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Sonnenaufgang für Tequila? Eine Historie

Der Tequila Sunrise. Ein Kult-Klassiker an den Bartresen der 1990er Jahre. Auch zu Silvester werden wieder Gallonen des rot-gelben Zuckerwassers über die Tresen gehen. Aber generell: Ein Drink mit viel Vergangenheit und ohne Zukunft? Die Geschichte einer Sabotage.
Vielmehr müsste es lauten: das Lied, die Ballade einer Legende! Denken wir uns für einen Moment in das entspannte, “laid-back” San Francisco der späten 1960er Jahre und fühlen uns in die Vibrationen jener Zeit ein. 1967 lebt die Hippie-Bewegung den „Summer of Love“. Scott McKenzie läßt Flower Power hochleben und singt „San Francisco“. Geschrieben hatte das Lied John Philips, Mitbegründer der Mamas and the Papas, die bereits zwei Jahre zuvor mit „California dreamin´“ eine Ikone der damaligen Ära komponiert hatten.
Tragik und Idylle
Ebenfalls 1967 überquert Otis Redding die Golden Gate Bridge, um gleich dahinter einige Zeit auf einem Hausboot im Städtchen Sausalitos zu verbringen, wo er den traumhaften Blick in die Bucht von San Francisco genießt, was in dem Song mündet „Sittin´ on the Dock of the Bay“, den er gemeinsam mit Steve Cropper schreibt.
Den Erfolg des Liedes in den Billboard Charts durfte Redding tragischerweise nicht mehr erleben. Nur drei Tage nach den Aufnahmen des Liedes kam Redding mit fünf weiteren Mitgliedern der Band bei einem Flugzeugabsturz am 10 Dezember ums Leben. „Dock of the Bay“ wurde zu einem posthumen Nummer-Eins-Hit.
Einen ganz ähnlichen Blick, wie Redding ihn auf dem Hausboot erlebte, bestaunt 1972 ein weiterer junger Musiker, der mit seiner Band gerade die USA tourte. Er sitzt am Wasser im Restaurant „The Trident“, das den Mitgliedern der Band „The Kingston Trio“ gehört und lässt sich vom Bartender einen Drink empfehlen.
Der Name des Drinks: Tequila Sunrise. Der Name des Musikers: Mick Jagger. Der Name der Band: The Rolling Stones. Die Tour – und mit ihr der Drink – sollte heftigst Furore machen, wie Bandmitglied Keith Richards in seinen 2010 erschienen Memoiren „Life“ beschreibt: „Die 1972er Tour wurde unter verschiedenen Namen bekannt: Die Kokain und Tequila Sunrise-Tour, oder die STP: Stones Touring Party.“
Es sollte die erste wilde Tour werden, bei der Hoteletagen gründlich verwüstet wurden und Fernseher aus den Stockwerken flogen. Ob der Tequila Sunrise etwas damit zu tun hatte?
Tequila als flüssige Wegzehrung für den Rock ’n’ Roll
Der Drink entwickelte sich rasch zum getreuen Begleiter der Tour und ein regelrechter Kult um die Mischung aus Tequila, Fruchtsaft und der Farbe Rot brach aus. Bis 1972 importierten die USA jährlich ungefähr 3,5 Millionen Liter Tequila. 1974 betrug die eingeführte Menge des Agavendestillats dann bereits stolze 16,3 Millionen Liter.
Analysten verweisen in diesem Zusammenhang auf die unschätzbare Wirkung jenerTournee der Stones, die an dieser Verfünffachung der Menge hohen Anteil besitzt.
Die Rezeptur für den Tequila Sunrise besteht in dieser Zeit aus Tequila, Orangensaft und der vorsichtig hinzugefügten Grenadine, die dann im Glas an einen Sonnenaufgang erinnert. Bei zahlreichen Rezepten kommt noch ein Dash Zitronensaft oder Limette hinein.
5 cl Tequila, 10 cl Orangensaft, ein Barlöffel Zitronen- oder Limettensaft und ein Dash Grenadine lautet eine ungefähre Basisrezeptur. Die verwendeten Mengen unterscheiden sich in beinahe jedem Barbuch.
…die Jahre vor dem Sturm
Der ursprüngliche Tequila Sunrise ist bereits um einiges älter. Nur, bis die Rolling Stones ihn zum Tour-Elixier erkoren, erhielt der Drink kaum Aufmerksamkeit. Von der Grundidee handelt es sich bei dem Tequila Sunrise um eine Abwandlung des Sling, angelehnt an die fruchtige Rezeptur, wie sie beispielsweise der Singapore Sling nach Art des Raffles Hotel aufweist. Ältere Versionen verwenden auch Soda als Filler, auch diese Version eines Sling ist gängig.
Die früheste Erwähnung in einem Cocktailbuch dürfte aus dem Jahr 1946 stammen. In dem Werk „The Roving Bartender“ von Bill Kelly kommt anstelle von Orangensaft gesüßter Zitronensaft zum Einsatz und statt Grenadine sorgt Creme de Cassis für die Morgenröte.
