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Artesian Remy Savage

Das Artesian „von“ Remy Savage: Minimalismus bis zur Schmerzgrenze

Der Stil hat sich geändert im Londoner Artesian: Wurden Alex Kratenas Cocktailkarten präsentiert wie Mode-Kollektionen, startet Remy Savage leise. Der „Neue“ aus Paris setzt nach unruhigen Zeiten im Londoner Langham auf Minimalismus, subtile Drinks und optische Tiefstapelei.
Eines muss man der mehrfach zur besten Bar der Welt gekürten Trinkstätte am Portland Place lassen: Der Besuch fühlt sich immer an wie ein Ankommen zu Hause. Die riesigen Holzlampen – Marke nordische Eingangshalle – sowie das bläuliche Zwielicht haben sich nicht verändert. Die Kreativität fließt weiterhin in die Cocktailgestaltung, die seit seinem Antritt im November 2017 der ehemalige Startender des Little Red Door in Paris verantwortet.
Remy Savage, amtierender „Bester Europäischer Mixologe 2018“, hat diese „Ingressionserfahrung“ auch gleich für einen Coup genutzt, der die Tonalität für den Abend vorgibt. Neben dem Wasser-Service gibt es einen Willkommensdrink, der aus einem Gläschen trockenem Wermut mit Gurken-Cordial und einem Hauch Chartreuse besteht. Er wirkt wie eine flüssige Olive und wird von einigen Stammgästen sogar in Drink-Größe nachgeordert.

Die Geschichte schmeckbar machen

Viel Zeit hatte das neue Artesian-Team um Remy Savage allerdings nicht, um mit einer Neukonzeption zu landen. Einen Monat nach ihrer Einstellung sollte das 14 Cocktails umfassende Buch auch schon aufliegen am Tresen. Mit den ledergebundenen „Cause, Effect & Classic Cocktails” werden also einige der ikonischen Drinks der Bar-Geschichte neu interpretiert – wie Remy Savage es ohnehin gern tut. Dass man damit immer noch überraschen kann, wenn man in Uni-Jahren mit Analytischer Philosophie traktiert wurde, zeigen vor allem die simplen Rezepte des mit Jugendstil-Illustrationen geschmückten massiven Barbuchs.
Die ein wenig physikalisch anmutende Herangehensweise will die Herkunft, Reifung und Vorbereitung der Zutaten auch im Drink spürbar machen. Es wurden aber keine Labor-Cocktails oder molekulare Spielereien. Minimalismus bis an die Schmerzgrenze regiert in den filigranen Gläsern, die in der Regel ohne jegliche Garnitur zum Gast kommen. Wer nach Analogien sucht, kann hier gerne das reduce to the max erkennen und Remy Savage nicht nur beim Haarschnitt als Steve Jobs des Cocktails ansprechen. Letzteres war aber beim Besuch nicht möglich, da der Vater einer Tochter einen familienfreundlichen Kontrakt – mit zwei freien Tagen – ausgehandelt hat.

All Star-Team und Elternzeit

Mit seinem Londoner All-Star Team, das u. a. aus der Beaufort Bar des Hotel Savoy (Anna Sebastian als Bar-Managerin), dem Connaught (Bartender Ron) oder dem Happiness Forgets (Kellnerin Rebecca) rekrutiert wurde, läuft der Laden auch in seiner Abwesenheit rund.
Allerdings fremdelt Cocktail-London offensichtlich noch mit dem „Neuen“ – die Hotelgäste sind im nicht ausreservierten Bar-Raum in der Überzahl. Dabei verpassen die Locals hier einiges, wenn man sich etwa auch auf den süßesten Drink des neuen Menüs einlässt. Der klassische „Japanese Cocktail“ erhielt von Remy Savage eine Pistazien-Kur, dem noblen Ambiente des 153 Jahre alten Hotels angemessen, natürlich aus dem italienischen Brontë. Auch ohne Orgeat ergibt sich ein Nachklang von Mandelmilch in der Jerry-Thomas-Kreation; die röstige Note anstelle der reinen Sirup-Süße stört da keinesfalls.
Wenn sich auch der in der Beliebtheitsskala nie zum „Einser“ aufschließende Corpse Reviver No. 2 auf der Karte findet, ist das ein Gag für Kenner, stammt das Original doch wie Remy aus Paris. Mit Rezepturen wie diesen kann man natürlich gut spielen: Es wurde ein 2010er Barolo, der dem Calvados von Drouin und dem Cognac gleichsam „Baroli“ bietet. Das echte Juwel bei unserem Besuch stellt allerdings jener Drink dar, von dem man es sich am wenigsten erwartet hätte.

