Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung rät zu komplettem Alkoholverzicht. Wir nicht.
Es mag Zufall sein oder eine Botschaft des Unterbewusstseins: Just an jenem Tag, an dem die Nachricht die Runde macht, dass die Deutsche Gesellschaft für Ernährung die Empfehlung ausgibt, aus gesundheitlichen Gründen völlig auf Alkohol zu verzichten, stolpere ich auf Netflix über den Film Babylon.
Der Streifen mit Brad Pitt, Margot Robbie und Diego Calva in den Hauptrollen spielt in der Entstehungszeit von Hollywood, in der Ära zwischen Stumm- und Tonfilm, als Tinseltown im Begriff ist, die Welt und vor allem ihre Vorstellung davon zu prägen. Babylon beginnt mit orgiastischen Szenen und einer omnipräsenten Ausschweifung, wo alle Protagonisten stets ein Glas in den Händen halten oder mit ihren Nasen in Kokainbergen stecken – und das durchaus gut recherchiert: Stummfilmstar Brad Pitt bestellt seinen Corpse Reviver mit Gin, Zitrone, Triple Sec, Kina Lillet und einem Dash Absinth. Akkurat!
Was für eine intensive Zeit, denke ich dabei, und muss, während Brad Pitt seinen Cocktail wegkippt, Margot Robbie kurz vor ihrer Entdeckung vom Noname zum Star über die Tanzfläche fegt und der Dienstbote Diego Calva eine bewusstlose Prostituierte mit Überdosis durch die Hintertür schmuggelt, indem er durch die Vordertür einen Elefanten spazieren lässt, an die Botschaft der Deutschen Gesellschaft für Ernährung denken – und weiter an einen Satz von Oliver Ebert, den er von sich gegeben hatte, als Bars zur Pandemiezeit längeren Lockdowns als andere Branchen ausgesetzt war: „Solange die Länge des Lebens über die Intensität des Lebens gestellt wird, hat die Bar stets das Nachsehen.“
Was ist schon intensiv?
Jetzt lässt sich schwer darüber diskutieren, was eine einzelne Person als „intensiv“ empfindet. Für manchen ist diese Intensität des Lebens die Ekstase nach einem Marathonlauf, für andere das Betrachten des Sonnenuntergangs auf einer Südseeinsel, für andere wiederum ein Selfie im Infinity-Pool in den Alpen und für andere wiederum pausenloser Sex. Ich bin in dieser Hinsicht etwas Old School, zugegeben, „intensiv leben“ ist für mich tendenziell etwas Ungesundes, Unvernünftiges, etwas, was ich vermutlich nicht 24/7 machen kann. Jedenfalls bedeutet es für mich nicht die nüchterne Wahrnehmung meiner morgendlichen Atmung.
Der Rat der Deutschen Gesellschaft für Ernährung ist dabei medizinisch zu sehen. Es geht um die physische Beeinträchtigung des Körpers durch Alkohol, nicht die psychische. Schon gar nicht ist das Positionspapier Gesetz oder eine Weisung; niemand verbietet, weiterhin Alkohol zu trinken. Aber die Meldung passt wunderbar in den Chor, der lauter wird und Alkohol zunehmend reglementieren will. Schritt für Schritt, Meldung für Meldung, Statistik für Statistik. Auf europäischer Ebene werden Werbeverbote für Alkohol diskutiert, und geht es nach einigen Neo-Abstinenzlern, können die Bilder der Krüppel und Siechenden, wie sie auf Zigarettenschachteln zu sehen sind, nicht schnell genug auch auf Alkoholflaschen zu sehen sein.
Die Spirituosenszene steht – das muss man sagen – mit der Schippe durchaus Habacht am eigenen Grab. Die Pressemitteilungen des Bundesverband der Deuschen Spirituosen-Industrie (BSI) überbieten sich in letzter Zeit in Erfolgsmeldungen über die Aufklärungsmaßnahmen zu Alkoholkonsum, Spirituosenmarken setzen ein „Drink responsible“ selbstverständlicher unter ihre Kommunikation als ein Priester das Amen hinter das Gebet. Und da landauf landab zu lesen ist, dass die GenZ weniger Alkohol trinkt und sich lieber über einen fitten Körper definiert als über einen fetten Kater, drückt man alkoholfreie Destillate in sein Portfolio, die pur ungenießbar sind und die Textur von Hühnerbrühe haben.
