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„Es ist unmöglich, Baijiu unabhängig von der Kultur zu begreifen, die ihn geschaffen hat.“ Derek Sandhaus im Interview

Derek Sandhaus ist Autor und führender Experte, wenn es um das Thema Baijiu geht. Im Interview spricht er darüber, wie man sich Baijiu nähern sollte, ob die Coronakrise dem Image von chinesischen Produkten schadet – und warum er möchte, dass Baijiu in zehn Jahren dort ist, wo Mezcal vor fünf Jahren war.

 

Im Jahr 2014 veröffentlichte Derek Sandhaus „Baijiu – The Essential Guide to Chinese Spirits“. Es ist ein kleines Büchlein, das eine hervorragende Einführung in das Thema der chinesischen Spirituose ist, die für viele nach wie vor ein Rätsel ist und mit ihrer blumigen Wucht oft überfordert.

Ende letzten Jahres hat der US-Amerikaner nachgelegt und das höchst amüsante wie informative Werk „Drunk in China – Baijiu and the World’s Oldest Drinking Culture“ veröffentlicht. Aber nicht nur als Autor ist er tätig, um Baijiu dem westlichen Verständnis auf theoretische Weise näher zu bringen. Auch in der Praxis legt er mit einem Engagement bei der Baijiu-Marke „Ming River“ Hand an. Gerade auch angesichts aufkommender, antichinesischer Ressentiments in der Corona-Krise haben wir Derek Sandhaus, der auch bereits mehrere Bücher zur chinesischen Kultur und Geschichte publiziert hat, zum Interview gebeten.

MIXOLOGY: Derek, im Barkosmos kennt man Baijiu, nichtsdestotrotz ist eine vergleichweise unbekannte Spirituose. Was ist ein guter Weg, um sich Baijiu zu nähern?

Derek Sandhaus: Viele Menschen haben eine negative, erste Erfahrung mit Baijiu, und das liegt normalerweise an zwei Dingen. Zum einen wählen sie keinen guten Baijiu. Wenn man in ein chinesisches Spirituosengeschäft geht, gibt es sehr teuren und sehr günstigen Baijiu, und probiert man ihn zum ersten Mal, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass man den günstigeren wählt – der dann, wenig verwunderlich, nicht so gut ist. Die zweite Sache, die passiert: Man trinkt den falschen Baijiu. Chinesen wollen oft, dass man einen guten Eindruck von ihrem Baijiu hat, und greifen direkt zu der 1000-Euro-Flasche. Das mag ein sehr guter Baijiu für jemanden sein, der sein ganzes Leben damit verbracht hat, Baijiu zu trinken. Aber es ist kein sehr zugänglicher Baijiu für jemanden, der es zum ersten Mal probiert.

Ich vergleiche das gerne mit rauchigem, torfigem Scotch Whisky. Ein Johnnie Walker Black oder ein mittelstarker Blend ist zu Beginn leichter zu verstehen als ein Talisker oder ein Laphroaig, die eine Menge sehr intensiver Aromen aufweisen, aber den Anfänger überfordern. Ich lasse Leute gerne die vier beliebtesten Stile von Baijiu probieren und bewege ich mich von sehr milden und zugänglichen zu sehr komplexen hin. Wenn man Baijiu in dieser kontrollierten Umgebung einführt, verstehen die Leute das. Vielleicht mögen sie nicht alle vier, aber sie wissen: „Baijiu lässt sich nicht auf eine einzige Sache runterbrechen. Es gibt Unterschiede und es hat Handwerk.“

MIXOLOGY: Apropos Handwerk, der Markt für Craft- und Premiumprodukte wächst im Vergleich zu günstigeren Produkten. China wiederum hat eher das Image eines Massenproduzenten. Ist das ein Hindernis für Baijiu als Kategorie?

