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Dickens, Churchill, Hemingway – Die Dunkle Seite der Bar-Helden

Sie sind einige der unangefochtenen Heiligen der Bar: Genießer wie Hemingway, Churchill oder Dickens. Doch macht die Genusskunst auch automatisch einen guten Menschen? MIXOLOGY ONLINE mit ein paar Schlaglichtern ins Dunkle, dahin, wo der Champagner nicht mehr fließt. 

Es ist erst einige Wochen her, da erhielt Casey Affleck den Oscar als bester Hauptdarsteller für seine zweifellos hervorragende Leistung in „Manchester by the Sea“. Der „kleine“ Affleck, der ursprünglich immer im Schatten seines älteren Bruders Ben Affleck stand, der schon in jungen Jahren mit einem Oscar für das Drehbuch zu „Good Will Hunting“ geehrt worden war und mit seinen Regiearbeiten und dem zweiten Academy Award (Bester Film) für „Argo“ endgültig in den Olymp der Filmschaffenden aufgestiegen war.

Casey war nicht immer nur der jüngere Affleck, er wirkte auch irgendwie zarter: schlanker als sein Bruder, die Erscheinung immer etwas weniger „amerikanisch“, dazu dieser Hundeblick, der ihn zu Beginn seiner Karriere oft in die Rolle des komischen oder gar niedlichen Sidekicks manövrierte. Man denke an seine kleine Rolle in „Good Will Hunting“ oder auch an die des kongenialen Trottels Virgil Malloy in der „Ocean’s”-Reihe. Doch mit der Zeit mauserte sich der niedliche Casey – aus europäischer Sicht eher unbemerkt – zu einem respektierten Charakterdarsteller im US-Kino, angefangen mit seiner grandiosen Rolle in „Die Ermordung des Jesse James durch den Feigling Robert Ford“.

Machismo in Hollywood

Plötzlich also ist jener „kleine“ Casey einer der ganz Großen im Hollywood-Business. Ein Oscar als bester Hauptdarsteller ist noch immer der so ziemlich größte Karriereboost (auch finanziell), den es im Schauspielgeschäft gibt – Jennifer Lawrence lässt grüßen. Doch unmittelbar nach Afflecks Auszeichnung meldeten sich skeptische Stimmen – unter anderem in der amerikanischen Elle – zu Wort, die anprangerten, dass Menschen wie er durch die Academy honoriert würden. Was war geschehen?

Gegen Affleck gab es vor einigen Jahren mehrere Vorwürfe von Frauen wegen sexueller Belästigung, sexuellen Schmähungen und versuchter Vergewaltigung. Sämtliche Vorwürfe landeten letztendlich nicht vor Gericht, sondern wurden mit Vergleichen geregelt – ohne Bekanntgabe der jeweiligen mutmaßlich vorgenommenen Entschädigungszahlungen. Der Beitrag der Elle geht sehr ins Detail und analysiert einen generellen Mechanismus: Je erfolgreicher ein weißer Mann ist, umso weniger scheint er öffentlich angreifbar. Ein Problem, mit dem das seit jeher von weißen Männern und klassischem Machismo dominierte Hollywood schon immer kämpft. Als gelten Verfehlungen nicht mehr, sobald sich jemand in der Kunst hervortut.

Doch ist Hollywood mit diesem Problem allein?

Auch die Barwelt ist seit jeher eine Sphäre, in der weiße Männer das Zepter in der Hand halten. Das gilt oder galt sowohl für den Beruf des Bartenders als auch auf der anderen Seite des Tresens. Über Jahrzehnte traf man im Gastraum einer klassischen Bar fast ausschließlich auf weiße Männer. Doch es soll an dieser Stelle weder um Sexismus unter Barleuten gehen, noch um das Phänomen, dass der Besuch einer Bar für Frauen zumindest ohne männliche Begleitung lange Zeit undenkbar gewesen ist.

Es soll gehen um die Galionsfiguren, die die Bar sich geschaffen hat. Um die großen Namen von Männern, denen man zuschreibt, sie seien die größten Genießer und Beförderer der Barkunst gewesen. Männer, die man auf ein Podest gestellt, nach denen man Bars, Menüs oder Drinks benannt hat. Denn auch sie, deren Namen das Bartenderauge leuchten lassen, haben – ähnlich wie Casey Affleck – nicht unbedingt eine weiße Weste. Nur den wichtigsten, bekanntesten von ihnen – und ihrer „Dunklen Seite“ – wollen wir heute einen kurzen, tieferen Blick widmen.

