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Aviation Cocktail Geschichte & Rezeptur

Vom Aufstieg und Fall des Aviation Cocktail

Der Aviation Cocktail aus Gin, Zitrone, Maraschino und Crème de Violette war ein Referenzdrink der Bar-Renaissance. Bevor er einem größeren Publikum richtig bekannt werden konnte, haben viele Bartender ihn wieder von der Karte gestrichen – warum, lässt sich nur schwer erklären.

»Der Aviation Cocktail war spritzig, frisch, säuerlich und leicht, gleichzeitig hatte er schlicht durch seine Zutaten etwas an sich, das ihm in der professionellen Szene immense Street Credibility gab.«

Mit der Wiederentdeckung des Aviation Cocktail Anfang des Jahrtausends durch die wieder auflebende Barkultur war es ein bisschen so, wie man das früher mal von jenen Nerds kannte, die auf Schallplattenbörsen und Flohmärkten nach längst vergriffenen Bootlegs oder Sonderpressungen bekannter Alben suchten. Eine B-Seite, wenn man so will.

Aviation ist spritzig, frisch, säuerlich und leicht

Die junge, neu auflebende Barszene hatte ganz am Anfang andere, größere Themen, sozusagen die großen Platin-Alben und A-Seiten: Man besann sich darauf, dass frischer Zitronensaft besser schmeckt als welcher aus Flaschen, somit auch ein Whiskey Sour mit frischem Saft besser als mit industriellem Sour-Mix. Der Old Fashioned und der Manhattan wurden als große Marker der alten Shortdrink-Historie hervorgeholt, entschlackt und mit besseren Zutaten wiedergeboren. Der Nachteil: Zwei Unzen Bourbon (oder mehr) mit einen Löffel Zucker, ein paar Tropfen Würztinktur und etwas Schmelzwasser schmecken (auch heute noch) längst nicht jedem, erst recht nicht im Sommer. Es waren Bedürfnisse wie diese, die dazu führten, dass unter anderem der Aviation Cocktail wieder ins Licht der Bar trat.

Denn der Aviation Cocktail war zur Zeit seiner Wiederentdeckung etwa ab dem Jahr 2004 beides: Er war spritzig, frisch, säuerlich und leicht, gleichzeitig hatte er schlicht durch seine Zutaten etwas an sich, das ihm in der professionellen Szene immense Street Credibility gab: Maraschino und Crème de Violette (Veilchenlikör) – gleich zwei Dinge, die es so gut wie nie (und noch seltener in akzeptabler Qualität) zu kaufen gab. Der Drink musste ja cool sein.

Aviation Cocktail Geschichte & Rezeptur
Aviation Cocktail Geschichte & Rezeptur

Die Order eines Aviation kam einer Botschaft gleich

So wurde der Aviation Cocktail zunächst unter Fachleuten und eingefleischten, kenntnisreichen Gästen einer der berüchtigten »Bartenders’ Handshakes«, wie es z.B. der US-Autor Robert Simonson später formulierte. Die Order eines Aviation hatte eine implizite Botschaft, die ungefähr so lautete: »Schau her, ich weiß Bescheid, allein meine Wahl weist mich als Kenner aus. Mir genügt eine schnöde White Lady nicht, erst recht kein noch schnöderer Gin Sour. Ich will den Drink mit den beiden Nerd-Likören, der außerdem cool ist, weil er zum klassischen Repertoire gehört.« So einfach war das. Schlichte Abgrenzung, der Drink an sich war eher zweitrangig.

Doch mit der angeblichen Klassik beginnt die eigentlich interessante Betrachtung des Aviation Cocktail. Denn bis heute scheiden sich die Geister an der Frage, ob das Veilchen wirklich rein soll oder nicht. Das liegt an zwei verschiedenen Bezugspunkten, über die sich die Fachwelt ziemlich einig ist.