Korken und Katapulte
Mal abgesehen davon, wie leicht Alkoholverbote vermutlich von populistischen, rechten Parteien politisch ausgeschlachtet werden („Jetzt nimmt uns der woke Wahnsinn auch noch das Bier und den Schnaps!”), muss man sich fragen, wie weit eine Gesellschaft diese Grenzen verschieben will. Keine Frage: Keinen Alkohol zu trinken ist sicher das Gesündeste für einen Menschen. So wie es wahrscheinlich das Sicherste ist, gar nicht erst auf die Straße zu gehen. Aber wenn alles böse ist, was nicht lebensverlängernd sein könnte, ist der Bevormundung Tür und Tor geöffnet. Dieser Text hier soll dabei niemanden verführen, Alkohol zu trinken, und er argumentiert auch nicht, das Leben werde besser mit Alkohol. Aber diese zunehmenden Behauptungen, das Leben sei besser und gesünder ohne Alkohol, ist so kurzsichtig wie einfallslos. Wir leben in einer Welt, in der Elon Musk Donald Trump auf seiner eigenen Social Media-Plattform interviewt, während ein paar tausend Kilometer entfernt Ramsan Kadyrow mit den Worten „Danke, Elon“ ein Maschinengewehr auf einen Tesla-Truck montiert, bevor er Wladimir Putin umarmt. Ich brauche gelegentlich einen Drink, um zu verarbeiten, dass die Realität die Groteske von Cyperpunk-Romanen längst eingeholt hat. Sollte das lebensverkürzend sein – dann weniger als das, was diese Inbegriffe des Toxischen mit der Welt im Sinn haben.
Als Menschen sind wir nun mal auf gewisse Katapulte angewiesen, die uns in ein anderes Ich schießen. Die wenigsten Schamanen haben sich mit Kamillentee in den Kontakt mit den Göttern gebeamt. Selbst Simone Biles hat ihre olympischen Goldmedaillen von Paris mit so viel Tequila gefeiert, dass sie am Tag danach von sich gegeben hat, niemals wieder Alkohol anzufassen. Wer kennt dieses Bedauern nicht! Der Stabhochsprungstar Armand Duplantis stand einen Tag nach seinem Weltrekordsprung von Paris verkatert Rede und Antwort. Trotzdem kamen sie nicht auf die Idee, mit alkoholfreiem Schaumwein aus der Manufaktur Jörg Geiger die Korken knallen zu lassen.
Vielleicht ist es auch hilfreich, dass just in diesem Moment Beyoncé, globale Mega-Ikone und Trendsetterin, keine wellnessbetonte No-ABV-Brand auf den Markt wirft, sondern eine Whiskeymarke namens SirDavis. Erstaunlich dabei ist auch der erste Satz der Pressemeldung: „Ich habe mich schon immer von der Kraft und dem Selbstvertrauen angezogen gefühlt, das mir das Trinken von hochwertigem Whisky gibt, und möchte mehr Menschen dazu einladen, dieses Gefühl zu erleben.“ BE-YON-CÉ! How could you?! Das sagt man doch nicht, dass Alkohol, der globale Todbringer, der Zerstörer von Existenzen und Inbegriff des menschlichen Eskapismus, einem Selbstvertrauen gibt! Schlechtes Vorbild!
Viel Zeit, um sich zu erinnern
Vorbilder sucht man auch in Babylon vergeblich. Der Film nimmt mit Fortlauf natürlich eine tragische Wende, denn die Zeit kriegt uns alle – und die, die vor ihr davonlaufen, umso heftiger. Die Frage ist jedoch, was man in den einzelnen Figuren des Filmes sieht; ist Brad Pitt ein selbstverliebter Narziss, der zu viel trinkt und sich die Pistole in den Mund steckt – oder jemand, der es nicht verkraftet, vergessen zu werden und kein Relikt werden will? Wäre der nicht zu greifenden, irrlichternden Margot Robbie mit Ruhe und Therapie zu helfen gewesen – oder weiß man, dass manche Menschen einfach dafür gemacht sind, grell zu leuchten und rasch zu verglühen?