Die ursprüngliche Rezeptur soll ein Barmann in der Wright Bar im legendären Arizona Biltmore Hotel ersonnen haben. Gene Sulit entwickelte den Drink für einen Stammgast, der Tequila-Drinks liebte und ein handliches Glas mit an den Pool nehmen wollte.
Sulits originale Rezeptur aus den 1930er Jahren beinhaltet 1 ¾ Unzen Premium Tequila, 2/4 Unzen Creme de Cassis, einen Schuss frischen Limettensaft und Soda, dazu drei Limettenräder als Garnitur. Musikalische Auswirkungen gab es nur in soweit, als das Komponist Irving Berlin in dem Hotel seinen Hit „White Christmas“ zu Papier brachte. In wie weit der Tequila Sunrise dabei eine Rolle spielte, ist nicht überliefert.
Die Rezeptur aus dem Arizona Biltmore Hotel sieht einen Blanco Tequila vor. Im Trident Restaurant in Sausalitos verweisen die Barleute hingegen auf einen Reposado. Die Verwendung eines “Goldenen” entwickelt in dem Drink wahrhaftig sehr angenehme Nuancen.
White Russian oder Roter Tequila?
Im klassischen Standardwerk in Sachen Cocktails in den USA, dem “Mr Boston official Bartender´s Guide”, der seit den 1930er Jahren erscheint, taucht der Tequila Sunrise erstmals in der Ausgabe von 1974 auf. Kurz zuvor, 1973, kommt erneut die Musik ins Spiel. Die Eagles landen mit ihrem Song „Tequila Sunrise“ nur einen mittelmäßigen Erfolg und landen nur auf Platz 64 der Billboard Charts.
Ist dies bereits ein Omen auf den Abgesang des Drinks? Ein bekannter Vodkatrinker ist offensichtlich dieser Meinung. „The Dude“ Jeff Lebowski, gespielt von Jeff Bridges, trinkt in dem Film „The Big Lebowski“ aus dem Jahr 1998 beständig seinen White Russian.
In dem Film der Brüder Joel und Ethan Coen wirft ein Taxifahrer den Dude aus seinem Fahrzeug, als dieser sich über die Musik und den Song „Peaceful, Easy Feeling“ beschwert mit den Worten „I hate the f***ing Eagles, man!“
Im Song der Eagles lautet der Einstieg: “It’s another tequila sunrise
Starin’ slowly ‘cross the sky, said goodbye.”
Für den Drink bedeuten die 1990er Jahre ebenfalls ein herandämmerndes Goodbye. Getränkeexperte Simon Difford attestiert dem Tequila Sunrise einen hohen Bekanntheitsgrad mit einer gewissen Dosis Rätselhaftigkeit: “Jeder hat schon einmal von diesem Drink gehört, aber diejenigen, die ihn probieren, wundern sich, warum er so berühmt ist.“
Dornröschenschlaf in der Moderne
Thomas Pflanz begleitet die Barszene der Hauptstadt bereits sehr lange und erinnert sich: „In den 90ern gehörte der Tequila Sunrise noch auf jede Barkarte und wurde gerne und oft bestellt. Mittlerweile kommt diese Bestellung nur noch wenige Male im Jahr vor, aber selbstverständlich beherrscht jeder unserer Bartender die Rezeptur und die Gäste bekommen ihren Cocktail, auch wenn er nicht auf der Karte steht.“
Ähnliche Erfahrungen bestätigt auch Maureen Reichl, Betreiberin der Stagger Lee Bar in Berlin Schöneberg. „Tequila spielt in unserer Bar eine wichtige Rolle und zahlreiche unserer Cocktails basieren auf der Spirituose. Unsere Gäste wissen das, schätzen die fantastische Qualität aktueller Tequilaqualitäten und freuen sich auf kreative Rezepturen und Kreationen unseres Barteams. Nach einem eher schlichten Tequila Sunrise fragt da sehr selten jemand.“
Abgesang im Web 2.0
Ob ein Drink tatsächlich so einfach zuzubereiten ist, beantworten gerne auf YouTube mehr oder minder professionelle Bartender. Für einen Cocktail mit derart wenigen Zutaten erzeugen die Mixgestalten in einigen der Videos doch arg unterschiedliche und teils merkwürdige Kreationen. Einige bauen den Cocktail im Glas, andere shaken die Zutaten, mit Ausnahme der Grenadine.
Manche geben die Grenadine zuerst ins Glas, andere am Schluss. Einer floatet den Tequila abschließend über den Drink, einer wirft als erstes seinen Messbecher fort und erklärt: Für diesen Cocktail benutzen Profis keinen Jigger, dafür haben wir keine Zeit, wir zählen beim Ausschenken bis sechs. Soso.
Keine Mengenangabe gleicht der anderen. Grundsätzlich gilt: Nicht jeder, der über eine Kamera und Eiswürfel verfügt, sollte sich anmaßen, Cocktail-Video-Kurse via Internet zu verbreiten. Kurioserweise verwenden sie beinahe alle einen Tequila aus dem Hause Jose Cuervo.
