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Atalay Aktaş und seine Blume aus dem Asphalt

Der Berliner Atalay Aktaş hat in seinem Heimatbezirk Kreuzberg eine neue Bar eröffnet. Die „Lilie“ liegt um die Ecke von seiner „Schwarze Traube“, ist jedoch alles andere als eine Kopie. Das beginnt schon bei der Tatsache, dass der neue Laden um acht Uhr morgens öffnet. Wir haben das mutige Konzept besucht.
Café-Bar, Bar-Café, Kaffee-Bar? Wie bezeichnend, dass die Worte allein schon nicht richtig miteinander harmonieren wollen. Denn die Orte, die sie beschreiben sollen, werden selten beiden gastronomischen Konzepten gleichermaßen gerecht.

Die etwas andere Lilie

Bei der „Lilie“ ist das anders. Der neueste Streich von Atalay Aktaş ist kein Café, das gen Abend auch Gin & Tonics und Moscow Mules anbietet. Auch keine Cocktailbar, die schon früher am Tag aufmacht und wo die Bartender*innen den Milchschäumer an der Siebträgermaschine auch nach acht Uhr noch bedienen. Die Lilie ist ein modernes Kaffeehaus, das sich am Abend wie von selbst in eine Cocktailbar verwandelt.
Schon beim ersten Blick in die Gasträume ist zu spüren, dass „Bar“ und „Café“ hier eigenständig zu ihrem Recht kommen. Man kann sich nämlich gedanklich kaum festlegen, worauf man hier mehr Lust hat: auf gemütliches Rumlümmeln und Leute beobachten, auf Zeitung lesen und einen guten Kaffee, oder auf einen Drink in der Hand, mit dem man sich unter die Leute mischen oder im nächtlichen Getümmel an der Bar versacken kann. Beides könnte hier mühelos aufeinanderfolgen.

Kreuzberg zwischen Wien und Istanbul

Hinter der schallgedämmten Eingangstür öffnen sich zwei großzügige Räume. Vorne links ist die L-förmige Bar mit dem eigens angefertigten Rückbuffet aus dunklem Holz, davor die gepolsterten Barstühle mit Rücklehne. Chesterfield-Sofas, warme, karamellige Farben, elegante kleine Sessel und geschwungene Couchtische  erinnern an die traditionellen Kaffeehäuser in Wien oder Istanbul. An der großen Fensterfront gibt es ein paar erhöhte Plätze mit Blick nach draußen.
Hinten rechts vom DJ-Pult aus tutet Miles Davis kind of blue in den Raum. Der neu eingezogene Stuck, der zwar auf „alt“ gemacht ist, aber nicht gewollt aussieht, kommt in den hohen, offen Räumen besonders gut zur Geltung. Wie wertvolles Porzellan in einer Glasvitrine sind in einem groben Holzregal an der Rückwand alte Cocktailutensilien aufgereiht. Schnörklige Aussparungen eines kleinen Lampenschirms werfen Lichtsprenkel an die Wand. Das Ganze wirkt so organisch gewachsen, als sei es schon immer da gewesen.

Der Kreuzberg der Achtziger Jahre

Eine gelungene Täuschung. Aktaş hat die Gasträume gemeinsam mit seinem Jugendfreund und Geschäftspartner von Grund auf neu gestaltet. „Der Laden hier hatte lange ein schlechtes Image“, erzählt er. „Wie verflucht.“ Ende der Achtziger Jahre, als der Naunynkiez, und ganz Kreuzberg allgemein, noch ein hartes Pflaster war, hatte hier das Café Anal aufgemacht, einer der ersten explizit schwul-lesbischen Läden in Berlin. „Es gab immer wieder Raubüberfalle, auch mit Waffengewalt.“
Aktaş hat das damals unmittelbar mitbekommen. Er ist genau hier im Kiez aufgewachsen, ein Straße weiter. Auch die türkische Saz-Bar Küfe und der Queer-Club Mio’l, die danach kamen, konnten sich nicht dauerhaft durchsetzen. „Es war schon gefährlich hier damals. Aber die Läden haben auch alle nur eine enge Zielgruppe angesprochen. Das wollen wir anders machen.“

