»Home Brewed Wines and Beers and Bar-tender’s Guide«: Ein Bar-Buch aus der Prohibition
» Das Frühstücksbierchen hat seinen guten Ruf gänzlich verloren. Es scheint fast, als würde nur noch in der Kirche bei der Arbeit getrunken.«
Unfassbar ist es, wie weit sich der Alkohol mittlerweile aus dem Alltag zurückgezogen hat. Die Bauarbeiter prosten sich mit Bionade zu. Nüchterne Polizisten reagieren missmutig auf nicht-nüchterne Nicht-Polizisten. In den Cafés wird Kaffee getrunken; das Frühstücksbierchen hat seinen guten Ruf gänzlich verloren. Es scheint fast, als würde nur noch in der Kirche bei der Arbeit getrunken.
Und was ist die Folge? Man grüßt den Nachbarn mit verkniffenem Lächeln, anstatt ihm an die Wohnungstür zu pinkeln, wie er es verdient hätte. Man gibt dem Bettler am Straßenrand nix anstatt 100 Euro, was bestimmt jemand mit dem Handy aufgenommen und ins Netz gestellt hätte, und dann wäre es viral gegangen und man wäre gefeiert worden, weltweit, aber das Lächeln im Gesicht des armen alten Mannes wäre ja Dank genug gewesen. Ohne Chantré kann der Französischlehrer die Sprache plötzlich gar nicht mehr so gut. Und ständig lebt man in der Furcht vor Chirurgen mit zittrigen Händen.
Der „Home Brewed Wines and Beers and Bartender’s Guide“
Wie immer war früher alles besser. Ein wunderbares Beispiel für die harmonische, gar symbiotische Verflechtung von Alkohol und Alltag bietet der „Home Brewed Wines and Beers and Bartender’s Guide“, der in verschiedenen Varianten etwa um 1930 herum, also in der letzten Phase der Prohibition, in den USA erschien.
Nun mag man einwenden, dass die Prohibition nicht gerade als Musterbeispiel für die Verflechtung von Alkohol und Alltag dient, aber, nun ja, das ist tatsächlich ein rein theoretischer, praxisferner Einwand. „Home Brewed Wines and Beers and Bartender’s Guide“ bietet alles. Zuvorderst natürlich Kenntnisse darüber, wie man daheim Wein und Bier braut. Kenntnisse, die laut Autor beklagenswerterweise über die Zeit hinweg verloren gingen; aber ganz offenbar war die Prohibition Anreiz genug, das Wissen der Altvorderen wieder zutage zu fördern. Da füllte jemand lange vor der UNESCO den Begriff „immaterielles Kulturerbe“ mit Leben.
Und sehr gründlich wird da vorgegangen! „Das Geheimnis des Erfolgs liegt in der Verwendung guter Grundstoffe, im akkuraten Maß derselben, in der Einhaltung völliger Reinlichkeit bis ins letzte Detail hinein und darin, den Prozess nicht übereilen zu wollen.“ Der Mixologe von heute schnalzt anerkennend mit der Zunge. Wenn kurz darauf der Hinweis erfolgt, dass sowohl Fass als auch Badewanne bitte schön recht sauber zu sein hätten, stutzt der Mixologe ein wenig, Aber da man natürlich nicht will, dass der neue Blaubeerwein nach der Oma schmeckt, nimmt man den Ratschlag als zweckdienlich und zielführend zur Kenntnis.
» Das Gin-Rezept, das auf einer Basis von 100 Gallonen Neutralalkohol aufbaut, ist selbst für den fortgeschrittenen Königshausgebrauch üppig angelegt. «
Aus wenig Jamaika-Rum viel Jamaika-Rum machen
Die gezeigten Liköre und Fruchtweine unterscheiden sich nun gar nicht so sehr von dem, was unsere Omas so im Keller eingelagert hatten. Andere Produkte lassen jedoch schon im Namen den Zweifel an der Trinkbarkeit wachsen: „British Champagne“ etwa. Da werden zwei Vokabeln zusammengeführt, die niemals nebeneinander stehen sollten. Der Leberkäs Hawaii der Getränkehistorie.
Auch das „Cheap Beer“ aus Erbsenschoten und Salbei wird hoffentlich heute, bei allem Preisbewusstsein, nicht zu viele Nachahmer finden. Und wenn Rezepte mit Schwefelsäure und Terpentin arbeiten, dann sollte man dem nun auch nicht zwingend mit unschuldiger Neugierde begegnen.
Nun sind die Rezepte auch eher nicht so dimensioniert, dass die anfängliche Legende vom „was die Hausfrau früher wusste“ aufrechterhalten werden könnte. Das Gin-Rezept, das auf einer Basis von 100 Gallonen Neutralalkohol aufbaut, ist selbst für den fortgeschrittenen Königshausgebrauch üppig angelegt. Der Tipp, abgestandenen Wein mit fünf Pfund Zucker je 100 Gallonen wieder zum Leben zu erwecken, wird auch für veritable Trinkerhaushalte großzügig bemessen sein. Und die Anleitung, wie man aus wenig Jamaika-Rum ganz viel Jamaika-Rum macht, ist auch dem nachsichtigsten Zöllner schwerlich als „für den Eigengebrauch“ zu vermitteln.
