Der Stolz der Gascogne: Ist die Zeit – endlich – reif für Armagnac?
Wer Armagnac als den „kleinen Cognac“ bezeichnet, bekommt in seiner Heimat Gascogne eins auf die Baskenmütze. Denn mit einiger Berechtigung ist dieser flüssige Anachronismus stolz auf sein Anderssein. So hat man auch für die Rückeroberung des Weinbrand-Terrains die Bar im Visier – mit White Dog wie beim Whisky. Kann die Übung gelingen? Und was ist Armagnac überhaupt genau? MIXOLOGY Online mit dem großen Dossier.
Vielleicht liegt es ja am Fluch der Schwarzen Eiche, dass der Armagnac nicht populärer ist? Als der Botaniker Jean Thore Anfang des 19. Jahrhunderts das Gebiet am Golf der Gascogne bereiste, erzählten ihm Einheimische, dass es Unglück brächte, die lokale Eiche zu fällen. Das Pech würde sonst an jedem Möbelstück oder Haus kleben, das mit der „Chêne Tauzin“ (Quercus pyrenaica) gefertigt wird.
Und was soll man sagen? Die meisten Armagnacs reifen ausgerechnet in der Schwarzen Eiche. Vielleicht stehen deshalb den gut 223 Millionen Flaschen Cognac, die 2021in Frankreich erzeugt wurden, lediglich drei Millionen Flaschen mit Armagnac gegenüber.
Stolz auf die Vielfalt
Man kann dieses Missverhältnis mit Mexiko und seinen Agavenbränden vergleichen. Wie auch der Mezcal als „kleiner Bruder“ des Tequila stellt nämlich der Armagnac den älteren und deutlich handwerklicher geprägten Weinbrand dar. Mehr noch: Er ist die älteste urkundlich erwähnte Spirituose Frankreichs überhaupt! Kardinal Vital du Four schrieb dem Destillat aus der Gascogne bereits Anno 1310 positive Eigenschaften zu – allerdings ging der Autor in pro conservanda sanitate noch von Rotwein als Ausgangsmaterial des Brands aus.
Heute sind es aber weiße Rebsorten, die für den Geschmack der Destillate aus der Gascogne sorgen. Zehn von ihnen sieht die AOC-Bestimmung für den Weinbrand vor, mit 75% macht die aus dem Cognac bekannte Ugni-Blanc-Traube den Löwenanteil der Produktion aus. Die sentimentalen Favoriten der Brenner:innen sind allerdings zwei andere. Die Folle Blanche, die mit einem Prozent der Anbaufläche ähnlich marginal ist wie Jurançon Blanc, la Blanquette, Mauzac Blanc bzw. Rosé, Clairette de Gascogne, Meslier Saint François oder Plant de Graisse. Allerdings war sie die traditionelle Rebsorte des Armagnac vor der Reblaus-Katastrophe des 19. Jahrhunderts. Den Grund erklärt ein Synonym der Traube, nämlich Piquepoul – unter diesem Namen kennt man auch den Grundwein des weißen Wermuts Noilly Prat. Die Säure macht auch einen exzellenten Wein zum Brennen aus der leider im Weinberg recht anfälligen Folle Blanche.
Armagnac ist der Geschmack der Gascogne
Abgelöst wurde sie von einer genuinen Züchtung der Gascogne, die aus der amerikanischen Wildtraube Noah und der Folle Blanche entstand: Baco. Sie ist mit 19% der Rebfläche ein wesentlicher Bestandteil in den Armagnacs von Traditionalisten und weitaus beliebter als die ebenfalls beim ungeliebten Weinbrand-Cousins der Charente eigensetzte Colombard-Traube.
Nur vier Prozent sind in der historischen Grafschaft Armagnac aktuell mit der zweiten wichtigen Cognac-Rebe bestockt. Die Brenn-Region erstreckt sich heute auf sechs Départements, für die Produktion des Armagnacs allerdings sind nur Gers, Landes und Lot-et-Garonne zugelassen. Brennen heißt also nicht gleich Produzieren. Um die verschiedenen Bezeichnungen noch zu komplizieren, teilt sich die Armagnac-Heimat nicht nur politisch, sondern auch weinbaulich. Der weitaus wichtigste Teil trägt den bescheidensten Namen: Bas-Armagnac stellt den westlichsten Teil dar und macht gut zwei Drittel der Produktion aus. Dagegen spielt das Haut-Armagnac kaum eine Rolle mehr – das Gebiet mit seinem Beinamen Armagnac Blanc (aufgrund der kalkigen Böden) wurde auch erst zu Zeiten der enormen Nachfrage im 19. Jahrhundert als Anbaugebiet hinzugenommen.