Harry Craddock und sein Aviation ohne Crème de Violette

Die heutige Referenz-Erwähnung stammt vom deutsch-amerikanischen Bartender Hugo Ensslin, der 1916 in seinem Buch Recipes for mixed Drinks einen Aviation Cocktail mit 2/3 Gin, 1/3 Zitronensaft sowie je 2 Spritzern Maraschino und Veilchenlikör auflistet. Diese Rezeptur tauchte um das Jahr 2004 in der Fachwelt auf (u.a. durch David Wondrich und auch Greg Boehm) und stellte seinerzeit ein anderes, wegweisendes Buch infrage: Im Savoy Cocktail Book von Harry Craddock aus dem Jahre 1930 findet sich ebenfalls ein Aviation, allerdings ohne Crème de Violette.

Es liegt zunächst nah, dass Craddock den Drink von Ensslin übernommen und den Veilchenlikör entweder vergessen oder bewusst weggelassen hat. Letzteres ist sogar wahrscheinlich, denn es ist davon auszugehen, dass Crème de Violette auch im London der 1930er mehr oder weniger nicht verfügbar gewesen ist. Und es ist heute bekannt, dass Craddock größtenteils Rezepturen aus älteren Büchern versammelt, kuratiert und in seinen Band aufgenommen hat – warum sollte er dabei einen Likör in sein Buch schreiben, den man nicht kaufen kann? Soweit der allgemeine, bekannte Stand der Dinge. Müsste man sich bei diesen beiden Drinks dafür entscheiden, wer eher berechtigt wäre, den Namen Aviation zu führen, wäre die Sache klar: Ensslins Version erhält durch die Crème de Violette eine zartbläuliche Färbung und verweist damit direkt auf die namensgebende »Luftfahrt«.

»Die Order eines Aviation hatte eine implizite Botschaft, die ungefähr so lautete: Schau her, ich weiß Bescheid, allein meine Wahl weist mich als Kenner aus. Mir genügt eine schnöde White Lady nicht, erst recht kein noch schnöderer Gin Sour.«

Aviation Cocktail

Zutaten

5 cl Dry Gin
2 cl frischer Zitronensaft
1,5 cl Maraschino
1 BL Crème de Violette

Ein Aviation, zwei Aviation, viele Aviation

Der für seine tiefgehenden Recherchen bekannte Fach-Blog »Bar-Vademecum« förderte vor zwei Jahren allerdings folgende Erkenntnis zutage: Die Idee, einen Cocktail mit dem Wort »Aviation« zu benennen, war um das Jahr 1910 ein ziemlicher Gassenhauer unter den Barleuten. Wen wundert’s? Jede Zeit huldigt ihren Helden, und die Entwicklung der motorisierten Luftfahrt war zu Beginn des 20. Jahrhunderts das große Fortschrittssignal schlechthin. Nur klar, dass zahlreiche Bartender ihre Kreationen danach benannten. Bar-Vademecum verweist allein in den Jahren vor Ensslin auf fünf Quellen, in denen ein sogenannter Aviation Cocktail beschrieben bzw. erwähnt wird – mal ohne Zutaten, mal mit: Etwa Sherry mit Dubonnet, Irish Whiskey mit Traubensaft oder aber eine Mischung aus Apfelbrand, Grenadine, Absinth und Limette.

Letztlich bleibt es somit unklar, ob Craddock wirklich bei Ensslin »abgeschrieben« hat oder nicht. Aufgrund der Nähe der Zutaten zueinander ist das zwar wahrscheinlich, andererseits hingegen ist ein Sour mit Gin und Maraschino (der damals im Gegensatz zu Veilchenlikör sehr beliebt und vergleichsweise gut erhältlich war) auch nicht gerade ein Geniestreich – vielleicht hat Craddock das Rezept also auch sozusagen aus dem Ärmel geschüttelt. Wir wissen es nicht mit Bestimmtheit.

