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Fakten: die Richtige Temperatur des Drinks

Muss der Manhattan wirklich schmerzhaft kalt sein? Und was bringt eigentlich für Spirituosen die ominöse „Raumtemperatur“ mit sich? Reinhard Pohorec mit einem Überblick über Aromenwahrnehmung und einem kleinen Plädoyer gegen das Kälter, Kälter, Kälter.

Jeder Drink ist ein fließendes Konzept, im wahrsten Sinne des Wortes. Nicht nur, weil man ungern auf einem Cocktail herumkaut oder sich den molekularen Perversitäten von Jellie, Wobble und Gum hingibt, sondern weil ein Getränk auch im tradierten Sinne stets in Bewegung ist. Besonders signifikant dabei ist die Temperaturentwicklung der Flüssigkeit, unmittelbare Folge ist also eine variable Gesamtwahrnehmung durch den Gast.

Bücher könnte man füllen mit Tabellen, Richtlinien und pseudowissenschaftlichen Ergüssen hinsichtlich der Trinktemperatur, besonders wenn es um Weinservice geht. Frisch, rassig und kräftig gekühlt muss der spritzige Weißwein sein, von Zimmertemperatur – woran auch immer man sich hier orientieren mag – ist beim kraftvollen Rotwein die Rede. Dass man mit solch sturen Schemata eigentlich nur ins Klo greifen kann, ist nicht zuletzt den meisten Sommeliers gewahr.

Natürlich ist es durchaus sinnvoll, grobe Abgrenzungen zu definieren und gerade dem unerfahreneren Genießer probate Richtwerte an die Hand zu geben. Geschmäcker und Vorlieben seien aber bekanntlich verschieden, die persönlichen Präferenzen ständig im Fluss.

1) Dufte Sache

Unsere sensorische Wahrnehmung ist ein komplexes System verschiedenster Faktoren. Sich hier lang und breit in wissenschaftlichen Details zu ergehen, wäre ebenso rahmensprengend wie am Ziel vorbei geschossen. Von entscheidender Bedeutung ist der Umstand, dass die Temperatur eines Objekts – gehen wir einmal von für den Genuss bestimmten Lebensmitteln aus – starken Einfluss sowohl auf orthonasale auf retronasale Perzeption ausübt: also über das Riechen selbst sowie über die Rückführung von Duftstoffen aus dem Rachenraum an die Riechzellen. Steigt der Wert am Thermometer nämlich, so werden mehr flüchtige Komponenten freigesetzt und die Geruchsintensität der meisten Stoffe nimmt zu. Dies ist besonders zu bedenken, wenn es um das Aromenerlebnis einer just zu servierenden Delikatesse geht.

2) Schmackhaft

Auch am Gaumen ist ein markanter Unterschied zu bemerken zwischen heiß und kalt. Natürlich, wird jeder konstatieren, der sich einmal mit kochend heißer Suppe die Zunge verbrannt hat – gemeint ist an dieser Stelle allerdings die gustatorische Relevanz. Natürlich ist dies teilweise damit zu erklären, dass ein Großteil dessen, was landläufig als „Schmecken“ bezeichnet wird, eben via retronasaler Effekte stattfindet und nicht über die Geschmacksknospen. Aber auch die Qualitäten salzig, süß, sauer und bitter sind temperatursensibel.

Wärme fördert die Bitterwahrnehmung, um nur einen Aspekt zu beleuchten, klar erkennbar an einem lauwarmen Negroni. Ebenso der Grund, warum man mit brennend heißem Kaffee ebendiese Herbe herauszukitzeln versucht.

3) Kalt, kälter, am kältesten – immer der richtige Weg?

Es klingt nach an Verzweiflung grenzenden Kindheitstraumata, doch beim Großteil der alkoholischen Getränke scheint es offenbar Vielen, als könne man sie gar nicht eiskalt genug bekommen. Der idealtypische Cocktail schwimmt klirrend kalt in einer gefrosteten Glasschale daher, jegliche Weine einer Bar, sofern vorhanden, scheinen dem Gefriertod nahe. Einzige Ausnahme dabei sind leider immer noch aufgespritete oder versetzte Weine, die bei stattlichen 22°C im Rückbuffet dem Oxidations-Nirvana entgegendünsten.

Vielfach raubt man einem aromatischen Getränk einen Großteil seiner Qualität, wenn man es zu kalt respektive in einem Behältnis serviert, welches an der Kälte-Situation wenig zu ändern vermag. Anders liegt der Fall natürlich, wenn man bewusst versucht, jene Geschmacksneutralität zu unterstützen: Ein hart geschüttelter Vodka Martini für unterkühlte Business-Haie darf nach ebenso wenig riechen wie er schmecken soll. Für ganz Verwegene setzt man höchstens mit einer Zitronenzeste doch noch einen olfaktorischen Ankerpunkt.

4) Wärme – öfter richtig, als man denken mag

Was aber, wenn man von einem bouquetreichen Weißwein, aromatischen Fino Sherry oder komplexen Manhattan Cocktail doch mehr bekommen möchte als Frostbeulen?