Derek Sandhaus: Das Image von der industriellen Massenproduktion in China hat mit der Herstellung von Baijiu nichts zu tun. Baijiu herzustellen erfordert viel Geduld, die Produktion nimmt viel Zeit in Anspruch. Es gibt keine Möglichkeit, Maschinen einzusetzen, um den Prozess zu beschleunigen. Vielleicht wurde das Design von Destillen modernisiert, um bestimmte Ineffizienzen im Laufe der Zeit auszumerzen, aber nicht die Art, wie sie funktionieren. Wenn man eine Whiskybrennerei in Schottland besucht, sieht man eine Handvoll Menschen, die den Prozess vom Anfang bis zum Ende begleiten. In einer Baijiu-Brennerei arbeiten Hunderte. Sie schaufeln Getreide, laden Gärgefäße oder die Destille. Die Chinesen verwenden ein Dampfdestillationverfahren, die Körner werden sehr vorsichtig in die Destille geladen. Es dauert teilweise fünf Jahre, bis jemand als geschult genug betrachtet wird, um eine Destille zu beladen.

»Wenn man von Baijiu spricht, geht e um die unterschiedliche Art der Herstellung von Alkohol in verschiedenen Regionen von China.«

— Derek Sandhaus

MIXOLOGY: Du bist Schriftsteller, aber auch Partner des Baijuis Ming River. Wie kam das?

Derek Sandhaus: Ich habe 2011 angefangen, über Baijiu zu schreiben, 2014 habe ich mein erstes Buch darüber veröffentlicht. Das war aber bereits mein insgesamt viertes Buch, die ersten drei haben sich mit chinesischer Geschichte und Kultur befasst. Und eines der Probleme, das ich hatte, war der Umstand, dass Baijiu außerhalb von China wenig bekannt ist und meine Zielgruppe englischsprachig war. Es gab eine Handvoll Unternehmen, die versuchten, Baijiu auf dem Überseemarkt zu platzieren, aber nicht sehr gut. Die Möglichkeit, die Anzahl meinre potentiellen Leser zu erhöhen, bestanden also darin, entweder zu warten, bis jemand den richtigen Ansatz gefunden hatte – oder zu versuchen, Baijiu selbst zu verkaufen. Und wenn mein Ziel darin besteht, mehr Menschen dazu zu bringen, Baijiu zu schätzen, dann habe ich eine höhere Verantwortung, ihn dem internationalen Publikum zugänglicher zu machen.

MIXOLOGY: Es gibt ein Dutzend offizieller Baijiu-Stile. Ist das eine Chance oder eine Falle? Schließlich wollen Menschen eine Spirituose auch verstehen. Man nehme Tequila: Er wird in einer bestimmten Region aus Agave hergestellt. Das ist leicht zu verstehen.

Derek Sandhaus: Ja, es ist tatsächlich schwierig für Ausländer. Die Leute denken sich: „Baijiu ist Schnaps aus China. Es muss das Eine sein, und ich kann lernen, was dieses Eine ist.“ Aber man muss den historischen Kontext betrachten. China war zum größten Teil seiner Geschichte ein viel größeres Land als die meisten vereinten Nationen der Welt. Das Land, das seit mehreren tausend Jahren China ist, hat ungefähr die Größe Kontinentaleuropas. Es ist also nicht so sehr eine Kultur, sondern eine Sammlung vieler verschiedener, regionaler Kulturen aus ganz Asien.

Aus dieser Perspektive muss man auch Baijiu sehen: Chinesischer Alkohol verhält sich wie europäischer Alkohol. Es gibt Ähnlichkeiten zwischen italienischem Grappa und Scotch Whisky, aber es handelt sich um sehr unterschiedliche Produkte. Die meisten Teile Chinas hatten in den letzten hundert Jahre sehr wenig mit anderen Teilen des Landes zu tun. Es war schwierig, zwischen verschiedenen Regionen zu reisen. Ein Großteil des Landes besteht aus Gebirge, es gab nicht die besten Straßensysteme. Alkohol hat sich in einzelnen, isolierten Regionen entwickelt. Man spricht heute von mindestens 12 verschiedenen Arten von Baijiu, aber es gibt wahrscheinlich weitere, je nachdem, wie man die Einteilung vornehmen möchte. Wenn man von Baijiu spricht, geht es also um die unterschiedliche Art der Herstellung von Alkohol in verschiedenen Regionen. Ein Missverständniss in Bezug auf Baijiu besteht darin, dass Menschen nur ein Produkt einer sehr abwechslungsreichen Kategorie probieren und diese individuelle Erfahrung auf die allgemeine Kategorie drüberstülpen.

