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Totgesagte leben länger. Oder: Haben wir nach der Pandemie noch Lust auf Bars?

„Da ist ein Licht am Ende des Tunnels“, heißt es inzwischen vermehrt. Doch wie wirken sich soziale Abstinenz, Stigmatisierung, pandemiebedingter gesellschaftlicher Wandel und die Akzeptanz des „New Normal“ auf unser Ausgehverhalten aus? Sind wir noch die alten und ist die Bar es auch? Wollen wir dann überhaupt noch in eine Bar? Eine verhaltenspsychologische Bestandsaufnahme.

Das Jahr 1920 bildete eine Zäsur in Harry Craddocks Leben. Der gebürtige Brite, den es zur Bartenderausbildung auf die andere Seite des Atlantiks verschlagen hatte, der dort Freunde, Familie gefunden und es zu einem beachtlichen Ruhm geschafft hatte, stand plötzlich vor dem Nichts. Auch wenn er sich rühmte, den letzten Drink vor Beginn des „Noblen Experiments“ gerührt zu haben, so war die ihm sich aufdrängende Veränderung seiner Existenz keine freigewählte. Dass kurz zuvor eine tödliche Krankheit namens Spanische Grippe ihre pandemischen Wellen schlug, wirkt da fast seltsam vertraut. Zyklisch.

Mit Vorsicht zu genießen

Im Hier und Jetzt wären wir alle gerne Harry Craddock. Würden unsere Koffer packen, um unsere Barwerkezuge andernorts wieder auszupacken. Würden die eigene Realität gerne gegen eine andere eintauschen, unserer Passion nachgehen, die ganz nebenbei unsere Erwerbsgrundlage darstellt. Doch im Hier und Jetzt haben sich eben auch die Vorzeichen verschoben, die Dimensionen vergrößert. Die Flucht nicht mehr so einfach, das Ziel nicht mehr eindeutig. So stehen wir möglicherweise am Ende und am Anfang zugleich. Dem Ende einer dramatischen, erschöpfenden Talfahrt ohne Bremsen und Airbag, willens den Berg erneut zu erklimmen. Alles auf Anfang. Nur nicht über Los.

Man stelle sich vor, dass nach einer bundesweiten Zwangsschließung (Modellstädte ausgenommen) seit Anfang November 2020 in dieser Woche Bars und Restaurants möglicherweise wieder öffnen dürfen. Je nach Bundesland sieht das hinsichtlich der zu unterschreitenden 7-Tage-Inzidenz von 100 natürlich anders aus, je nach Bundesland gelten unterschiedliche Öffnungspläne und Bestimmungen zur Reaktivierung des Status Quo Ante –inkl. Notbremsen.

Wer werden wir „danach“ sein? Wie werden wir ausgehen?

Doch gibt es im Leben immer gewisse normative Argumente: Wir alle begrüßen ein Mehr an Freiheit, Gleichstellung und Wohlstand. Derartige Aussagen werden bei den meisten Menschen auf Zuspruch und Zustimmung stoßen. Genauso wie der Umstand, dass die Corona-Pandemie tiefe Spuren hinterlassen hat.

Welche Gesellschaft werden wir also sein, wenn die teils längst vergessenen Freiheiten wieder verfügbar sind. Wie sehr kann ein Jahr Mindestmaß sozialer Kontakte und Einschränkung des antrainierten Verhaltens einen Menschen nachhaltig verändern? Und welche Auswirkungen hat all dies auf unsere geliebte Gastronomie?

