Antwerpen: Du dunkles, stilles Juwel!
Brüssel mag die Hauptstadt Belgiens sein, das Zentrum der Entscheidungen. Aber fragt man die Antwerpener, ist schnell klar, dass diese Festlegung ein Konstrukt der Verwaltung ist. Antwerpen ist nicht nur die größte Stadt des Landes, sie ist auch das unangefochtene kulturelle Zentrum. Kein Weg führt vorbei an diesem Ort, der an jeder seiner Ecken Historie atmet.
Antwerpen ist eine stolze, alte Königin. Obwohl im Laufe der Jahrhunderte immer wieder geknechtet von Invasoren, von Deutschen, Österreichern und Spaniern, hat es doch niemand geschafft, ihre Würde zu brechen. Die Stadt ist nicht nur das Zentrum des globalen Diamantenhandels, sie ist auch selbst ein Juwel, das von manchmal vergangenem Glamour zehrt. Einst, in der großen Blütezeit Flanderns, war Antwerpen vielleicht die reichste Stadt der Welt, eine Hochburg des Handels, der Seefahrt, der Kunst, der Wissenschaft und des Glaubens. Und sie ist ein Schmelztiegel der Religionen, aus Katholizismus und Protestantismus, Judentum und Islam: Als Mahnmal der christlichen Wucht steht die Liebfrauenkathedrale in der Mitte der Stadt, und auch die Jüdische Gemeinde, die zu den größten Europas gehört, prägt bis heute das Stadtbild.
Trotz der zwei Weltkriege, die auf belgischem Boden verheerend gewütet haben, ist die Altstadt mit ihrem monolithischen, behäbigen Glanz fast gänzlich erhalten geblieben. Und die Einheimischen sind, man kann es nicht anders ausdrücken, geprägt durch einen großen Stolz, Teil dieser Festung der Kultur zu sein. Der große Identitätsmagnet Pieter Pauwel Rubens, der hier begraben liegt, scheint seine Hand wie einen schützenden, einenden Schirm über der Stadt gespannt zu haben, so oft begegnet er uns.
Zentrum der Betriebsamkeit
Und die Antwerpener sind geschäftig. Die Emsigkeit aus früheren Tagen, Rastlosigkeit und Fleiß, die Jagd nach Effizienz – sie alle sind nicht verschwunden. Die Stadt empfängt den Neuankömmling mit großem geschäftigem Trubel. Direkt vor den Toren des Centraal-Bahnhofs schickt sich die erste Armada an Diamantenschleifern und Juwelieren an, dem Fremden zu zeigen, in welcher Liga hier gespielt wird. Das Zentrum wirkt nur auf den ersten Blick wie beliebig, denn zwischen den großen Schaufenstern gesichtsloser Kettenretailer funkelt viel zu oft die Eigenheit der Stadt durch, die Individualität aus Reichtum und Geschichte.
Und obwohl Antwerpen von unzähligen Reisenden besucht wird, die es nach Geschichte und Kultur dürstet, hat die alte Königin es doch geschafft, ihre Kronjuwelen unter einer festen Decke von Unantastbarkeit gegenüber der entwürdigenden Faust des Mainstreamtourismus zu verwahren. Die Antwerpener wissen die Schönheit zu schätzen. Gilt das auch für einen guten Drink?
Jüdisches Understatement und eine leere Bar
Wir machen uns zunächst auf in den Südosten der Stadt, fort von der beliebigen Altstadtschönheit. Die Lange Leemstraat führt fast wie eine dünne Nabelschnur vom christlichen Zentrum durch das stolze, aber schlichte jüdische Viertel bis hin zum alten Hospitalgelände. In der Straße schwirren die Chassidim ihrer täglichen Tüchtigkeit nach, obwohl der Tag längst zur Neige geht. Doch in den Schatten der sich ausbreitenden Nacht liegt bereits der Silberstreif des nächsten Tages, und so laufen alte Herren mit Kippa auf dem Schädel dem neuen Tag bereits mit schweren Gemüsekisten entgegen, um ihre Stände zu bestücken, während die jungen Männer mit steifem Filzhut, langen Bärten und schwarzem Gehrock ihren Abendspaziergang machen. Das Viertel der orthodoxen Juden ist still, aber nicht leblos. Es zeigt die andere Seite der Stadt, die keinen Prunk braucht, um ihren Reichtum auszudrücken.
