Unverzichtbar bitter: Angostura wird 200 – und bleibt mysteriös
Am Anfang stand ein Deutscher. Der schlesische Wundarzt Johann Gottlieb Benjamin Siegert war – angeblich nach Finanz-Streitigkeiten mit seinem Bruder – dem Aufruf Simón Bolívars gefolgt. Rund 300 deutsche Söldner, darunter die in den späteren Republiken Venezuela und Bolivien aktiven Generäle Johann von Uslar oder Otto Philipp Braun, zogen mit ihm in die südamerikanischen Unabhängigkeitskriege. Siegert richtete am Orinoco ein Militärspital ein, das 1824 auch die Geburtsstätte des „Amargo Angostura“ wurde. Was heute in den Bars dieser Welt Verwendung findet, hatte Siegert als Magen-Tonikum für die Rebellen konzipiert.
Auch wenn die weltbekannte Marke erst 1875, fünf Jahre nach J. G. B. Siegerts Tod, vom Festland nach Trinidad übersiedelt ist, feierte Port of Spain den 200. Geburtstag des Bar-Bitters groß: 650 Gäste füllten bei der Party den Ballroom des „Hyatt Regency“. Einer der Höhepunkte war der Rap, den der hoch seriöse „Kronanwalt“ (King’s counsel) Terrence Bharath dem „House of Angostura“ widmete. Der hauptberuflich in der Seidenrobe amtierende Spitzenjurist ist Vorstandsvorsitzender des Unternehmens.
Der Letzte der Siegerts
Er würdigte auch die Familie, die bis 1982 Anteile an dem Unternehmen in Laventille hielt: Gordon Siegert sendete als Ur-Urenkel des Firmengründers und Waterloo-Veterans Grußworte aus seinem Herrenhaus in England. Für die Inselökonomie ist die Marke heute eines der wichtigsten Exportgüter (neben dem berühmten Trinitario-Kakao): 8% der Lebensmittelexporte entfallen auf die Flaschen mit dem „oversized“-Label, rechnete Wirtschaftsministerin Paula Goopee-Scoon bei der 200 Jahr-Gala vor. Mit rund 1,8 Millionen Liter Jahresproduktion übersteigt die Menge an Bitters sogar die der Einwohner der Karibikinsel (1,5 Mio. Menschen). „Kein anderes Produkt der Karibik findet sich in 170 Ländern“, so Vorstandsvorsitzender Terrence Bharath.
Des Bitters bitterste Stunden
Ein Interview mit ihm hat Seltenheitswert. Dabei hat Bharath einiges zu sagen. Seit 2018 leitet er das „Board“ nach einem mehr als turbulenten Jahrzehnt. Dass das Unternehmen 2009 vor dem „Aus“ stand, hat ihn Europa kaum jemand mitbekommen. „Der Staat schoss damals 29 Milliarden Trinidad Dollars (ca. 4,3 Mrd. Euro, Anm. d. Red.) zu“, erinnert sich CEO Bharath an die bittere Zeit für den Bitter. Es führte aber zu der kuriosen Situation, dass der Staat Trinidad&Tobago zum Mitbesitzer des bitteren Imperiums wurde. Hätte man diese nicht getan, wäre nach der 2003 geschlossenen Brennerei „Caroni“ eventuell auch die letzte „TT“-Destillerie Geschichte gewesen. Informationen wie diese machten den MIXOLOGY-Besuch in Laventille spannender als die eigentliche Gala zum 200. Geburtstag von Dr. Siegerts Formel.
Vorangegangen war dem eine wilde Expansion der Muttergesellschaft „CL Finance“, einer Holding, die von Versicherungen über Methanol-Produktion und Hafen-Logistik bis zu Spirituosen-Firmen Beteiligungen hielt. Kurze Zeit gehörten sowohl Appleton Rum, als auch Belvedere, Cruzan Rum, Hine Cognac und sogar der US-Whiskey-Gigant „Lawrenceburg Distillers Indiana“ (heute „MGP“) zum Imperium, das nach der Finanzkrise implodierte. Schlimmer noch: „Es fehlte Geld von Angostura und wir wurden vom Börsehandel ausgeschlossen.“ Vorwürfe gegen einen CEO, importierten Rum zu „Made in Trinidad“ umetikettiert zu haben, brachten die so um Diskretion besorgte Bitter-Produktion kurz darauf weiter in die Negativ-Schlagzeilen.