Auch Amber gibt es in der Lilie

Cocktail-Avantgarde mit klassischer Kaffeehauskultur verbinden, das war das erklärte Ziel. „Wir haben eine etwas experimentellere Cocktailkarte hier als in der Traube, die Preise sollten aber trotzdem im Rahmen bleiben“, erzählt Aktaş. Es gibt eine feste Karte und eine kleine Auswahl an wöchentlich wechselnden Drinks. „An der Eröffnungskarte habe ich monatelang gearbeitet“. Bei dem „Distant Sky“ zum Beispiel, einer Old-Fashioned-Variation mit Rotwein-Tonkabohnen-Sirup und getrockneter Ananas, war allein die Wahl des passenden Weins für das Mazerat ein langwieriger Ausschlussprozess.
Und der Lavendel-Zitronen-Sirup, den Aktaş im „Little Wing“ mit Gin, Grüntee und Vanille kombiniert, brauchte allein sechs Ansätze, bis das richtige Maß gefunden war. „Lavendel ist ja sehr intensiv, das wird schnell zu seifig, zu ätherisch“, erzählt er. „Und zu viel Säure wollte ich auch nicht.“ Sogar Amber kann man in der Lilie probieren. Die Substanz aus dem Darm des Pottwals wurde traditionell für die Herstellung von Parfum verwendet. Für den an den Gin Fizz angelehnten „Melody“ hat Aktaş Amber-Essenz mit Zucker eingekocht. Pur schmeckt das nach Veilchen und Moschus, und auch ein wenig fruchtig. Himbeerig vielleicht.

Kaffee für Kreuzberg, Tee aus Friedrichshain

Auch für den Kaffee hat Aktaş seine eigene, sehr konkrete Vorstellung umgesetzt. In der Berliner Kaffeerösterei stellte er sich einen eigenen Blend aus 40% brasilianischen, 40% costa-ricanischen und 20% äthiopischen Arabica-Bohnen zusammen. „Ich wollte weg von dem sauren Kaffee, der momentan Trend ist, und wieder etwas zurück zu der Zeit davor. Einen weichen, vollen, fruchtigen Geschmack habe ich gesucht.“ Bis er ihn gefunden hatte, musste er etwas dreißig Blends ausprobieren. Die Tees in der Lilie kommen alle aus einem Berliner Teegeschäft im Friedrichshain, das direkt importiert. Serviert werden sie klassisch mit Aufguss-Schale und Teekanne.
Die Idee für den Namen Lilie hatte sein Partner. Auch der Name für die Schwarze Traube war damals sein Einfall gewesen. „Die Lilie steht für Ausdauer und Beständigkeit. Sie wächst aufrecht, und ihre Blüten sind fest und auffällig.“ Das habe ihnen gefallen, sagt Aktaş. In diesem Symbol sahen sie die Verbundenheit zu ihrem Heimatkiez und seinen Menschen und die Geschäftsphilosophie einer bedächtigen, bewussten Entwicklung perfekt ausgedrückt „Beständigkeit steht für das Klassische, was wir pflegen und achten wollen, die Blüte für den Hauch von ‘neu’.“ Nebenan, im Erdgeschoss, gibt es noch zwei weitere Räume, die perspektivisch als Küche und Verkaufsraum für Spirituosen genutzt werden sollen.

Weit weg und trotzdem in Kreuzberg

Als wir draußen vor der Lilie auf den eigens aus Indonesien importierten Teak-Stühlen sitzen und noch einen Kaffee trinken, läuft ein Nachbar vorbei und guckt durchs Fenster hinein. „Richtig schön geworden. Du wirst es noch weit bringen, mein Freund“, sagt er zu Aktaş.
„Hat er doch schon“, denke ich, aber der sieht das anders: „Ich hab’s eigentlich nie weit gebracht“, sagt er, als der Nachbar schon weitergegangen ist, und schaut mich ernst an. Aber so leicht lasse ich mich nicht reinlegen: „Rein räumlich nicht, nein!“

Credits

Foto: Tim Klöcker

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