Diego Calva hat es vom Assistenten kurzzeitig zum Produzenten geschafft, aber er hat Los Angeles vor zwanzig Jahren unter Todesgefahr verlassen. Am Ende ist er zurück und steht vor dem Eingang zu den Studios wie ein Tourist, bevor er sich zögernd in einen Kinosaal setzt. Was er dort sieht, sind die Bilder eines Farbfilms, in die sich vor seinem inneren Auge zunehmend Szenen aus seiner eigenen Erinnerung mischen. Tränen laufen ihm über die Wangen, er weint vor Ergriffenheit, vor Kummer und der Erkenntnis, was er verloren hat: diese Leidenschaft, diese Unschuld und, ja, diese Intensität.
Er repariert jetzt Radios in New York, hat Frau und Kind und trinkt nicht mehr. Vielleicht wird er aber jetzt 100 Jahre alt und kann sich noch lange an seine Tage in Hollywood erinnern. Denn wenn die Länge des Lebens über die Intensität des Lebens gestellt wird, hat man viel Zeit, sich zu erinnern.
Oder zu bedauern, was man nie hatte.
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Katrin Schray
Das Positionspapier der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) zum Thema Alkoholkonsum ruft zur kritischen Auseinandersetzung auf. Während es unumstritten ist, dass der Konsum von Alkohol insbesondere für gefährdete Gruppen wie Schwangere, Kinder und Jugendliche vermieden werden sollte, so scheint die einseitige Verurteilung des Alkoholkonsums in Maßen jedoch andere wichtige Aspekte außer Acht zu lassen.
Die Verarbeitung von landwirtschaftlichen Erzeugnissen wie Obst und Getreide zu alkoholischen Getränken ist tief in der Geschichte und Kultur Deutschlands verwurzelt. Diese Tradition hat nicht nur kulturellen Wert, sondern trägt auch wesentlich zum Erhalt unserer Landschaft bei. Die handwerkliche Herstellung von Alkohol sichert vielen Landwirten und Kleinbetrieben ihre Existenz. Durch den Anbau von Obstbäumen, die für die Herstellung von Bränden genutzt werden, oder den Anbau von Getreide für die Bierproduktion, wird die landschaftliche Vielfalt gefördert und erhalten. Diese Formen der Landwirtschaft unterstützen die Biodiversität und tragen zur Pflege der Kulturlandschaften bei, die ohne diese Anreize möglicherweise vernachlässigt würden.
Die DGE scheint mit ihrer ablehnenden Haltung gegenüber Alkohol in Maßen eine ideologisch gefärbte Position einzunehmen, die über die Zielgruppe der Gefährdeten hinausgeht und das Thema pauschalisiert. Es stellt sich die Frage, was mit den landwirtschaftlichen Erzeugnissen geschehen soll, wenn ihre traditionelle Verarbeitung zu Alkohol eingeschränkt wird. Eine alternative Verwertung dieser Erzeugnisse, wie zum Beispiel die Fütterung an Tiere, erscheint problematisch, insbesondere wenn parallel dazu die DGE eine weitgehend vegetarische Ernährung propagiert. Zudem führt der deutsche Lebensmittelhandel vermehrt Produkte aus europäischen Nachbarländern, was den Absatz heimischer Erzeugnisse zusätzlich erschwert.
Die Einschränkung des maßvollen Alkoholkonsums kann als Eingriff in die persönliche Freiheit gewertet werden, die in einer demokratischen Gesellschaft einen hohen Stellenwert hat. Es scheint ein Trend zu sein, dass bestimmte Gruppen ihre Vorstellungen auf die gesamte Bevölkerung übertragen wollen, was die Grundprinzipien der Demokratie infrage stellt. Demokratie bedeutet nicht nur Mitbestimmung, sondern auch Handlungsfreiheit im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben.
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die pauschale Verurteilung des Alkoholkonsums in Maßen durch die DGE die Bedeutung der kulturellen und wirtschaftlichen Aspekte ignoriert und die Handlungsfreiheit der Bürgerinnen und Bürger einschränkt. Es wäre wünschenswert, dass die DGE eine differenziertere Position einnimmt, die sowohl die gesundheitlichen Risiken berücksichtigt als auch die kulturelle und wirtschaftliche Bedeutung des Alkoholhandwerks anerkennt.