In der Mitte all dessen liegt das alte Krankenhausgelände. Die dortige Kirche hat man entkernt und in den ehemals sakralen Hallen einen Tempel des fleischlichen Genusses errichtet. Über zwei Etagen erstreckt sich das The Jane, das erst vor Kurzem seine Pforten geöffnet hat. Während im Restaurant der Hochküche gefrönt wird, zeigen wir Interesse für die Upper Room Bar, die sich rasch einen hervorragenden Ruf erarbeiten konnte. Leider zeigt sich hier die Kuriosität manch gehobener Gastronomie: man sei leider restlos ausreserviert in der Bar. Ja, auch am Tresen. Ob denn nicht vielleicht doch ein schneller Aperitif an der Bar möglich sei, fragen wir. Das ginge leider nicht, denn obwohl bislang noch so gut wie keiner der angemeldeten Gäste anwesend sei, müsse man doch auf die Reservierungslage Rücksicht nehmen. So kommen wir heute leider nur in den Genuss, uns die Räumlichkeiten und die Karte anzusehen. Die Upper Room Bar ist pure Eklektik, ist Flohmarktchic unter der vergoldeten Kuppel, sie ist gesichtslose Loungemusik neben einer sorgsam ausstaffierten Bar. Am Tresen bereiten sich junge Männer mit gekonnten Handgriffen auf den Abend vor. Die Karte verspricht einiges: der verantwortliche Barchef ist ursprünglich Koch, so dass es nicht verwundert, wenn hier offenbar Cuisine Style auf hohem Niveau praktiziert wird. Nach einem kurzen Plausch und ohne Drink müssen wir uns leider verabschieden, denn in dem leeren Raum, an der leeren Bar ist leider alles reserviert.
Wo bist Du, Stadt? Stille und internationale Volkstümlichkeit
Zurück auf der Straße stellen wir fest, dass sich die Geschäftigkeit der Stadt verzogen hat wie ein Nebel. Die Antwerpener ziehen sich am Abend zurück, die Betriebsamkeit wird weniger und die Stadt beruhigt sich. Wir machen uns auf Richtung des beliebten Ausgehviertels Zuid, aber nicht ohne einen Zwischenstopp in der Innenstadt einzulegen. Die Kathedrale thront wie eine Schutzheilige über der Stadt, wie ein Raumschiff, um das sich die Millionen Lichter versammelt haben.
Das De Vagant ist bis auf den letzten Platz gefüllt. Hinter diesem Namen verbirgt sich alles andere als eine Bar, aber dennoch etwas, das unsere Beachtung verdient, wenn wir uns dem Wesen der Stadt und des Landes annähern möchten. Das Vagant ist eine der ältesten Kneipen der Stadt. An den derben Tischen und dem urigen Balkentresen versammeln sich am Abend die Einheimischen und Expats, Reisende, Studenten und Geschäftsleute, die ihre Manschetten abgelegt haben. Alle Sprachen scheinen die engen Wände hier schon gehört zu haben, so suggeriert es zumindest unser Besuch. Und alle versammeln sich, um neben Bier der großen alten und neuen Nationalspirituose zu frönen, die gerade ihre Renaissance feiert: Genever. Über 200 Sorten des Brandes hält man hier bereit, flankiert von einer stattlichen Auswahl an Bier. Dem durstig Lechzenden bietet sich so eine babylonische Fülle an narkotischen Gedecken zur Entdeckung, Malz und Wacholder wohin man schaut, riecht und schmeckt. Zwischen krächzendem Punk aus den alten Boxen und dem Odem von verschüttetem Schnaps fühlt man sich hier wie im Zentrum der Stadt und ihrer internationalen Wurzeln. Gezügelter Exzess zwar, aber mit dem entscheidenden Hauch Anarchie inmitten jahrhundertealter von Calvinismus und Papsttum errichteter Mauern. Hier gibt es keine Fremden, sondern nur das Laster und die Ungezwungenheit.