Der schiefe Twist auf Oliver Twist

Einer von ihnen ist Charles Dickens. Dickens – einer der wichtigsten britischen Romanciers überhaupt und Schöpfer der weltberühmten „Weihnachtsgeschichte“ sowie von Werken wie „Oliver Twist“ und „Große Erwartungen“ – ist nicht nur Namenspate zahlreicher Pubs, er ließ seine Figuren auch an ziemlich vielen Stellen ziemlich gut speisen und trinken. So viel, dass sein Urenkel Cedric daraus gar ein ganzes Buch zauberte.

Dass sich heute viele Pubs mit dem Verweis auf den großen Schriftsteller benennen, hat einen simplen Grund: Noch in der Mitte des 19. Jahrhunderts, lange nach der „Gin Craze“, gab es in den Städten zahlreiche „Gin Palaces“ – im Prinzip nichts anderes als einfache Stehausschänke, oft gar Geschäfte, die primär Apotheken waren. Diese Geschäfte hatten nicht den allerbesten Ruf, waren aber dennoch ungeheuer populär. Und Dickens gehörte zu den Befürwortern des Gin Palace. In seinem Text „Gin Shops“ aus der Kurzgeschichtensammlung „Sketches by Boz“ geht er detailliert auf ihre Beschaffenheit ein und lobt sie als angenehmen Rückzugsort in einem ansonsten von Elend und Dreck geprägten Stadtbild. Das typische Interieur des Gin Palaces wiederum schlug sich in der viktorianischen Ära (der großen Gründerzeit der Pubkultur) immens ins Bild der Pubs in den Städten nieder – oft und gern mit Dickens als einer Art Schutzpatron.

Eine hochprominente Stellung in der aktuellen Barkultur wiederum ließen Sean Muldoon und Jack McGarry dem Schriftsteller mit der ersten Karte ihrer New Yorker Bar Dead Rabbit (aktuell laut World’s Best 50 Bars die beste Bar der Welt) angedeihen: Bereits im Vorwort ihrer von Drinks aus dem 19. Jahrhundert (etwa Punches und Bishops) geprägten Karte ließen sie Dickens selbst als Connaisseur und versierten Trinker zu Wort kommen. Eine klarere Positionierung als Identifikationsfigur und historischen Bezugspunkt kann man sich nur schwerlich vorstellen.

Charles Dickens und der edle Wilde

Mag Dickens auch gern und gut getrunken haben, mag er mit seiner Weihnachtsgeschichte an die Humanität appelliert haben – so „sauber“ waren nicht alle seine Positionen. In vielen seiner Arbeiten finden sich Verweise und Standpunkte, die eindeutig rassistische, fremdenfeindliche oder herabwürdigende Perspektiven offenbaren. Dabei fällt besonders ein Widerspruch ins Auge: Denn Dickens war zeitgleich ein entschiedener Vertreter liberaler und teils antiimperialistischer Auffassungen, wie z.B. sein Biograph Peter 1990 festgehalten hat.

Dennoch bleibt ein mehr als fader Beigeschmack, etwa bei der Betrachtung der jüdischen „Fagin“-Figur aus Dickens’ vielleicht bekanntestem Roman, „Oliver Twist“. Allein schon, dass Fagin vom Autor an zig Stellen schlicht als „der Jude“ bezeichnet wird, ist auffällig – während alle anderen Figuren weder durch Herkunft oder Glauben bezeichnet werden. Der in der westlichen Welt seit dem Frühchristentum konservierte Antijudaismus (nicht Antisemitismus!), der auch und sogar besonders durch den Protestantismus erneut befeuert wurde, wird hier klar deutlich: Der Jude als „fleischgewordener Teufel“, wie es schon Luther postuliert hatte, findet auch in Dickens’ Roman Eingang.

Doch Dickens äußerte sich auch gegenüber amerikanischen Ureinwohnern stark herabsetzend: In seinem Aufsatz „The Noble Savage“ („Der edle [oder zivilisierte] Wilde“) bricht auch beim eigentlich Liberalen Dickens die ganze Arroganz des Kolonialisten durch, der Indianer nur betrachten kann mit einer Mischung aus Abscheu und dem Staunen eines Zoobesuchers. Parallel dazu ordnet er den Begriff „Noble Savage“ selbst als Widerspruch in sich ein, denn ein Indianer habe per se nichts Edles an sich und sei nur durch Gewalt zu „zähmen“.

Winston Churchill, ein Schöngeist wie er im Buche steht. Oder?

Apropos Indianer: Dazu hat sich auch ein anderer Mann auf deftige Weise geäußert, der von noch viel größerer Eminenz für die Bar-Zunft ist. Die Rede ist von einem gewissen Winston Leonard Churchill. Der Nobelpreisträger und Großbritanniens eigentlicher König in den dunkelsten Stunden des 20. Jahrhunderts ist vielleicht die schillerndste Connaisseurfigur überhaupt, der Bonvivant schlechthin.