»Zu viel Likör lässt ihn zu süß werden und ins Klebrige, Parfümierte, Seifige abgleiten. Dosiert man die Liköre hingegen gering, ist wiederum die Zitronensäure harsch und fordernd. Der Aviation Cocktail ist wesentlich schwieriger zu balancieren als viele andere Drinks mit einem Sour-Gerüst.«

Aufstieg und Fall

Genauso interessant wie die damalige Entstehung des Aviation Cocktail ist aber seine schwierige Existenz in den heutigen Tagen. Denn er scheint nach ein wenig Zeit der Popularität unter Profis nun ganz bewusst wieder in die Versenkung gesteckt zu werden. Simonson fasst das in einem Beitrag von Ende 2017 recht lakonisch zusammen, wenn er sagt: »the Aviation enjoyed a decade-long heyday before falling back into obscurity«. Ebenso führt er zahlreiche Aussagen führender US-Bartender an, die den Cocktail einst abgefeiert haben und ihn mittlerweile so gut wie nicht mehr servieren. Jeff Morgenthaler etwa, einer der einflussreichsten von Simonsons Gesprächspartnern, spricht von »about six of those things a year«. Plötzlich ist der Aviation Cocktail keine begehrte, unzerkratzte Erstpressung einer Beatles-Single mehr, sondern eher eine ausgeleierte Flippers-MC aus dem Drogeriemarkt.

Vor allem scheint der Aviation (der in den USA wesentlich bekannter und verbreiteter war als hierzulande) ein Opfer seines eigenen Erfolgs geworden zu sein: Diente er einst großartig zur Abgrenzung, war er irgendwann in bestimmten Kontexten einfach zu geläufig. Eine Spitzenbar kann im Jahre 2019 mit einem Aviation keinen Connaisseur-Hund mehr hinter dem Ofen hervorlocken. Aus dem Besonderen wurde das Gewöhnliche. Außerdem sind einfach durch die rasante Entwicklung der Bar so viele andere neue Trends, Produkte und Arbeitstechniken dazu gekommen, die solch prinzipiell schlichten Drinks wie dem Aviation Cocktail eine gehörige Portion Aufmerksamkeit genommen haben.

Dazu kommt, dass der Drink durch die beiden sehr charakterstarken Liköre immer ein leichtes Potential zum Polarisieren hatte und hat: Zu viel Likör lässt ihn zu süß werden und ins Klebrige, Parfümierte, Seifige abgleiten. Dosiert man die Liköre hingegen gering, ist wiederum die Zitronensäure harsch und fordernd. Der Aviation Cocktail ist wesentlich schwieriger zu balancieren als viele andere Drinks mit einem Sour-Gerüst. Torben Bornhöft, Mitbetreiber des renommierten Blogs Trinklaune, gab einst an, dass Zitronensaft eigentlich zu herb für einen Aviation sei – und dass der Drink eigentlich erst mit Bergamottensaft funktioniere. Diese Früchte bekommt man aber, wenn überhaupt, nur ein paar Wochen im Winter.

Ein sauber abgestimmter Aviation bleibt ein beeindruckender Cocktail

Dennoch wird man dem Aviation Cocktail natürlich nicht gerecht, wenn man ihn nun plötzlich als unzeitgemäß oder gar schlecht abtut. Ein guter Cocktail bleibt ein guter Cocktail, und was mit den vor 15 Jahren verfügbaren Zutaten lecker hinzubekommen war, sollte im Jahre 2019 eigentlich um ein Vielfaches übertroffen werden können. Und ein guter, sauber abgestimmter Aviation bleibt ein beeindruckender Cocktail: Herb, frisch, komplex, mit dieser zarten Blumigkeit – und der wahrscheinlich elegantesten Möglichkeit, einen blauen Drink zu trinken.

Credits

Foto: ©Sarah Swantje Fischer

Comments (2)

  • H. Bruckner

    Vielen Dank für den Artikel. Man sollte sich wohl weder bei Kleidung noch bei Cocktails von Moden leiten lassen. Denn nur weil ein paar manische Hipster etwas uncool finden, heißt das noch lange nicht, das es schlecht sein muss. Eher das Gegenteil ist oft der Fall. Darf ich fragen was für ein Glas das auf dem Foto ist?

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  • Vincent

    Das Glas ist vermutlich die Spiritii-Cocktailschale von Leonardo 😉

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