Aufgeheizt vom Genever spülen wir uns selbst auf die leeren Gassen, auf der Suche nach mehr Wacholder. Zwischen dem Kopfsteinpflaster und den hohen, dunklen Wänden hallen unsere Schritte ebenso wider wie unser Atem auf der Suche nach mehr Wacholder. Aber: wo sind sie, die Menschen? Gefangen in ihren Häusern, ihren Autos, ihren Sorgen?
Im Viertel Zuid brennen die Lichter etwas heller. Die einfachen Gasthäuser wechseln sich ab mit teuren Restaurants und den in der Dunkelheit ermatteten Schaufenstern der Designerflagships.
2015 ist manchmal sooo 1999. Aber nur auf den ersten Blick
Wir finden den Wacholder im SIPS. Gegen Ende des alten Jahrtausends hat man hier eröffnet und gehört damit zu den ältesten Bars des Landes, in denen man sich der modernen Barkultur verschrieben hat. Die Einrichtung versprüht den Geist der Nullerjahre: hier mag man klare Linien in Pastelltönen. Trotzdem wirkt die Bar nicht steril. An den Tischen finden sich Dressmen im fortgeschrittenen Alter beim Champagner ebenso wir Damen in Moonboots und Übergangsjacke, die hier ihren Old Fashioned nehmen.
Neben vielen anderen Preziosen führt man hier vor allem Gin in Hülle und Fülle, die Zahl der Flaschen ist nicht zu erfassen. Außer den fünf selbst hergestellten Sorten, die stolz im Zentrum der Backbar glitzern, müssen es 150 oder mehr Flaschen voll gefangenem Aroma sein. So soll es zuallererst ein Gin & Tonic sein, um sich abzukühlen. Vollblutbartender und Mitinhaber Wouter Pieters kredenzt einen belgischen Filliers Barrel Aged, der liebevoll mit frischem Chili, Lorbeer und Wacholder ausstaffiert wird. Eine pikante Wärme untermalt die willkommene Erfrischung. Voller Begeisterung erzählt Pieters von der Produktion des eigenen Gins, woraufhin er zu einem White Negroni rät, um die eingeschlagene Aromenwahl beizubehalten. Die Komposition aus Gin, Suze Liqueur, Lillet blanc und Orange Bitters schließt nahtlos an den Starter an und bestätigt: hier weiß man, was man tut. Im Laufe unseres Besuches füllt sich die Bar immer mehr und der Bartender muss sich seinen anderen Gästen widmen. Zeit für uns, nach einer kraftvollen Fortsetzung zu suchen.
Direkt vor dem SIPS, am Gillisplaats, erinnert ein weißlich-stumpfer Triumpfbogen an eine gewonnene Schlacht. Im Regen setzt er einen leichten Glanz auf und weist uns mit seinem linken Pylon den Weg zur nächsten Adresse.
Wolkenbrüche und Aromenfeuerwerk
Nur eine Ecke weiter, am Gentsplaats, befindet sich mit Josephine’s Bar & Restaurant eine weitere bekannte und eingesessene Adresse der Stadt. Die Rush Hour scheint hier schon vorüber, die Hälfte der Tische ist bereits leer. Auch an der Bar ist reichlich Platz. So haben wir die volle Aufmerksamkeit von Dries Botty, Headbartender im Josephine’s (Botty hat das Josephine’s mittlerweile verlassen, d. Red.) und einer der prominentesten Vertreter der jungen belgischen Mixologenszene. Um zunächst beim Genever zu bleiben, empfiehlt er einen Asian Martinez, der in seiner aromatischen Wucht schier begeistert. Jonge Genever und Punt e Mes gehen mit Kümmellikör, hausgemachter Curry-Tinktur und Bitters eine tiefdunkel flackernde, komplex würzige und feinsüße Liaison ein, die mit Blauschimmelkäse à part serviert wird. Ohne Frage der flüssige Höhepunkt des Abends. Dazu wummert überraschend unkitschiger Jazz aus den Wänden, während draußen im Wolkenbruch nun endgültig die flandrische Welt ertrinkt. Diejenigen, die drinnen sind, haben Glück, denn der Schutz vor dem Regen wird im Josephine’s kombiniert mit unprätentiöser, aber eleganter Barkultur auf dem absoluten Stand der Dinge. So kann auch der zweite Drink, ein karbonisierter Boulevardier mit Steinpilz-infundiertem Bourbon, diesen Eindruck nur bestätigen: diese Bar ist auf der Höhe der Zeit und des Handwerks.