Aus edlem Hause stammend, vom ständigen Schmausen gut genährt* und Zeit seines Lebens wohl so gut wie niemals komplett nüchtern, hielt Churchill nicht nur als Staatsmann, Literat und Kriegsherr Einzug in die Geschichtsbücher, sondern auch als versierter Genießer, nach dem Cocktails, die Prestige-Abfüllungen des Champagnerhauses Pol Roger, Bars und natürlich Zigarrengrößen benannt wurden. Ein Schöngeist, wie er im Buche steht. So einer kann doch eigentlich nichts Böses von sich gegeben haben. Oder?

Dass Churchill auch zur härteren Gangart fähig war – sowohl rhetorisch als auch in seinen Entscheidungen und Handlungen –, ist hinlänglich bekannt. Weniger verbreitet hingegen sind seine Positionen gegenüber den Ureinwohnern britischer Kolonien, eben Indern – im Englischen genauso wie Indianer auch „Indians“ genannt. So schützend Churchill im Kriege seine eiserne Hand über die Bewohner Großbritanniens legte, so gering schätzte er die vielen Millionen Menschen, die im restlichen, damals noch gigantisch großen Empire lebten.

„I hate Indians – they are a beastly people with a beastly religion.“ Und dieser Ausspruch ist noch eines der harmloseren Zitate, die der Historiker Richard Toye in seiner neuen, 2010 veröffentlichten Churchill-Biografie zum Besten gibt.

Churchill uns seine Verbindung zu Obama

So weit, so gut. Man mag vom hinduistischen Kastensystem halten, was man will. Es fragt sich allerdings, wer sich zu Churchills Zeit eigentlich „beastly“ verhalten hat in Indien? Die unterdrückten Inder oder aber Churchill, der per Dekret dafür sorgte, dass die große bengalische Hungersnot Anfang der 1940er Jahre (die durch Misskalkulation der britischen Kolonialverwaltung zustande gekommen war), nicht bekämpft, sondern eher noch verstärkt wurde? Als hoher Beamter verhinderte er Lebensmittellieferungen in die Region. Es verhungerten damals nach heutigen Schätzungen rund drei Millionen Menschen. Churchill störte das nicht. Er kommentierte das mit dem Hinweis, dass Inder sich so oder so „wie Kaninchen vermehren“ würden.

Oder verhielt sich der Anführer des gewaltfreien indischen Widerstandes, Mahatma Gandhi, „beastly“? Wohl kaum. Dennoch wünschte Churchill ihm explizit, er sollte „be lain bound hand and foot at the gates of Delhi, and then trampled on by an enormous elephant with the new Viceroy seated on its back“.

Und nicht nur in Indien wütete Churchill, auch in anderen Teilen des Empire: In Kenia war er verantwortlich für die Inhaftierung und Folter zahlreicher Anhänger der Freiheitsbewegung. Einer von ihnen: Ein gewisser Hussein Onyango Obama. Der Großvater des späteren US-Präsidenten saß zwei Jahre ohne Prozess in Haft und durchlitt schlimmste Qualen – Auspeitschungen, Elektroschocks, Verbrennungen und Verstümmelungen waren das übliche Folterrepertoire, das die britischen Aufseher zur Anwendung brachten.

Auch Hussein Obama erholte sich zeitlebens nicht von seinen Verletzungen. Und der einzige Grund, warum wir überhaupt von ihm wissen, ist die Tatsache, dass sein Enkel später US-Präsident wurde. Es bedarf keiner Erklärung, weshalb Barack Obama die Churchill-Büste aus dem Weißen Haus wieder zurück nach England schicken ließ.

“Winston thinks only of the colour of their skin.”

Aber ist es nicht unfair, so auf den armen Winston Churchill einzudreschen, wenn doch damals alle so gedacht und gehandelt haben? Waren nicht damals alle Menschen noch irgendwie Rassisten? Mag ja sein. Doch selbst seinen Zeitgenossen galt Churchill als brutal und rückständig, besonders, was die Behandlung der Kolonialbevölkerung anging. Sie war ihm nicht mehr Wert als Vieh, das nutzbar gemacht werden musste. Wer nicht weiß war, zählte nicht, wie es Churchills Vertrauter Lord Moran auf den Punkt bringt: „Winston thinks only of the colour of their skin.“

Warum so jemand Hitler die Stirn bot und heute als Verteidiger von Freiheit und Demokratie gefeiert wird? Der Kampf gegen die Nazis bedeutet mitnichten, dass Churchill selbst kein Rassist gewesen ist. Aber Deutschlands Expansion gefährdete das Empire. So einfach. Es gehört zu den glücklichen Umständen in Churchills Leben, dass er am Ende auch die Geschichtsschreibung beeinflussen konnte. Aber irgendwie mag man sich plötzlich nicht mehr vorstellen, dass so jemand mit einem Literaturnobelpreis herumläuft, oder?