Kurz vor Beginn des Ewig-Lockdowns im November führte der Kassensystem- und E-Commerce Anbieter Lightspeed eine Umfrage zum Ausgehverhalten in Zeiten der Pandemie durch. Zutage kam ein ernüchterndes Ergebnis. Nur knapp 6% der Deutschen planten zu den Feiertagen noch einen Restaurantbesuch. 47% der Befragten gaben gar an, seit Beginn der Pandemie überhaupt nicht mehr Bars, Restaurants und Cafés besucht zu haben. Diese Zahlen erschrecken nicht nur, da bei einer ähnlichen Studie aus 2017 noch knapp 50% einen Gastronomiebesuch an Feiertagen planten, sondern vor allem auch, weil nicht die Angst vor Ansteckung den primären Verhinderungsgrund darstellt – dafür aber vielmehr der Verlust an Attraktivität aufgrund der geltenden Hygiene- und Abstandsregeln. Regeln, die bei der politisch anvisierten Wiedereröffnung mit Sicherheit fortgelten werden. Man stelle sich also vor: Die Bar ist auf und keiner geht hin?

Baradoxes Verhalten

Hans-Peter Erb, Professor für Sozialpsychologie an der Helmut Schmidt Universität in Hamburg ist sich sicher, dass unser Verhalten auch davon geprägt sein wird, welche Rolle die Bar nach der Wiedereröffnung überhaupt annehmen kann. „Aus der Öffentlichkeit des Alltags tauchen wir in der Bar ja in ein Szenario, in dem wir uns wohlfühlen, auch gerade weil sie unser Wohnzimmer suggeriert. Wenn ein solches Wohnzimmerflair nicht mehr möglich wäre, dann würde sich das wohl auch auf die Attraktivität auswirken“.

Der Sorge gegenüber, dass die Pandemie zu negativen Auswirkungen auf das zwischenmenschliche Miteinander geführt hat, entgegnet er, dass bereits größere, viel länger andauernde geschichtliche Ereignisse den Menschen in seinen Grundüberzeugungen nicht haben ändern können. „Allein ist der Homo Sapiens ein schwaches Tier. In der Gemeinsamkeit liegt unsere Stärke als soziale Wesen. Das wird uns eine Pandemie nicht austreiben können, dafür ist dieser Grundsatz evolutionsbiologisch viel zu zementiert in unserem Denken“. Beeinflusst wird dies natürlich auch durch die Unterschiedlichkeit des menschlichen Verhaltens: „Es stellt sich also die Frage danach, wie Menschen auf bedrohliche Situationen reagieren. Die einen verdrängen das, die anderen brauchen ständig neue Informationen und werden gar ängstlicher. Was man allerdings feststellen kann – und das sagt auch die Literatur – ist, dass der Mensch sich relativ schnell an Bedrohungen gewöhnt“.

Ortwin Renn ist Risikoforscher an der Universität Potsdam (Foto: © IASS/Lotte Ostermann)

Geselligkeit ist menschlich, das ändert auch ein Jahr Pandemie nicht so schnell

Auch der Risikoforscher Ortwin Renn, wissenschaftlicher Direktor am Institut für transformative Nachhaltigkeitsforschung in Potsdam blickt ähnlich optimistisch in die Zukunft. „Umfragen sagen, dass Geselligkeit vermisst wird. Kontakt mit Mitmenschen ist etwas, was rudimentär sehr im menschlichen Verhalten angesiedelt ist. Die Form der Geselligkeit, des gemeinsamen Feierns kommt wieder“.

Ein Grund, weshalb Menschen auch nach der Pandemie weiterhin an Ihren Gewohnheiten festhalten werden, sei das verhaltenspsychologische Phänomen der Reaktanz, das Erb auch auf seinem Youtube-Kanal ausführlich beleuchtet. „Wir haben es mit zwei Zuständen zu tun, die gegeneinander wirken. Auf der einen Seite etablieren wir bei der Anpassung an eine Situation neue Gewohnheiten. Auf der anderen Seite aber strahlt das im Zeitpunkt Unmögliche eine besondere Attraktivität aus. Das Motiv, die verlorene Freiheit wiederzuerlangen, nennt man Reaktanz“.