Wir machen uns erneut auf in die Mitte der Stadt. Rinnsale auf den schmalen Gehwegen begleiten unseren stillen Weg. Leider, so erfahren wir, schließen viele Bars und Kneipen bereits gegen Mitternacht. Zwei der angesehensten Bar-Adressen der Stadt, das Dogma und Cocktails at Nine am Lijnwandmarkt, öffnen ihre Tore ohnehin nur in der zweiten Wochenhälfte. Wir müssen uns also beeilen, wenn wir noch einen Drink möchten.
Direkt gegenüber der Kathedrale befindet sich mit der Appelmans Absintbar eine weitere auch unter Einheimischen sehr populäre Adresse. Man arbeitet mit einer saisonalen Karte und scheint die “fancy” trinkenden, aufgebrachten Touristen, die so manchen Tisch belagern, mit Gleichmut zu ertragen. Was wir nun – zumal in einer Absinth-Bar – definitiv brauchen, ist ein Sazerac. Klassisch mit Cognac zubereitet, erhalten wir einen potenten Zeitgenossen vorgesetzt, dessen aromatische Ballung und Komplexität zwar echte Größe besitzen, der aber, wie auch schon unsere vorigen Drinks, bestätigt, dass man in Belgien nicht nur auf süße Pralinen, sondern auch auf ein Tröpfchen mehr Zucker im Drink steht. Nichtsdestotrotz ein mehr als anständiger Sazerac. Hier, direkt im Schatten der Kirche, fühlen wir uns dem Himmel ein Stück näher. Da können auch die kreischend lachenden Damen an Tisch 14 nichts dran ändern.
Vom höchsten Gewölbe in die dunkelste Ecke
Vom Himmel gleiten wir, auf der verzweifelten Suche nach einem Nightcap, direkt in die Hölle: Het Elfde Gebod ist eine dreckige, dunkelfleckige, von Kerzen durchschwummerte Institution Antwerpens. Einerseits berühmt für seine deftige Küche, hat das bis unter die Decke mit christlichem Tand vollgetrashte Kleinod das zu bieten, was wir jetzt, zum Abschluss suchen: ein starkes Trappistenbier. Die Auswahl an heimischen Bieren ist berauschend und wir überlassen dem Wirt die Wahl. Mit dem Namen meint man, das elfte Gebot besage die Pflicht zum fleischlichen Genuss und zur Geselligkeit. Und in der Tat erfährt man hier wiederum die subkutan schimmernde Farbigkeit dieser auf den ersten Blick so polierten, zurückhaltenden Stadt. Vor und hinter dem alten, ranzigen Tresen tummeln sich Menschen, die man früher als Paradiesvögel bezeichnet hätte. Wieder unzählige Stimmen und Sprachen. Während draußen nur der Regen die Stille untermalt, tobt hier drinnen die laute Freiheit. Hier wird niemand ausgeschlossen. Das elfte Gebot Antwerpens: es gibt keine Fremden.
Die Nacht geht dem Ende entgegen. Antwerpen hat sich von einer äußerlich stillen, reservierten Seite gezeigt. Da jedoch, wo Leben ist, präsentiert es sich uns als offener und freier, als toleranter, traditionsbewusster und moderner Raum abseits gängiger Klischees. Statuen und bei Nacht beleuchtete Kirchen kann man vielerorts haben. Diamanten prinzipiell auch. Aber nicht diese spezielle Stimmung, diesen in sich ruhenden, unaufdringlichen und manchmal verqueren Genuss. Den bietet Antwerpen. Und mehr Bars werden mit Sicherheit kommen. Denn die Antwerpener trinken viel zu gerne, als dass sich das verhindern ließe. Ein besonderes Juwel.