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Espresso Martini Cocktail

Der globale Wachmacher: Warum trinken plötzlich alle Espresso Martini?

Den Espresso Martini gibt es seit mehr als dreißig Jahren. Lange Zeit eher ein – je nachdem, wen man fragt – Geheimtipp oder Ärgernis, ist er plötzlich von keiner heimischen Barkarte wegzudenken und mausert sich zur Cash Cow. Warum ist das so? Ist diese Neuentdeckung ein Kind der Pandemie? Der Industrie? Oder einfach nur zufälliges Zusammentreffen von Raum, Zeit und Geschmack? Wir sind dem globalen Phänomen nachgegangen.

Der bekannte Traditionalist und Heimatforscher Gerhard Polt findet es unfassbar, dass sein bildungsfernes Gegenüber den sogenannten „schwedischen Kaffee“ nicht kennt. „Jaaa, wo lebst denn du?“ Leicht verkürzt und dezent eingedeutscht nimmt man für diese Kaffespezialität eine Tasse, gießt „ein bisserl einen Kaffee“ hinein, lässt darin ein Zehnpfennigstück versinken und schüttet dann so lange „einen Obstler oder einen Enzian drauf, bis du das Zehnerl wieder siehst.“

Espresso Martini

Zutaten

6 cl Vodka
3 cl Espresso
2,25 cl Kaffeelikör
Dashes Zuckersirup (optional)

Der Espresso Martini ist ein globales Phänomen
Der Espresso Martini ist der wohl berühmteste Cocktail von Dick Bradsell

Der Espresso Martini kommt zur Welt

Obwohl das Deliziöse des schwedischen Kaffees aus jeder Silbe der Beschreibung hervorspringt, hat er es, dem Unverständnis des Erklärenden zum Trotz, dennoch nicht zum allgemeinen Ruhm eines Espresso Martini gebracht. Nun hat das anderweitig oft wenig kreative menschliche Genius sicher nicht lange grübeln müssen, um auf die Idee zu kommen, das Belebende mit dem Berauschenden zu kombinieren, und weltweit gibt es da ja auch so einige Beispiele, vom Irish Coffee bis zum österreichischen Fiaker, aber der Espresso Martini ist schon ein Sonderfall.

Die Geschichte seiner Geburt ist zumindest in der Bar-Community allgemein bekannt und wird auch immer wieder gerne erzählt: ein anonymes, späteres Supermodel kommt Ende der 1980er in London zu Dick Bradsell in den Fred’s Club und äußert den legendär gewordenen Wunsch: „Wake me up, then fuck me up.“ Voilà, der Espresso Martini kommt zur Welt.

Wie wichtig eine gute Story für einen Drink ist, zeigt etwa der Seelbach Cocktail, und auch so manche Spirituosenmarke umgibt sich gerne mit dem einer Historie, die bei näherem Hinsehen eher den bürgerlichen Hans-Robert als den adligen Frédéric von Anhalt offenbart. Dick Bradsell jedenfalls war keine Luftpumpe, weshalb man seiner Aussage guten Gewissens Glauben schenken kann, und außerdem gibt es seit dem Hinscheiden W. C. Fields’ 1946 eh nicht mehr genug griffige Zitate zum Thema Alkohol („Welch niederträchtiger Schurke hat mir von meinem Mittagessen den Korken geklaut?“).

Plötzlich muss den jeder haben

So weit, so gut. Der Espresso Martini ist ein moderner Klassiker: drei Zutaten, lecker, hübsch anzusehen, er bietet Spiel, Spaß, Spannung und Schokolade, um eine alte Ü-Ei-Werbung zu zitieren – aber anscheinend haben das zumindest hierzulande die Gäste 30 Jahre lang nicht bemerkt. Oder? Man hat schon den Eindruck, dass ein Drink, der vor drei Jahren beinahe noch ein Geheimtipp unter Eingeweihten war, mittlerweile von den Barkarten der Republik nicht mehr wegzudenken ist, unabhängig von Qualität und Anspruch der Bar. Plötzlich muss den jeder haben.

„So richtig viel bestellt wird er erst seit einem Jahr,“ meint etwa Stefan Gabányi, der den Drink aber auch als „kultivierte Variante des Liquid Cocaine“ betrachtet, einer in München endemischen Party-Shot-Variante aus den späten Neunzigern. „Aber den kann nun wirklich jeder zusammenschütten. Lustigerweise bestellen den Espresso Martini bei uns oft Barleute oder Frauen, unabhängig von der Uhrzeit. Ist schon ein cooler Drink, und ich mag ihn schon allein deswegen, weil er vom Scheiss-Gin weg führt. Jetzt trinken wir eben doch wieder Vodka, und die Mischung von Kaffee und Vodka ist als Fitnessgetränk kaum schlagbar.“

Espresso Martini als Cash Cow

Auch Tobi Nerb aus dem Regensburger Palletti, selbst Schöpfer des Corretto Martini, einer sehr schmackhaften Espresso-Martini-Variante auf der Basis von Traubenschnaps, sieht das ganz ähnlich: „Der hat sich innerhalb von ein, zwei Jahren zum wichtigsten Shortdrink der Bar gemausert, zur regelrechten Cash Cow, wobei das jüngere Publikum die Standard-Variante bevorzugt, während die Älteren auch mal mit anderen Aromen spielen wollen. Man hat da ja alle Möglichkeiten; ob Cold Drip, Infusion oder sonstwas, die Funktionalität wird dabei kaum beeinträchtig.“