Geheimnis-Bewahrung in Laventille
„Ich denke, dass das Mysterium um Angostura wichtig ist“, lässt der Chairman keinen Zweifel, die Geheimhaltung um die Bitters weiter aufrecht zu erhalten. Diese nimmt nachgerade absurde Züge an: Botanicals etwa würden sogar extra angekauft, um falsche Fährten zu legen. Generell sind alle pflanzlichen Zutaten, durch die der Rum als Perkolat rinnt wie bei einem überdimensionalen Kaffee-Filter, nur mit Nummern kodiert. Auch der Zoll erhält keine Volldeklaration der Importe, sondern nur die Codes. „Sie dürfen aber alles durchleuchten.“ Vertragsbauern, die Gewürze in Trinidad anbauen, unterschreiben ein Geheimhaltungsdokument und dürfen für niemand anderen arbeiten. „Wenn wir die Formel veröffentlichen, würde massenhaft etwas Ähnliches zu einem viel niedrigeren Preis entstehen“, so Bharath.
So bleibt man auf die wenigen Eindrücke aus dem „Botanical Room“, dem Allerheiligsten von Laventille, angewiesen. Es riecht nach Sternanis, wo Rum und Botanicals in drei 45.858 Liter-Tanks gereift werden. Sie sind wie überdimensionale Angostura-Flaschen (inkl. dem Porträt des österreichischen Kaisers Franz Josef – der 1873 die Bitters mit Gold auszeichnete) gestaltet. Und die gesamte Weltproduktion entsteht in der kleinen Halle. Sie schwankt je nach Bedarf der globalen Barszene. „Angostura hat kein Ablaufdatum, was wir nicht gerne sagen, denn die Leute haben das dann zehn Jahre am Gewürzregal stehen.“ Wobei Trinidad, wo die Einheimischen gerne Obst, vor allem Äpfel, mit den Bitters würzen, nur einen Nebenschauplatz für den „Amargo Angostura“ darstellt.
Mehr Schutz für den Swizzle
Zum Finanzergebnis der diskreten Firma tragen die Rums am Heimmarkt weitaus mehr bei. Es sind dabei weniger die bekannten Exportqualitäten, sondern der hochprozentige „Forres Park Puncheon Rum“ (75% Vol.), der lokal geschätzt wird. Aktuell wird er auch als Basis eines Ready to drink-Punchs eingesetzt. „Fünf Prozent unserer Erlöse stammen aus dem Großhandelsbusiness mit Rum („bulk rum“), den Großteil macht der stark regionale Rumverkauf aus, die Bitters sind für rund 30 Prozent des Ergebnisses verantwortlich.“ Die Zahlen liefert der Chief Operating Officer Ian Forbes, der Jahrzehnte in Trinidads Getränkebranche (bei der Brauerei „Carib“) tätig ist. Und er macht klar, dass das Bittersgeschäft vor allem im Export blüht. Als Spitzenreiter gilt dabei die „Nelsen‘s Hall“ auf Washington Island/Wisconsin, die seit der US-Prohibition Angostura als „Shots“ verkauft. Angeblich sind es 30 Stück pro Tag, die dort über den Tresen gehen.
Unter die Ägide des „Chairman“ fiel auch die Erweiterung der Bitters um den Geschmack „Cocoa“. „Wir haben zum Glück immer noch Kakao-Bauern und wollten auch aus Umweltgründen diese lokale Produktion verwenden“, so Bharath. Weitere Flavours sind in absehbarer Zeit wohl nicht zu erwarten, denn die Beliebtheit des 200 Jahre alten Original-Angostura macht man in Trinidad auch daran fest, „dass er der vielseitigste ist und Drinks eben nicht in eine bestimmte Geschmacksrichtung treibt“. Apropos Cocktail: Aktuell versucht man auch, den Queen’s Park Swizzle in seiner Rezeptur schützen zu lassen. Der Signature Cocktail mit Angostura „soll als Marke weltweit registriert werden“. So wie es Pusser’s mit dem Painkiller oder Gosling’s mit dem Dark `N Stormy gelungen ist.
Bitter-Sammelstück in Gold
So weit ist es noch nicht. Und zuvor spricht Angosturas Top-Management zum „200er“ sogar über Zutaten! Denn für die in Schwarz-Gold gehaltene Jubiläumsedition des Bitters wurden Wermut, Muskatnuss und Angelikawurzel verwendet; die Basis der um rund 60 Euro gehandelten Limited Edition (120.000 Flaschen) stellt zudem dunkler Rum dar. Flankiert wird die 0,2 Liter-Flasche von einem Geburtstagsrum, der „Cusparia“ heißt. Seine einzelnen Komponenten sind allesamt mindestens 21 Jahre alt. Der 47% Vol. starke Rum reifte in Bourbon-, Madeira- und Cognac-Fässern. 1.824 Flaschen davon erinnern an Siegerts Geniestreich vor 200 Jahren.
Auch so kann man sich Jahreszahlen merken.
Credits
Foto: Angostura; Roland Graf