Die amerikanischen Sozialpsychologen Pennebaker und Sanders führten 1976 eine Studie durch, bei der sie zwei Arten von Schildern an öffentliche Toiletten montierten. Auf dem Einen stand: „Schreiben Sie unter gar keinen Umständen an diese Wände.“ Auf dem Zweiten war dagegen zu lesen: „Schreiben Sie bitte nicht an diese Wände.“ Wochen später kamen Sie zum Ergebnis, dass die Wand mit erstem Warnhinweis deutlich stärker bemalt worden ist. Je stärker ein Verbot ausgesprochen wird, desto größer ist also der sich bildende Widerstand. Und das nicht alleine, weil uns unsere Freiheiten im Allgemeinen oder der Barbesuch im Speziellen so wichtig sind, sondern vor allem, weil Reaktanz auch immer zum Ausdruck bringt, dass der Mensch sich in seinen Auswahlmöglichkeiten eingeschränkt sieht. Auch in der Bar können wir dieses Phänomen historisch sehr konkret benennen. Es trägt den Namen Prohibition und ihre größtenteils negativen Auswirkungen bedürfen keiner Worte.

Diffamierung als Hinderungsgrund?

Folglich stehen die Zeichen grundsätzlich also positiv. Der Mensch ändere als Gewohnheitstier sein Verhalten nicht elementar, das Zwischenmenschliche überdauere und Verbote führten zu einem gewissen Trotz. Doch leben wir auch in einer Zeit, in der gesellschaftlich so etwas nicht einheitlich aus dem gleichen Blickwinkel beurteilt wird. Eine Gesellschaft, die zunehmend gespaltener und an den Rändern am lautesten ist. Hinzu kommt ein nicht zu unterschätzendes Sentiment, das von keinem Individuum abgestritten werden kann. Neid. Auf Urlaubsrückkehrer, die Impfstoffverteilung heute, auf neu-erworbene Freiheiten für Geimpfte möglicherweise morgen. Führt der spitze Vorwurf Bekannter und Freunde, durch einen Barbesuch der Pandemie in die Karten zu spielen nicht auch gerade dazu, dass wir aus Angst potentieller Marginalisierung der geliebten Trinkstätte doch fernbleiben?

Laut Prof. Erb kommt es hier viel eher zu einer kognitiven Dissonanz. Auch wenn die Bar politisch oder durch Mitmenschen stigmatisiert werden würde und wir um die Gefahren, derer wir uns aussetzen – also der potentiellen Lebervergiftung, dem Alkoholismus oder eben gerade der Ansteckungsgefahr – wüssten, so würden wir sie dennoch besuchen. Der Mensch kann mit einer solchen Dissonanz zweier Gedanken nicht gut umgehen, sie nicht aushalten. Eine logische Reaktion: Den Gedanken herunterspielen: „Der eine Drink wird mich nicht umbringen“, „Ich gehe ja nicht jeden Tag in die Bar“, „die Hocker stehen ja weit genug voneinander entfernt“.

Prof. Renn ist sich darüber hinaus sicher, dass das Verhalten in Pandemie-Zeiten auch anders beurteilt werden müsse: „Lockdowns frustrieren und Frustration mündet oftmals in Aggression. Daraus kann Neid entstehen. Ob das Fußballer oder Manager sind… In Krisenzeiten kommt sowas stärker hervor und tritt dementsprechend mit dem Abebben mehr in den Hintergrund. Ich glaube nicht, dass unsere Gesellschaft dadurch viel aggressiver geworden ist.“

We are Open

Ja, der Mensch ist beeinflussbar. Framing, virtuelle Diskrepanz und Informationen durch Dritte können Ängste schüren. Und doch ist der Mensch auch ein herrlich kompliziertes und unverständliches Wesen, teils irrational im Denken und oftmals allzu liberal beim Trinken. Ein Wesen, das im Laufe der Evolution gelernt hat, dass seine Stärken inmitten der Gesellschaft liegen. Ein Wesen, dass Krisen übersteht und aus seiner Anpassungsfähigkeit Kraft zieht. Ein Wesen, das häufig dann kreativ ist, wenn es kreativ sein muss. Wir Mitmenschen honorieren das und halten unsere Treue. Ganz bestimmt. Das wusste schon Voltaire, als er sagte: „Gewohnheit, Sitte und Brauch sind stärker als die Wahrheit“.

Credits

Foto: Editienne

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