor, Großküche und Backstube für die Haselnüsse, die ebenfalls in den Genever kommen. Dort, auf dem großen Labortisch – wie schon vorher in den Fluren – stehen unzählige Flaschen mit Testansätzen oder Proben aus Likörabfüllungen, Ideen für Brände oder Mazerate; Kakao, Johannisbrot, unterschiedliche Pomeranzenliköre aus verschiedenen Fässern oder Getreiden – und bei allem heißt es immer nur: „Ja, nimm ruhig, probier ruhig!“ Und hier von dem Kirschmazerat? „Ja, nimm einfach!“ Und das Kaffeezeugs dort drüben? „Klar, aber sei vorsichtig, der war nicht so gut.“

Die Offenheit ist Trumpf

Man könnte nun einwenden, dass diese Freigiebigkeit von Information sicher nur dann stattfindet, wenn geladene Gäste wie Bartender, Journalisten oder Händler diesen Ort besuchen. Doch genau da irrt man: Das, was wir hier sehen, darf jeder sehen, der sich bei Rutte für eine Besichtigung anmeldet. Da stehen dann auch ganz unspektakulär Probefläschchen mit Getreidebränden aus der belgischen Fillier-Destillerie im Regal, wo es doch vorhin noch nur salopp hieß, den Basisalkohol bezöge man eben aus Belgien. Man ist hier einfach viel zu selbstsicher, als dass es nötig wäre, irgendetwas zu verschleiern. Und diese Offenheit, gepaart mit niederländischer Gelassenheit, ist nicht nur ein Trumpf, sondern eine kostbare Besonderheit, die Rutte & Zn zu einer besonderen Firma im Spirituosenbusiness macht. Für etwas mehr als zehn Euro pro Person können sich Gruppen jederzeit nach Voranmeldung selbst davon überzeugen.

Was diesen Ort und damit auch die Produkte auszeichnet, ist Transparenz im für den Verbraucher – oder auch den Profi, der mit den Produkten arbeitet – besten Sinne. Denn hier verschanzt sich niemand zwischen Marketingrhetorik, Geheimnistuerei, Probeschlückchen von genau den Produkten, die sowieso schon alle kennen, und sinnlosen Schaukästen, in denen die eigene Geschichte bejubelt wird. Die alten Gegenstände im Tasting Room sind zwar alt und hübsch. Sie sind aber nicht dort, weil ein Interior Stylist sie kunstvoll drapiert hat, sondern weil sie einfach schon immer da waren. Weil sie dort hingehören. In dieses Haus in der Friesenstraße.

Die selbst auferlegte Beschränkung

Wie sehr einem diese Integrität am Herzen liegt, zeigt auch der Blick auf das Produktionsvolumen, wie Myriam erklärt: „Wir produzieren ganz bewusst wirklich nur hier im Haus. Denn ausschließlich auf diese Weise geht alles auch wirklich ganz sicher durch unsere Hände. Da muss niemand andere mit Reports auf dem Laufenden halten“, spielt sie ganz sicher auch darauf an, dass das ehemalige Familienunternehmen mittlerweile in Konzernhand ist. Die Konsequenzen dieser Produktionspolitik sind klar: Es gibt dadurch Grenzen, mitunter bedeutende Grenzen in der Kapazität der Herstellung. Eine Kupferbrennblase mit nur wenigen Hundert Litern Fassungsvermögen hat ihre Einschränkungen. „Aber das ist auch überhaupt nicht schlimm“, meint Hendrickx, denn „wir haben einen klaren Fokus, nämlich die Qualität, nicht die Quantitätssteigerung. Daher sind unsere Produkte auch mehr oder weniger ‚limitiert‘ und wir konzentrieren uns auf den On-Trade-Bereich.“

Einziger Wermutstropfen eines Besuches bei Rutte ist – zumindest aus Sicht des deutschen Marktes – dass mit den drei im letzten Herbst lancierten Produkten nur die Spitze des Eisbergs in Deutschland verfügbar gemacht wird. All jene anderen schönen, herrlich komplexen Genever gehören leider ebenso wenig zum Import-Portfolio von Borco wie der wunderbar getreidige Rutte Vodka – man hat sich in Hamburg mit den bereits länger distribuierten Vodkamarken darauf geeinigt, jenen aus Dordrecht nicht mit ins Angebot zu nehmen. Und die wirklich sagenhaften Liköre, die zu rund 16 Euro à 0,5 Liter im Laden angeboten werden, wollte man bei DeKuyper nicht auf den deutschen Markt bringen. Wer die möchte, muss sich zur Not dann eben mal ins Auto setzen. Es ist ja auch sonst ganz schön dort. In Dordrecht. Vor allem jetzt, im Frühling. Und so ganz ohne Hype.

 

Offenlegung: Pressereise.

 

Credits

Foto: Alle Bilder via Sven Goldmann

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