Die klassische, fruchtige Qualität des Weinbrands verdankt sich aber den sandigen und Eisenoxid-haltigen Böden des Bas Armagnac, den so genannten sables fauves. Der Mittelteil des Anbaugebiets wiederum nennt sich Armagnac-Ténarèze und weist Anteile an beiden Terroirs auf.
Ich kenne kein Alesia …
Leider erinnert auch das ein wenig an die verschiedenen Terroirs der Charente. Ja, die stolzen Gascogner hassen den ewigen Vergleich so wie Asterix-Gallier die Erwähnung von Alesia. Doch von außerhalb muss man sich dennoch über die Unterschiede des bescheidenen Winzerbrandes Armagnac zum 3,6 Milliarden Euro schweren Cognac-Business herantasten.
Eine Unterscheidung liegt bereits in der Arbeitsstruktur hinter dem Destillat. 733 Winzer zählt man in der Gascogne, von denen 682 als producteurs actifs geführt werden. Historisch üblich war nämlich stets das Destillieren direkt am Hof. Anders als in der Charente, wo die Trauben an die großen Cognac-Brenner geliefert wurden, kam in der Gascogne der Brenner mit seiner Anlage sogar zu den Winzern (als bouilleur ambulant tut er das bis heute). Die Weinbauern der Gascogne führten meist gemischte Landwirtschaften und betrachteten das Destillat als eine Art agrarische Sparform. Schlechter wurde der Brand im Fass nicht. Und wann immer Geld benötigt wurde, kam einfach ein pièce zu 420 Litern auf den Markt.
Aus Sicht der Bar ist aber weniger das Wissen um das soziokulturelle Umfeld französischer Regionen spannend, sondern der Geschmack. Hier unterscheidet sich der auf zehn Rebsorten aufbauende Armagnac tatsächlich. Denn er entsteht in einer eigenen Form der kontinuierlichen Destillation, der alambic Armagnacais. Die 1818 von Sieur Tuillière entwickelte Brennblase besteht aus zwei Säulen, von denen die eine von oben mit Wein befüllt wird, der auch die Kühlschlange umhüllt. In der anderen werden über die Feuerung die hinübergeleiteten Weine destilliert, was über mehrere Böden erfolgt – der gasförmige Alkohol fängt sich dann in der Kühlschlange und tropft als Kondensat in den Auffangbehälter.
Amerikas Armagnac-Durst
Das führt dazu, dass man im Export kaum Marken kennt, denn hier kommt es zu einer Verengung des Angebots, wie man bei der französischen Handelskammer erfährt: 80% des Exportvolumens teilen sich die 15 größten Hersteller.
Wenn man also einen Vergleich für die Außenwirkung sucht, dann weniger beim Cognac, sondern beim Champagner. Auch hier prägen einige wenige große Marken das Image. Nur: In deren Schatten sind aktuell die handwerklichen Winzer-Champagner sehr gefragt. Vom Armagnac kann man das weniger behaupten. Hier muss man schon selbst auf die Suche in Frankreich gehen. Der Zeitgeist könnte allmählich aber auch zugunsten der Gascogner wehen, wenn man sich die Exportzahlen ansieht. Denn der wichtigste Markt in Übersee, die USA, legte von 2019 auf 2021 um 41% an Wert und sechs Prozent an Volumen zu. Dieses Wachstum hielt sogar während der Pandemie an, wie man in Frankreich betont: Der größte Sprung wurde von 2019 (70.330 Liter Reinalkohol) auf 2020 (73.340 Liter) verzeichnet.
Etwas schwächer zeigt sich der zweitstärkste Markt China, wo vor allem Covid Mengenverluste im Export brachte? Deutschland wiederum steht in Sachen Armagnac auf Platz sieben der Wert-Statistik (€ 754.726 Einfuhren im Jahr 2021). Im Nachbarland wird man allerdings eher als Sparfuchs wahrgenommen, denn bei der Menge ist man auf Platz vier zu finden. Die Zeiten waren aber bereits besser, denn im Langzeitvergleich ging die Menge seit 2012 um 28% des Volumens zurück.
Grain (The Door, Karlsruhe)
5 cl Darroze Armagnac 8 Jahre
3 cl Renner Rosé Verjus
0,5 cl Faude feine Brände Grüner Walnuss-Likör
1 Dash Salzlösung 4:1
5 cl Kessler Hochgewächs Chardonnay Brut
Zutaten (außer Kessler Brut) kaltrühren, auf einen Eisblock im Longdrinkglas abseihen und mit Kessler auffüllen. Mit karamellisierter Walnuss garnieren.