Die darauf folgenden Cocktailrezepte sind entsprechend: gerade mal sechs Seiten, aber eng bedruckt, immer noch viele Punches für 1930, aber dennoch auch einiges neu zum alt. Natürlich gibt es auch hier den Tom and Jerry, und selbst der Blue Blazer ist nach wie vor vertreten: vielleicht liegt in dessen Ubiquität ja auch ein sozialdarwinistischer Erklärungsansatz für den hohen Standard der frühen Bartender – die schlechten sind einfach alle verbrannt.
Die Definition des Cocktails wird nicht päpstlich genommen
Manches ist aber schon ein wenig absonderlich. Es gibt einen Tom Collins, aber als Tom Collins Brandy, und der wird wiederum mit Whiskey gemacht. Der Manhattan kommt mit trockenem Wermut, wird dafür aber ordentlich nachgezuckert. Schön, einen Jersey Sour zu sehen, der ja auf Applejack basiert; weshalb aber eine Seite zuvor das im Grunde gleiche Rezept für einen Apple Jack Sour angeführt wird – dieses Geheimnis hat der Autor wohl mit ins Grab genommen. Es gibt auch ein „Rezept“ für Bénédictine, das darin besteht, ein Whiskeyglas verkehrt herum hinzustellen, worauf dann ein kleines Glas mit Bénédictine kommt. Fertig. Eine Stufe des FlairBartendings, an die ich mich an einem guten Tag heranwagen könnte.
Überhaupt wird das mit dem Cocktail und seiner Definition nicht allzu päpstlich gesehen, sondern eher der kleinste gemeinsame Nenner im Zusammenmischen von irgendwas angenommen. So gibt es eine „Diarrhoe Cure“ (Pfirsichschnaps, Brombeerschnaps, Muskatnuss plus sowas wie ein früher Klosterfrau Melissengeist) und auch einen „Manhattan Oyster Cocktail“: letztlich hauptsächlich Zitrone, Essig, Tabasco, und damit isst man dann halt seine Auster. Aber ein Shrimp Cocktail wird ja auch gelöffelt.
Das Ganze ist schon ziemlich Kraut und Rüben, aber eingedenk der Verhältnisse, mit denen sich der kleine Heimdestillateur im ersten Kapitel arrangieren muss, bleibt man mit Kraut und Rüben schon im adäquaten Bild.
» Der Katalog bietet irgendwie so ziemlich alles. Juckpulver, Schundromane, Zaubertricks, Wahrsagekarten, Kugelschreiber mit nackigen Frauen drin, Mundharmonika lernen in fünf Minuten, Vogelpfeifen, Einführung in die schwarze Magie. «
Bücher in der Prohibition müssen erfinderisch sein
Und es wird noch besser. Wie, noch besser als Erbsenbier und Durchfallschnaps, fragt der ungläubige Leser? Sprich, oh Autor, spanne uns nicht auf die Folter! Aber hallo. Der Produzent des Buches, die Johnson Smith Company aus Racine, Wisconsin, hat den letzten und größten Teil des Büchleins einem Anzeigenteil gewidmet, der schon, sagen wir, etwas speziell ist. Die Art von „speziell“, die Eltern (und ausschließlich Eltern) als Begriff verwenden würden, um die Absonderlichkeiten ihres missratenen Nachwuchses zu bezeichnen.
Der Katalog bietet irgendwie so ziemlich alles. Juckpulver, Schundromane, Zaubertricks, Wahrsagekarten, Kugelschreiber mit nackigen Frauen drin, Mundharmonika lernen in fünf Minuten, Vogelpfeifen, Einführung in die schwarze Magie, undundund. „Craptastic“ wäre der passende US-Neologismus, oder, auf Deutsch, Gelumpe en gros und en detail. Sogar Feuerwaffen findet man im Katalog, echte natürlich, vom „Baby Revolver“ für sechsfünfzig bis zur „Liberty Automatic“ für neunfünfzig.
Man hat da Maskulinität „in a nutshell“, wie es drüben so schön heißt. Schnaps, Schweinekram (also, puritanischen US-Schweinekram), Knarren. Alles, was das Männerherz begehrt.
Wehmütig trauert man jenen Zeiten nach … vergangen und zu Staub zerfallen … oder nicht? Tatsächlich gibt es die Johnson Smith Company heute immer noch, mit dem im Grunde gleichen Geschäftsmodell. Zwar ohne Heimbrauereiangebote, aber mit dem ganzen Potpourri aus witzigen, spaßigen, mehr oder minder praktischen Dingen, die die Welt nicht braucht. Wenn man bedenkt, wie viele große und namhafte Firmen dieser Zeit untergegangen sind – die Johnson Smith Company nicht. Dank des Kamms, der die Haare zum Wachsen bringt, und dem T-Shirt, wo draufsteht, „ich bin gar nicht besoffen, du bist verschwommen“.
Man sollte nun mit Robert Gernhardt schließen: „Dich will ich loben, Hässliches, Du hast so was verlässliches …“