»Ich war wahrscheinlich in mehr Baijiu-Brennereien als 99,9% der restlichen Menschheit, und in nur zwei Brennereien hat man mir den Raum gezeigt, wo das Qu hergestellt wird.«

— Derek Sandhaus

Das Werk von Derek Sandhaus liegt aktuell nur in englischer Sprache vor

MIXOLOGY: Dann gibt es das mysteriöse „Qu“, für das es keine Übersetzung gibt. Es ist zerstoßenes Getreide, das zu einer Paste und dann zu einer Art Ziegel geformt wird …

Derek Sandhaus: Richtig. Qu wird zur Herstellung jeder einzelnen Art von chinesischem Alkohol verwendet. Es ist Getreide gemischt mit Wasser, das zu Ziegeln geformt wird, eine Kultur von Mikroorganismen, die aus der Luft gewonnen werden. Es ist ein Abdruck seiner Umwelt, und die Herstellung ist ein komplizierter, mikrochemischer Vorgang. Die Produktion nimmt viel Zeit in Anspruch und erfordert auch viel Umsicht. Man will keine unerwünschten Chemikalien. Ich war wahrscheinlich in mehr Baijiu-Brennereien als 99,9% der restlichen Menschheit, und in nur zwei Brennereien hat man mir den Raum gezeigt, wo das Qu hergestellt wird. Man will nicht, dass man in die Nähe ihres Qu kommt. Es ist die Komponente, die dem Produkt den Geschmack verleiht. Niemand soll es seine Finger bekommen oder es gar aus der Destillerie schmuggeln, um ähnliche Aromen herzustellen.

MIXOLOGY: Ist die Formel für ein Qu über Generationen gleich, oder verändert sich das?

Derek Sandhaus: Welche Mikroorganismen sich im Qu befinden, hängt von dem spezifischen Standort ab. Es wird sich ändern mit der Jahreszeit, im Laufe der Jahre mit der Tierwelt und der Region. Eine Möglichkeit, für Konstanz zu sorgen, ist altes mit neuem Qu zu vermischen. Teile der mikroorganischen Kultur aus der letzten Charge werden in die nächste Charge hinzugefügt, um sie über die Zeit konstant zu halten. Aber es stimmt, eine bestimmte Menge an Qu ist nur für den einen Moment spezifisch, wo es hergestellt wurde.

MIXOLOGY: Dein Buch Drunk in China erwähnt, dass die chiniesische Kultur sehr früh begonnen hat, heißes Wasser zu verwenden, während man in Europa beispielsweise Bier getrunken hat, um verunreinigtem Wasser als Risikofaktor zu umgehen. Das muss sich auch auf die Trinkgewohnheiten ausgewirkt haben …

Derek Sandhaus: Darüber habe ich tatsächlich viel nachgedacht. Baijiu und chinesischer Alkohol im Allgemeinen scheinen sich auf einem völlig anderen Weg entwickelt zu haben als der größte Teil des Alkohols, den wir trinken. Es mag vor 5000 Jahren einen ähnlichen Ursprung haben, aber ähnlich wie die chinesische Sprache sind sie unterschiedliche Wege gegangen. Im Westen haben wir ein Alphabet aus dem Griechischen oder Lateinischen entwickelt und haben begonnen, unsere Wörter anhand einer Reihe von Buchstaben zu konstruieren. Die chinesische Sprache hat nie ein Alphabet entwickelt. Man hat eine symbolische Art, Wörter zu schreiben. Das formt, wie die Menschen über Sprache denken, wie sie Sätze bilden – und letztlich wie sie um die Welt um sie herum denken.

Beim Alkohol ist das ähnlich. In China hat man einen Ansatz zur Herstellung von Wein, Bier und Schnaps, der nichts damit zu tun hat, wie wir es machen. Wie Getränke beurteilt werden, ist weit davon entfernt, wie wir unsere Getränke beurteilen. Man sucht nach unterschiedlichen Geschmacksrichtungen, unterschiedlichen Geschmackskombinationen, unterschiedlichen Farben und Texturen und Formen von Mundgefühl. Es ist unmöglich, chinesischen Alkohol unabhängig von der Kultur zu begreifen, die ihn geschaffen hat.