Easter
(Tristan Rainteau, Bar des Innovations, Paris)
3 Teile Laballe »Résistance«
1 Teil Himbeerlikör
6 Teile Champagner
Armagnac und Likör kaltrühren, in einen Tumbler auf Crushed ice abseihen und mit dem Champagner aufgießen. Mit einem Himbeerspieß garnieren.
Klein, langsam, leicht zu übersehen
Im Château de Lacquy, dem ältesten familiengeführten Hersteller, etwa handelt es sich um ein drei Tonnen schweres Kupfer-Ungetüm aus dem Jahr 1939, das mit einer 90 Meter langen Kühlschlange versehen ist: „Sie wird mit Holz befeuert und arbeitet sehr langsam, liefert also zwei bis drei Fässer pro Tag“, so Gilles de Boisséson. Auch anderswo liegt die Tagesproduktion bei nur zehn Fässern, die traditionell im Winter (und vor einem jährlichen Stichtag, der um den März liegt) befüllt werden.
Am Ende steht bei dieser Methode ein klarer Weinbrand mit 52 bis 60% Vol. Diese spezielle Destillationsart macht es daher auch möglich, dass bereits der ungelagerte Brand viel Frucht mitbringt. Tatsächlich wird er seit 2005 – unter einer eigenen Appellation d’Origine Contrôlée (AOC) geschützt – als „Blanche Armagnac“ vermarktet. Der Nachteil dieser althergebrachten Strukturen sind natürlich die kleinen Mengen pro Erzeuger, die auch in Summe keinen massiven Auftritt der Kategorie oder gar große Auslandsaktivitäten für den Armagnac zulassen.
Das unterstreicht auch die letzte vorliegende Statistik, jene für das Jahr 2020. Die insgesamt 2,8 Millionen Flaschen, die abgesetzt wurden, verteilten sich zu 1,26 Mio. auf Frankreich und 1,54 Millionen für den Export. Wer den Spirituosenmarkt kennt, weiß, dass solch ein Volumen bei anderen Destillaten locker von einem einzelnen Land weggetrunken wird. So aber verteilt sich diese Menge auf die gesamte Welt.
Der deutsche Wachküsser
Ein Mann, der an „amerikanische Verhältnisse“ und somit an die Wiedergeburt des Armagnac glaubt, kommt aber ebenfalls aus Deutschland: Alexander Stein. Ja, der Alexander Stein. Architekt des Welterfolges Monkey 47 und so etwas wie das Ein-Mann-Trendlabor von Pernod Ricard. Marquis de Montesquiou heißt der Hersteller, auf den er setzte. Und der gehört im wahrsten Sinne des Wortes zum Gascogner Adel – die Familie geht auf Charles de Castelmore Comte d’Artagnan zurück, das Vorbild für den berühmtesten literarischen Helden aus dem Armagnac-Land. Und man muss Monsieur Stein nur antippen, um ein Loblied auf die französische Spirituose zu hören: „Das ist eine Mega-Kategorie, eine der authentischsten Spirituosen der Welt mit einer klaren Verortung und krass unterschätzt. Es gibt tolle alte Destillate und eine Vielfalt an Rebsorten.“
Stein beließ es aber nicht nur bei Liebeserklärungen, er setzte eigenes Geld ein, um nicht nur die Marke und 600.000 Liter alten Stock bis zurück ins Jahr 1864, sondern auch das Schloss aus dem 12. Jahrhundert zu erwerben. Damit gibt es wieder einen nassen und einen trockenen Keller, der für die Reifung des Armagnac als de rigeur gilt. Alles, was es von Marquis de Montesquiou gab, wurde vom Markt genommen und soll nun „einer neuen geschmacklichen Vision weichen“. Es wird einen VS, VSOP und XO geben, ab Januar 2023 soll man die ersten Destillate auch kosten können. Technisch weicht Alexander Stein mit seiner Firma »JacobiSpirits« von den gesetzlichen Mindestlagerzeiten ab – nach oben hin. „Ein Jahr ist für VS viel zu kurz, bei uns werden es drei sein.“ Steins Vision davon ist ein fruchtiger Brandy, der auch schöne Vanillenoten aufweist, was ihn für die Bar interessant macht. „Man sollte meinen, dass ich genug Tonic gesehen habe“, lacht der Armagnac-Einsteiger, „aber ich mixe den sehr gerne als Highball damit.“
Der „Weiße“ für die Bartender
Vor allem eine neue Kategorie aus der Gascogne empfiehlt auch Sebastian Jäger, der für Kirsch Import die französischen Spirituosen betreut: „Genau für die Mixologen-Szene bieten Häuser wie Darroze sogenannte ‘Blanche’-Produkte, die sogar nach den einzelnen Traubensorten benannt sind. Dieser ungelagerte Armagnac, ist perfekt für Drinks“. So kommt in den Espresso-Martini-Twist der Old Fashioned Bar in Heilbronn der weiße Armagnac, in der Berliner heimlichTreu wird damit der „Le Blanche de la Maison“ gemixt – auf Basis von Darrozes „Blanche Ugni Blanc“. Del-Professore-Wermut, Merlet Trois Citrus und Verjus verbinden sich in der Restaurant-Bar mit dem französischen Destillat zu einem kräftigen Pre-Dinner-Drink. Überhaupt findet sich die Kombination mit der Traubensäure des Verjus öfter in den Armagnac-Drinks neuer Prägung.