Die Funktionalität: Zumindest das ist bestimmt ein Indiz für den Erfolg. Der Espresso Martini ist eingängig und lässt doch alle Wege in die Komplexität offen. Ein Crowdpleaser, dessen Crowd nicht zwangsläufig doof sein muss – sondern vielleicht nur die letzten zwei Jahre durch eine Pandemie weggesperrt und sich zu Hause mit einfachen Drinks beschäftigt hat. Und die scheinbare Einfachheit des Cocktails ist eben nur scheinbar: „Ich würde nicht sagen, dass das ein einfacher Drink ist,“ meint dazu Rémy Savage, „sondern eher einer der Schwierigeren. Seiner Grundstruktur gemäß ist er eine Herausforderung – Vodka ist neutral, Zucker auch. Somit hängt alles am Kaffee, und damit kann man spielen, mit den subtilen Aromen, mit der Bitterkeit. Natürlich gilt für viele auch noch das Bradsell-Zitat, aber das ist nur der eine Teil.“

Espresso Martini von Rémy Savage
Rémy Savage interpretiert den Espresso Martini mit Vodka, Cognac und vierstündigem Cold Brew

Espresso Martini in Italien? No, grazie.

Savages Espresso Martini ist natürlich auch sehr auf der komplexeren Seite angesiedelt, mit Vodka, Cognac, vierstündigem Cold Brew und viertelgrammgenauen Zutatenangaben; in seiner aktuellen Wahlheimat kennt man ihn aber eben auch schon länger: „In London war das schon immer ein Klassiker. Ich glaube, der internationale Durchbruch, wenn man das so nennen will, hat auch mit den Brands zu tun, ob Vodka oder Kaffeelikör, die nach neuen Absatzmöglichkeiten suchen. Und jetzt muss man einfach einen haben – genau, wie man nicht auf einen Negroni verzichten kann, obwohl er einem nicht ins Konzept passt.“

Er ist eben auch wandelbar, der Espresso Martini, wie ein guter Schauspieler, je nach Stück, und nicht wie die unzähligen Dingsbumstinis, die sich mit dem Edelsuffix den schäbigen Vorderbau schönschminken wollen. Der Espresso Martini kann die Schokozigarette der Barwelt sein oder die Cohiba, je nach Bedarf.

Das mit dem Bedarf ist aber nach wie vor ein Rätsel. In England gibt es ihn, seit es ihn gibt, Deutschland hat sich bei der Entdeckung Zeit gelassen, und wieder woanders spielt er nach wie vor keine Rolle. Riccardo Rossi vom hochvoluminösen Freni & Frizioni in Rom hatte zwar mal einen Twist auf der Karte, aber der wurde tatsächlich kaum nachgefragt; mittlerweile gibt es ihn gar nicht mehr. „Wir haben keine Kaffeemaschine in der Bar, weil wir erst um 18:30 Uhr öffnen.“ Italienische Logik, die voraussetzt, dass ein Kulturvolk weiß, zu welchen Uhrzeiten man Kaffee trinkt und zu welchen eben nicht.

„Außerdem ist der Espresso Martini eher ein Dessert-Cocktail, und man trinkt in Italien lieber bitter und sauer.“ Oder aber die Italiener haben einfach keine große Lust, sich in ihre Kulturkulinarik von rückständigeren Völkern hineinreden zu lassen. Gibt ja auch keinen Pizza Hut in Italien.

Das Freni e Frizoni in Rom

In Australien ist Espresso Martini sogar der Maßstab

Kaffeefanatisch in einer nicht traditionell festbetonierten Art und Weise sind die Australier,
und wenn es um Kaffee geht, kommt man an Martin „Mr. Black“ Hudak sowieso nicht vorbei, mit eigenem Cold-Brew-Kaffeelikör Mr. Black und Kaffeevertrieb. Der Mitgründer des Maybe Sammy in Sydney hat in Australien seine ideale Spielwiese gefunden: „Die Australier sind besessen vom Kaffee; das ist tägliches Ritual und Religion zugleich. Der Espresso Martini ist meiner Meinung nach der Pionier der Kaffee-Cocktails, die Nummer eins weltweit und ganz besonders hier, weshalb sein Niveau auch extrem hoch liegt. Für mich ist ein guter Espresso Martini der Maßstab sowohl für Kaffee als auch Spirituosen in einer Cocktailbar.“

Da war man uns also sogar auf der anderen Seite des Planeten ein paar Schritte voraus, und umso mehr bleibt die Frage, warum er so lange gebraucht hat, um sich bei uns durchzusetzen. Vielleicht lässt sich das aber auch nicht wirklich beantworten: Die Welt tickt schließlich überall anders und braucht dafür keine besonderen Gründe. In Schweden essen sie vergammelten Fisch, und bei uns geht man zu Andreas Gabalier aufs Konzert. Engländer und Deutsche haben vielleicht auch traditionelle Probleme, dem jeweils anderen irgendwelche Errungenschaften zuzugestehen. Wir trinken Espresso Martini, und die auf der Insel kommen langsam auf den Trichter, Warm- und Kaltwasser nicht mit 30 Zentimetern Abstand auf dem Spülbecken zu montieren. Mischgetränk gegen Mischbatterie. Geht doch.

Credits

Foto: Sarah Swantje Fischer; Rémy Savage; Freni e Frizioni

Comments (2)

  • JGatsby

    Ein Espresso Martini ist wie ein Alco-Pop: klebrig, süß und beliebt. Eigentlich wissen wir intuitiv, es ist Unsinn für Amateure.

    reply
    • Seekind

      Wenn man die sensorische Entwicklung im Kaffee Bereich anschaut, ergeben sich doch einige spannende Verknüpfungen und eine breite Aromenvielfalt. Von Unsinn für Amateure kann da keine rede sein, solange nicht die 0815 Italo Bohne drin landet. Leider haben deutsche High End Bars und Gastronomie beim Thema Kaffee noch einiges aufzuholen.

      reply

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