Alkohol und Bars sind tief verwurzelte Bestandteile unserer Kultur und Gesellschaft. Seit Jahrhunderten begleiten alkoholische Getränke wie Wein, Bier und Spirituosen gesellschaftliche Anlässe, Feste und Traditionen. Bars und Kneipen dienen als soziale Treffpunkte, an denen Menschen zusammenkommen, um Gespräche zu führen, Freundschaften zu pflegen und Gemeinschaft zu erleben. Sie sind Orte des kulturellen Austauschs und tragen zur Vielfalt und Lebendigkeit des gesellschaftlichen Lebens bei. Alkohol, in Maßen genossen, kann diese sozialen Bindungen stärken und ist ein Ausdruck von Tradition und regionaler Identität, der unsere Kultur bereichert.
Im Übrigen, für alle „Vorschreiber“ und Entwickler von „Positionspapieren“ zu diesem Thema: Es ist wissenschaftlich und medizinisch erwiesen, dass nicht jeder Mensch anfällig für Alkoholsucht ist. Die Entstehung einer Abhängigkeit hängt von einer Kombination aus genetischen, biologischen, psychologischen und sozialen Faktoren ab. Während manche Menschen aufgrund genetischer Veranlagungen ein höheres Risiko haben, eine Sucht zu entwickeln, bleibt der Großteil der Bevölkerung bei einem moderaten Konsum resistent gegenüber einer Abhängigkeit.
Vielleicht das hier einfach mal in den Fokus rücken: Handy- und Medienkonsum bergen ein deutlich höheres Suchtpotential bei Kindern und Jugendlichen als Alkohol. Während der Umgang mit Alkohol in jungen Jahren streng überwacht und reguliert wird, bleibt die digitale Abhängigkeit oft unbemerkt. Smartphones und soziale Medien sind allgegenwärtig und fördern durch ständige Verfügbarkeit und schnelle Belohnungssignale eine ungesunde Abhängigkeit. Diese führt zu Problemen wie Schlafstörungen, Konzentrationsschwierigkeiten und sozialen Isolationen. Es ist an der Zeit, den Fokus stärker auf das Suchtpotential digitaler Medien zu legen, um die psychische Gesundheit der jungen Generation zu schützen und ihre Medienkompetenz zu fördern.
Martin
Mur ist bewusst, dass ein Medium, welches sich mit Bar- und Trinkkultur auseinandersetzt, sich durchaus für den Erhalt davon einsetzt. Umsomehr erwarte ich, dass es ein kritisches Bewusstsein dafür gibt, mit welcher Substanz dies in den meisten Fällen einhergeht. Alkohol ist ein Nervengift, für dessen Konsum es eben keinen gesunden Wert gibt. Und dabei geht es dann eben nicht nur um die physiologische sondern auch psychische Wirkung.
Wenn dann allerdings in einem solchen Kommentar Alkoholkonsum mit auf die Straße gehen gleichgesetzt wird, dann fehlt mir jedes Verständnis.
Und wenn hier im Kommentar Alkohol samt seiner Industrie hier quasi zum Wirtschafts- und Naturschutzmotor stilisiert wird und grundsätzlich dessen Einschränkung als Ende unserer freiheitlichen demokratischen Grundprdnung, dann frage ich mich wirklich, ob dieses Medium hier uns seine Leser*innen noch das richtige für mich sind.
Verena
Es kommt wohl immer darauf an, wie man Geschriebenes verstehen WILL. Ich denke, der Schutz der (Entscheidungs-)Freiheit ist in unserem demokratischen System mindestens so wichtig, wie der Schutz der Gesundheit, denn letzterer sollte vor allem in der Eigenverantwortung liegen. In diesem Fall muss man wohl eher sagen, es wäre Bevormundung. Denn Alkohol ist erst ein Nervengift bei einer gewissen Konzentration im Blut.
Wenn wir im Leben nur noch auf höchstmögliche Sicherheit und geringstmögliche Eigenverantwortung zusteuern, dann wird das Leben in Deutschland nicht nur wahnsinnig teuer, sondern auch wahnsinnig kompliziert und langweilig
Markus Hund
Martin, es steht Dir frei, dieses Forum jederzeit zu verlassen. Wir brauchen Dich hier nicht! Ich jedenfalls werde Dir bestimmt keine Träne nachweinen.