Fakt ist: Vielfalt lässt sich nur mit erhöhter Temperatur erschnüffeln. Interessante Ergebnisse lassen sich auch dokumentieren, wenn in erster Instanz niedriger gradiert serviert wird, um anschließend eine Erwärmung im Glas zu offerieren. Somit erschließt sich ein über die Minuten hinweg ständig in Bewegung begriffenes Erlebnis, eine zusätzliche Dimension des Trinkgenusses.

Als Paradebeispiel könnte man einen tiefgründigen Drink anführen, dem, auf Eis verrührt, zuerst Kühlung widerfährt, ehe er, straight up serviert, langsam durch die umgebende und somit ansteigende Wärme mehr und mehr die Sinne betört. Es gilt jedenfalls, sich final von dem Gedanken zu verabschieden, dass das Idealbild eines Cocktails ein eiskaltes zu sein habe. Schütteln, Rühren, Werfen und alle anderen Formen des Mixens haben kühlende Wirkung, zweifelsohne. Aber hier spielt besonders auch das Schmelzwasser eine tragende Rolle und nicht immer muss ein fertiger Drink vor Minusgraden schlottern.

Eine pralle, deliziös glänzende Kugel Vanilleeis riecht, objektiv beurteilt, eingangs auch nach gar nichts. Fängt sie langsam zu schmelzen an oder zergeht die Masse auf der Zunge, so wird der volle Gesamteindruck wahrnehmbar. Gleichsam merkt man erst im warmen Zustand, wie süß ein solcher Genuss eigentlich ist. Einem Frozen Drink gibt man erhöhten Zuckeranteil bei, nicht nur weil der Verwässerunganteil balanciert werden will, sondern auch um eine gewisse Süße, welche bei sehr niedrigen Temperaturen reduziert wirkt, zu gewährleisten.

5) Die große Unbekannte: „Raumtemperatur“

Ein besonders schwammiger und dennoch ungebrochen beliebter Ausdruck in der thermischen Kategorisierung unseres flüssigen Konsumverhaltens ist die „Zimmer“- oder „Raumtemperatur“. Dass sich im vom Winter gebeutelten Norden ein anderes Raumklima ergibt als in tropischen Breiten, scheint einleuchtend. Und dass selbst bei computergesteuerter Klimatisierung nicht jeder Mensch seine vier Wände gleich temperiert, ebenso. Gerade bei nicht gekühlten Getränken und Flaschen – sehr oft im Rotwein-Bereich und eigentlich immer bei puren Spirituosen der Fall – schafft man sich somit ein sehr ungewisses und starken Schwankungen unterworfenes Spektrum.

Zu warm servierte Drinks sind ebenso inadäquat für eine Spitzengastronomie wie das Zu-Kalt-Pendant, als flüchtige erste Note steigt nämlich rein der Alkohol in die Nase. Ein brühwarmer, leichter Rotwein macht ähnlich wenig Spaß wie eine von Barbeleuchtung gut gewärmte Islay-Fassstärke.

Mögliche Alternativen bieten sich durch Weinklimaschränke mit eigener Zone für rund 14°C, 16°C oder 18°C. Oder vorgekühlte Flaschen, die man mit ausreichender Vorlaufzeit wieder auf Temperatur kommen lässt, sowie Gläser, denen vor dem Einschenken speziell Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Oft scheint man zu vergessen, dass ab dem Erstkontakt von Flüssigkeit und Behältnis eine Interaktion und Temperaturaustausch stattfindet, der zu einer Veränderung von 2°C oder mehr führen kann. Was hilft der besttemperierte Grand Cru-Tropfen, wenn er in einem katastrophal kalten oder warmen Gläschen enden muss? Bei Degustationen, Blindverkostungen und neutralen Bewertungen empfiehlt es sich also fast zwingend, eine gleichbleibende Temperierung von Glas und Flasche sicherzustellen.

In einer Bar- und Restaurantsituation stellt sich der Fall etwas entspannter dar. Der Gast sucht Muße und ein wohliges Erlebnis, man gibt sich – und auch dem Getränk – mehr Zeit. Da kann ab und an über 1°C oder 2°C hinweggesehen werden, allenfalls verlangt man entsprechend ein anderes Trinkgefäß. Schließlich sind es dann die persönlichen Präferenzen, denen ein guter Bartender oder Sommelier Rechnung zu tragen hat, nebst aller gutgemeinten Empfehlung sowie dem schlauen „Wie temperiere ich meinen Wein?“-Leitfaden aus der letzten Wochenendbeilage.

Das Empfinden von Aromen bleibt subjektiv und Geschmackssache. Nur eines sollte man sich zuvörderst merken: extreme Lösungen sind nur in wenigen Fällen der beste Weg. Und zwar egal, ob heiß oder kalt.

Credits

Foto: Frosch &Lupe via Shutterstock. Postproduktion: Tim Klöcker.

Comments (2)

  • happydrinker

    Für einen Artikel, den ich als Print Abonnent noch einmal extra bezahlen musste, hatte ich mir etwas mehr erhofft. Beispielsweise Tasting Notes von einem klassischen Cocktail zu jeweils unterschiedlichen Temperaturen o.ä.

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    • Redaktion

      Hallo Happydrinker,

      vielen Dank für die Rückmeldung. Wir werden das bedenken und für die Zukunft beherzigen.

      Liebe Grüße
      // Nils Wrage für die Redaktion

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