Der alte Mann und die Männlichkeit

Hat da jemand von einem Nobelpreis gesprochen? Wenn es einen davon gibt, der für die Bar noch mehr zählt als Churchill, dann ist das – über jeden Zweifel erhaben – Ernest Hemingway. Auch Hemingway ist nicht unbedingt ein Musterknabe der politischen Korrektheit gewesen. Anders als im Falle von Churchill hingegen handelt es sich in seinem Fall weniger um Geheimnisse. Sowohl in seinen literarischen Arbeiten als auch im öffentlichen Bild zählen klassische Männerdomänen zu den Konstanten, einige davon zählen heute so gar nicht zu akzeptierten Vergnügen – man denke nur an seine Verherrlichung des Stierkampfes oder der Großwildjagd zur Ertüchtigung der Männlichkeit.

Zudem gibt es in Hemingways Texten immer wieder Stellen, die nichts anderes als kriegsverherrlichend sind. Der Krieg als Schmiede der Männlichkeit? Nicht gerade das, was man mit einem Menschen assoziiert, den sich so viele Bars als ihren Lieblingsgast auf die Fahnen schreiben. Und Hemingways Blick aufs andere Geschlecht versucht die Forschung bis heute vernünftig einzuordnen – denn Fakt ist, dass Frauen in seinen Werken eine stark untergeordnete Rolle spielen.

Nicht jeder gute Cocktail macht einen zum guten Menschen

Am Ende sind es drei Beispiele unter vielen. Und natürlich mag man einwenden, dass fast jeder irgendwo Schmutz in der Schublade liegen hat. So ist dieser Text auch nicht als Aufruf zu verstehen, die Namen der fraglichen Personen plötzlich aus allen Barbüchern zu tilgen oder Bars, die ihren Namen tragen, umzubenennen. Aber es soll ein Denkanstoß sein, sich ab und an ins Gedächtnis zu rufen, dass der Hang zum Genuss einen Menschen nicht zum Heiligen macht. Nicht jeder, der einen guten Cocktail zu schätzen weiß, ist dadurch ein besserer Mensch. Ein Mensch kann auf einem Gebiet eine Ikone sein, menschlich aber ein Totalausfall. Die Causa Churchill lässt grüßen – man muss nur einmal in gebildeteten, indischen Zirkeln diesen Namen aussprechen, da geht es dann nicht mehr um Champagner oder Cocktails.

Jedenfalls gilt das, was z.B. die Elle für Hollywood betont hat, auch für die Barbranche: Lassen wir bestimmte weiße Männer nicht unhinterfragt als Galionsfiguren stehen. Das Hinterfragen muss immer wieder stattfinden. Vielleicht nicht unbedingt bei einem Hemingway Daiquiri.

 

*Anmerkung: Es sei nur der Vollständigkeit halber darauf hingewiesen, dass das angebliche Diktum Churchills, „No Sports“, eine moderne Legende ist: Jener Ausspruch ist einerseits nirgendwo dingfest belegt und findet sich andererseits fast ausschließlich im deutschsprachigen Raum, worauf mehrere Quellen verweisen. Mutmaßlich fußt dieser Aspekt im Churchill-Bild noch in der NS-Propaganda, die stets bemüht war, den britischen Widersacher Hitlers als ersatzgräflichen, versoffenen, untüchtigen Nichtsnutz darzustellen. Tatsächlich jedenfalls war Churchill nicht nur ein großer Bewunderer des Sports an sich, sondern in seinen jüngeren Jahren auch ein hervorragender Reiter und Polospieler. Dem Autor sei verziehen, dass er selbst in einem Text vor knapp vier Jahren (siehe MIXOLOGY-Ausgabe 5/2013) diesem Mythos teilweise auf den Leim gegangen ist.

Credits

Foto: Foto via Wikipedia

Comments (2)

  • Goncalo

    … Kirchentag in Berlin zum verlängerten Wochenende durch Christi Himmel Fahrt.
    Obama hat sich angekündigt und am Samstag ist Fussball-Pokalfinale.
    Die gesamten Hotelbetten der Stadt sind komplett ausgebucht.
    In Berlin Mitte sind die Strassen fast Auto Leer, weil irgendwo Alles abgesperrt ist.
    Umso mehr Menschen. Ganze Gruppen. Mit Buttons und legerem Rucksack.
    Auf Normal Tuend getrimmt. Hippies in konservativem Gewand.
    Der Eindruck entspricht einer Invasion der Zeugen Jehovas.

    Wie gerne würde ich jetzt einem berauschten Winston einen Martini rühren um anschließend eine Magnum zu köpfen. Um auf den Sieg über den Abstinenz-Adolf zu trinken.

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  • Alexander

    Ganz toller Artikel. Danke!

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