Tatsächlich findet man auch in Londons Bars eine gute Auswahl an Armagnac, Simon-Pierre Desumer in der Berkeley Bar hat etwa gut sichtbar auch Jahrgangsabfüllungen in seinem Drinks Cabinet – im Luxushotel in Knightsbridge versteht man sich offenbar auf die Qualitäten des Destillats. Und der Mann aus dem Elsass promotet sie auch entsprechend, „da geht viel auf Empfehlung“, so Desumer. Auch ein paar Kreuzungen weiter am Haymarket, im angesagten Fallow, hat der Armagnac einen Propheten aus dem Mutterland: Marcus Basset arbeitet mit dem drei Jahre alten Château de Lacquy, den er zumeist pur serviert. „Das ist ein guter Abschluss nach dem Essen und meist besser und auch preiswerter als die großen Marken-Cognacs“, so der aus der Champagne stammende Bartender.
Auf Herstellerseite entspricht der Wiederentdeckung des ältesten Destillats Frankreichs eine Marke, die von drei Freunden in Arthez-d’Armagnac gegründet wurde. Armin nimmt auf die Namenslegende des Brands Bezug, die sich dem alten Namen einer Grafschaft verdankt, mit der Chlodwig I nach dem Sieg über Alarichs Westgoten seinen Kampfgefährten Armin belohnte. Dieses Lehen, lateinisch als Arminius bekannt, wurde im lokalen Dialekt zu Arminhac verschliffen. Doch mit Geschichte haben es Edgar Anagnostou, Edouard Boyer und Augustin Chatenet nicht so. Auf ihrem Armin-Label zeigt der Musketier seine nackte Kehrseite, die Bewerbung des knallroten Armagnacs erfolgt via Instagram, wo das Trio hochaktiv ist.
Auch bei Armagnac zählt die einzig wahre Fass-Stärke
Dieser modernen, vom Marketing getriebenen Seite des Weinbrands steht eine weitere Eigenschaft des Armagnac gegenüber, die zumindest Kenner hellhörig macht: „Produzenten, die mit alten Traditionen brechen und Single Casks abfüllen“, müsse man zwar erst finden, so Sebastian Jäger, „doch wir erleben gerade eine Renaissance, was diese Sparte angeht“. Vor zwei Jahren hat er für Kirsch Import die Gascogne durchforstet, um diesen handwerklichen Schatz zu heben. Denn einmal mehr steht der halb vergessene Armagnac für etwas, von dem die Spirituosenszene heute schwärmt – die Fass-Stärke.
Der Ausdruck selbst, in seinem Heimatland als brut de fût bekannt, trifft in der strengen Auslegung nur auf den Armagnac zu. Denn während bei anderen Bränden meist unter der eigentlichen Brennstärke ins Fass gegangen wird (etwa mit 67% Vol., einem Standard bei Whisky), kommt der Armagnac mit den 53% Vol. ins Eichenholz.
Als Richtwert verliert er rund zehn Prozent Alkohol über 25 Jahre in der Gascogne und wird daher in der Regel nicht mehr mit Wasser verdünnt bei der Abfüllung. Diese echten Fass-Stärken mit beachtlicher Reifedauer sind eine der Stärken des Armagnacs, der Jahrgangsabfüllungen neben den Cuvées aus mehreren Chargen kennt.
Nur entdecken müsste sie halt jemand. Und den Fluch der Schwarzen Eiche brechen.
Credits
Foto: Tim Klöcker