Tatsächlich begriff die Marke 1973 rasch den Boom, den die Rolling Stones auslösten und nahmen den Cocktail sehr intensiv in ihre Präsentationen und Werbungen auf. In dem erfolgreichen Song „Tequila Sunrise“, den die Latino-Rapper von Cypress Hill 1998 veröffentlichten, heißt es entsprechend: „Tequila spice, hot nice. Feeling right, sipping on Jose Cuervo. Down in Tijuana, Mexico … Tequila Sunrise, with the bloodshot eyes. My, my, my, how time flies and goes by surprise.”
Machen gute Zutaten auch einen guten Sunrise?
Zur Zubereitung herrscht selbst in den einschlägigen Fachbüchern der Cocktail-Literatur Uneinigkeit. Dale Degroff und Charles Schumann bauen den Drink im Glas, Franz Brandl und Simon Difford shaken ihn. Worin sich alle Experten einig sein dürften, ist die Wertigkeit der Zutaten. Ein hochwertiger 100% Agave Tequila, insbesondere als Blanco, dringt aromatisch-intensiv durch die Frucht. Ein frischer Orangensaft entwickelt, wenn er geshaked wird, eine sämige Textur, die ein angenehmes Mundgefühl erzeugt.
Insbesondere bei Grenadine oder Granatapfelsirup stehen heute hervorragende Qualitäten zur Verfügung, die weitaus natürlicher schmecken als einige der Industrieprodukte mit künstlich-süßem Geschmack, wie sie noch vor 20 Jahren in die Cocktails wanderten. Grenadine aus dem Biomarkt oder vom türkischen Lebensmittelhändler bieten heute ganz neue Optionen, einige lange verschmähte Classic-Drinks wieder zu beleben.
Diese Meinung vertritt auch das Barteam der Bijou Bar im gleichnamigen Hotel in Berlin Mitte. Mit Schmunzeln und Augenzwinkern nahm man sich hier einiger der Drinks an, über die so mancher Mixologe zu Unrecht die Nase rümpft.
So geht Sunrise heute
Steffen Zimmermann erklärt: „Heute stehen so hervorragende Zutaten zur Verfügung, dass man vielen Drinks eine ganz neue Qualität verleihen kann. In der Bar Bijou sollen die Berliner nun eben den besten Sex on the Beach ihres Lebens trinken dürfen.“ Gleiches gilt für den Tequila Sunrise, der auf der Barkarte der Bar Bijou tatsächlich zu finden ist.
Bartender Andreas Künster beschreibt die Interpretation der Bar: „Selbstverständlich verwenden wir frischen Saft. Anstelle von Grenadine verwenden wir Chambord und geben auf den Drink am Ende noch eine Krone von Himbeerpüree. Womöglich verkauft keine Bar der Stadt derart viele Tequila Sunrises. Sie werden immer wieder gerne bestellt.“
Eine großartige und schmackhafte Abwandlung, die dem Tequila Sunrise neues Leben einhaucht. Totgesagte leben ja bekanntlich länger. Mit dergleichen Twist beschäftigt sich auch Bartender und Buchautor Jeff Burkhart aus San Francisco.
Wie kein anderer spürt er der Historie des Tequila Sunrise hinterher und machte dazu sogar die früheren Barleute aus dem „The Trident“ ausfindig, um sich die Geschichten anzuhören und vieles über jene wilden Zeiten in dem Marihuana-Hauptquartier mit den legendären Parties der Stones und ihren illustren Gästen rings um Janis Joplin oder Carlos Santana zu erfahren.
Seine eigene Kreation nennt er Bolinas Sunset und fügt neben einem Anejo Tequila, Orangensaft und Grenadine noch Triple Sec und Crème de Cassis hinzu. Seine Rezepte und Rechercheergebnisse berichtete Jeff Burkhart im Rahmen eines Zusammentreffens mit Tequila-Blogger „Lippy“ im August 2011.
Über 70 Minuten sprechen die beiden über Rezepte, Rolling Stones und Tequila Sunrise und kippen sich dabei kräftig einen hinter die Binde. Nunja, vor allem jener Lippy.
Einfach zu Silvester noch mal versuchen!
Mit den richtigen Zutaten lohnt ein zweiter Blick auf den Tequila Sunrise Cocktail. Mit großartigem 100% Agave Tequila und frischem Saft, dazu das Experiment mit frischer Grenadine oder Crème de Cassis. Womöglich kreuzen dabei ja einige neue Ideen den Gaumen. Als erfrischender Sommerdrink taugt der Tequila Sunrise allemal.
Also: nur Mut und zurück in die Vergangenheit. Wie singen die Eagles: „Take another shot at courage … It’s another Tequila Sunrise, this old world still looks the same …“ Mit der Musik zu dem Drink kann man jedenfalls nichts falsch machen.
 
Der vorliegende Text erschien zuerst im MIXOLOGY MAGAZIN 3/2014.  Informationen zu einem Abonnement finden Sie hier.
 

Credits

Foto: Sonnenaufgang via Shutterstock

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