Das Artesian und die „Entschleimung“ des Screwdrivers

Der neue Screwdriver der Artesian Bar schafft zunächst einmal das Kunststück, dass in einem Pisco-Drink mehr Vodka-Charakter durchschimmert als in den meisten mit Vodka gemixten Variationen. Dass der alte Langeweiler hier aber einen Kasatschok hinlegt am Gaumen, liegt daran, dass das Artesian-Team endlich das Hauptproblem dieses Longdrinks beseitigt. Kein Orangen-Trub setzt sich ab, kein breiiges Mundgefühl, wie es für „echten“ Orangensaft unvermeidlich scheint, findet sich in dem schmucklos servierten Glas. Drei Orangensäfte – handgepresster, zentrifugierter und slow-juice – ergeben nicht nur die perfekte Süße, sondern auch einen unglaublich süffigen „Screwdriver“, der zarte, grüne Noten vom Kappa-Pisco erhält. Ein echtes Prunkstück!


Ähnlich spielt man mit der Drei-Zahl auch bei der Paloma (mit dreierlei Grapefruit), dem Martini (Oliven-Vergleich, bitte!) und dem Gimlet, der fürs erste wirkt wie ein flotter Teelicht-Dreier im Eisblock-Halter. Doch für jedes der Shotgläser wurde mit einer unterschiedlichen Limette gearbeitet. Mexikanische, japanische und italienische Zitrusfrüchte liefern drei Cordials, die von zestig-sauer über balanciert bis fruchtbetont reichen. Für den Hotelgast sind solche Feinheiten mitunter verschwendet, doch nach wie vor fließt auch viel Champagner in der Bar.

Nichts für Smartphonolics: Zuhören hilft!

Diese Cocktails bedürfen einer entsprechenden Erklärung, die etwa den sinistren Anwerber von Küchenpersonal für Katar am Nebentisch weniger interessiert. Dafür mag er den Burger im Langham. Man kann den Espresso Martini des Hauses als relativ dünn empfinden, oder aber der Geschichte von den drei Phasen des Kaffees – grüne Bohne, geröstet und zubereitet – lauschen. Den Kern bildet ein karbonisierter Cold Brew eines extra kräftig gerösteten Kaffees, als Sidemen fungieren Kaffeesirup von ungerösteten Bohnen und „medium” gerösteter Kaffee. Dass der Drink hier geworfen wird, soll im Ergebnis eine zarte Crema ergeben, die man schlürft wie aus der Tasse. Solcher Detailreichtum ist es, der die subtilen Kreationen auszeichnet.
In einigen Punkten darf man dem Begleittext zu „Cause, Effect & Classic Cocktails“ aber auch widersprechen. „No detail, however small, has been overlooked” mag für viele der Signature Drinks gelten, beim Anpassen des Eisbrockens in der drei Zentimeter hohen Coupette darf aber noch nachgearbeitet werden. Das Eis in seiner Schönheit kommt aus dem Keller und wird per Metallkübel nach oben transportiert – die händische Weiterverarbeitung ist obligat. Der „Titanic-Moment“, in dem bei jedem Schluck erneut der Eisberg auf den Gast zuschlittert, verlangt allerdings nach einem Nasenschützer.

Artesian-Neuanfang mit optischer Tiefstapelei

Für die Gesamtaufstellung der neuen Artesian zählt aber nicht dieses kalte Detail. Vielmehr darf man konstatieren: Der Hype ist vorbei. Der Neuanfang erfolgt im schmucklosen Reformkleid, die Materialschlacht findet in der Prep-Kitchen statt, nicht mehr im Serviermodus. Das zielt auf seriöse Trinker, weniger auf Mobiltelefon-mit-Gucci-Cover-Besitzer. Übrigens, man hat auch die Preise nach unten bewegt. Ab 17 Pfund – so viel kostet der Corpse Reviver No.2 – gibt es die optisch tiefstapelnden Kreationen von Remy Savage. Möge die Übung gelingen!

Credits

Foto: Titelfoto Remy Savage: © Michael Weber; Fotogalerie: Artesian Bar/The Langham Hotel

Comments (1)

  • Flo

    Danke dir Roland für diese schöne Besprechung. Werde mir das neue Artesian bei meinem nächsten London Besuch anschauen. Ich denke es wird jetzt mehr nach meinem eigenen Geschmack sein. Viele Grüße. Florian

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