Basis eines jeden Baijius ist das sagenumwobene „Qu“, das zu einer Art Ziegel gepresst wird

»Den meisten müssen wir die Aromen von Baijiu in Mixgetränken vertraut gemacht. Ein Weg, den auch schon viele andere Getränkegattungen gegangen sind, man denke an Aperitifs und Bitters aus Italien wie Campari oder Fernet.«

— Derek Sandhaus

MIXOLOGY: Baijiu muss den westlichen Gaumen noch erobern. Corona hat nun einige anti-chinesische Stimmen geschürt. Wird dies Auswirkungen haben?

Derek Sandhaus: Das glaube ich nicht. Die Leute, die im Augenblick Baijiu trinken, sind ziemlich aufgeschlossen. Baijiu hat noch lange nicht die allgemeine Breite erreicht, dass jemand, der ein Virus aus China sieht, dann aufhört, Baijiu zu trinken. Wie wir wissen, gibt es leider bereits jede Menge Rassismus auf der Welt, aber ich glaube nicht, dass es im Augenblick eine Große Menge superrassischtischer Baijiu-Trinker auf der Welt gibt. Wir haben aufgrund der aktuellen Situation auch kein Nachlassen in der Nachfrag für unser Produkt gesehen. Aber um es bekannter zu machen, haben wir immer noch zwei Herausforderungen: Wir müssen sowohl Baijiu als Kategorie einführen, sowie zusätzlich unser Produkt. Sprich: Wir müssen die Welt erschaffen und dann zeigen, wo unser Land darauf liegt.

MIXOLOGY: Diese Herangehensweise an den internationalen Markt lief über Bars?

Derek Sandhaus: Baijiu ist keine traditionelle Cocktail-Zutat, China hat keine Cocktail-Tradition hat. Es ist eine sehr neue Idee, und sie stammt von außerhalb von China. Traditionellerweise wird Baijiu direkt zu den Mahlzeiten serviert, bei Raumtemperatur als Shot. So trinken heute aber nicht mehr viele Mensche. Unser langfristiges Ziel ist immer noch, dass in jedem chinesischen Restaurant auf der Welt eine Flasche Baijiu steht. Darauf müssen wir hinarbeiten. Aber die meisten müssen mit den Aromen von Baijiu in Mixgetränken vertraut gemacht werden. Ein Weg, den auch schon viele andere Getränkegattungen gegangen sind, man denke an Aperitifs und Bitters aus Italien wie Campari oder Fernet. Das sind Getränke, die pur getrunken werden sollten, aber sie sind zu intensiv, als dass die meisten sie auf diese Weise kennenlernen könnten.

MIXOLOGY: Wo würdest du Baijiu gerne in zehn Jahren sehen?

Derek Sandhaus: In zehn Jahren möchte ich, dass Baijiu dort ist, wo Mezcal vor fünf Jahren war. Was ich damit meine: Ich möchte, dass es etwas ist, mit dem die meisten Bartender auf der Welt vertraut sind und arbeiten möchten, obwohl es nur sehr wenige Menschen gibt, die ein tiefes Wissen darüber haben. Es sollte aber einen großen Reiz haben, damit zu arbeiten.

MIXOLOGY: Letzte Frage: Dein Lieblingsgetränk mit Deinem Baijiu Ming River?

Derek Sandhaus: Ich trinke Baijiu gerne so, wie ich es kennengelernt habe: Zu einem chinesischem Essen und einem kalten Bier. Als Cocktail mag ich den Trader’s Treasure, ein Tiki-Drink von einer Bartenderin namens Shannon Mustipher aus der Bar Glady’s in New York, bestehend aus Ming River, Arrack, Cynar, Honig, Ananas und Limette. Hier treffen alle verschiedenen Zutaten auf unterschiedliche Weise den Gaumen. Ein Drink, der wirklich Spaß macht.

MIXOLOGY: Derek, vielen Dank für das Interview.

Credits

Foto: Derek Sandhaus

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