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Vom Riechen und Schmecken: Fakten über das Verkosten

Beim Ergebnis eines Tastings gibt es kein Richtig oder Falsch. Beim Vorgang des Verkostens aber sehr wohl. Reinhard Pohorec mit einem Überblick über die Parameter, wie man seine Sinne optimal auf ein Tasting einstimmt. Das Zauberwort sei schon mal verraten: üben, üben, üben!

„Nicht das Vielwissen sättigt die Seele und gibt ihr Befriedigung, sondern das innere Schauen und Verkosten der Dinge“, schreibt Ignatius von Loyola, Gründer der Gesellschaft Jesu in seinen „Geistlichen Übungen“. Dass Spiritualität und der Schnaps eine faszinierende, hochgeistige Nähe teilen, scheint nicht nur sprachlich offensichtlich. Welchem Glauben man dabei persönlich folgt oder wie immer man seine Überzeugungen praktiziert, eines eint uns alle: unsere sinnliche Wahrnehmung als wunderbares Werkzeug.

Bewusst wie unbewusst strömen unaufhörlich die Impressionen und Wunder der Welt auf uns ein – absorbiert von Sinnesorganen, verarbeitet von unserer Kommandozentrale im Gehirn. So unweigerlich man sich bisweilen recht irritierenden Eindrücken ausgesetzt sieht – Stichwort: Öffentliche Verkehrsmittel zur Rush Hour bei 37 Grad im Schatten und einem nicht zu belehrenden Verfechter der „Ich-ess-meinen-Döner-Fraktion“ – so betörend und wohlig kann doch die aufmerksame Entdeckung eines Duftes, eines Geschmacks auf der Zunge, eines bezaubernden Anblicks oder eines harmonischen Klanges sein.

Das Verkosten fertiger Industrieprodukte, hausgemachter Zutaten oder gar gemischter Drinks ist integraler Bestandteil der täglichen Arbeit im Barbereich. Fakt ist, dass bei jedem Tasting die Subjektivität eine große Rolle spielt, ein „richtig oder falsch“ in der Ansprache von Weinen und Spirituosen zu kurz gegriffen wäre. Persönliche Erfahrung, die Fülle gesammelter Sinneserinnerungen und das eingeübte Vokabular bilden den Rahmen des individuellen Erlebnisses, stark geprägt durch die jeweilige Stimmung und Tagesverfassung. Nichtsdestotrotz muss man sich der umgebenden Parameter bewusst werden, potenzielle Fehler vergegenwärtigen und zu minimieren versuchen.

1) Die Struktur

Verkosten heißt unweigerlich vergleichen. Jeder Reiz wird vom Empfänger verarbeitet, quantifiziert und mit bereits Bekanntem in Relation gesetzt. Die molekulare Zusammensetzung eines Stoffes, einer Flüssigkeit löst beim Mensch Assoziationen aus, angelernt über Jahre der Lebenserfahrung. Eine als fruchtig wahrgenommene Komponente mag für den einen „Marille“ evozieren, während ein anderer noch nie bewusst Marille gerochen und gegessen hat, sich folglich vielleicht eher an Pfirsich erinnert fühlt. Dass eine sensorische Beschreibung also nur bedingt Sinn für den Rezipienten macht, ist offensichtlich.

Ein strukturiert methodischer Prozessablauf hilft dabei, die Variablen und Divergenzen überschaubar zu halten. Während im Weinbereich ein solcher Habitus sehr gängig ist, fehlt am Tresen oft die Einübung geschulten Degustierens. Der Weg vom reinen Trinken hin zum analytischen Verkosten lohnt, trainierte Muster lassen sich in der Folge auf viele weitere Bereiche umwälzen, ob das nun Lebensmittel, Zigarren oder andere Wegbegleiter sein mögen.

Eine optische, distanzierte Einschätzung läutet das Gesamterlebnis ein. Farbe, Viskosität, Trübung oder Brillanz, optische Makel, Schönung: Das Auge isst mit und verrät eine ganze Menge über ein Produkt. Anschließend gibt die Nase ihr Debüt und erfasst zuerst die filigranen Noten. Langsam angenähert, verdichtet sich das Bukett, ein Bewegen und Belüften der Flüssigkeit offenbart weitere, zuvor ungeahnte Akzente. Erst jetzt wird der Gaumen mit eingebunden und vollführt, was profan für viele als eigentliches „Kosten“ selbst beschrieben wird. Sich etwas in den Mund zu stecken, ist seit frühen Kindestagen ein prägendes Momentum – Freud hätte seine Freude. Durch ein Wechselspiel erneuten Riechens und Schmeckens sammelt man zuletzt behutsam die komplexen Komponenten zusammen und gibt auch dem Finish eine Chance, zur vollen Entfaltung zu kommen.

Erarbeitet man sich eine persönlich angenehme Reihenfolge und übt Routine ein, werden zukünftige Verkostungen wesentlich leichter von der Hand gehen.

2) Die Flüssigkeit

Eben jener Aspekt der Kontinuität spielt auch bei der Vorbereitung sowie Präsentation des Corpus Delicti eine gewichtige Rolle. Der besseren Vergleichbarkeit halber sollten Proben die gleiche Temperatur aufweisen und ein ähnliches Ausschankmaß aufweisen, die eventuelle Zugabe von Wasser nachvollziehbar dosiert und dokumentiert werden. Vorab gilt es, die Proben schlüssig aneinander zu reihen, um von leichteren Gewichtsklassen – sowohl alkoholisch wie auch intensitätsbezogen – zu schwereren Kalibern zu gelangen. Nach Kategorien und Gruppen sortiert, lassen sich Vertikalverkostungen arrangieren und Produktgattungen im jeweiligen Kontext betrachten.

3) Das Behältnis

Nicht nur das Was, auch das Worin bietet Diskussionsstoff. Idealerweise schenkt man die Spirituose in ein sich tulpenförmig nach oben hin verjüngendes Glas. Ein Stiel verhindert unmittelbaren Kontakt der wärmenden Hand mit dem Glasbauch und bietet leichteres Handling. Ist das Behältnis deutlich zu klein, hat man kaum Platz zur Entfaltung der ganzen Aromatik, zu groß dimensioniert, droht sich der Duft hingegen im Glas zu verlieren.

Muss man sich für eine einzige Größe entscheiden, ist ein ISO Universalglas oder kleines Weißweinglas ein guter Allrounder. Auch wenn es logistisch bisweilen nicht anders möglich ist, kann man zweifelsfrei festhalten, dass kleine Plastikbecher, wie sie oft auf Messen gereicht werden, äußerst unzulängliche Gefäße beim Degustieren sind. Hier kann maximal ein grober, schneller Eindruck gewonnen, ein Überblick verschafft werden.

4) Die Umgebung

Gerade im Rahmen solcher Trade Shows sind dem geneigten Verkoster schwere Hürden in den Weg gelegt. Nonstop prasseln Eindrücke auf einen ein, aus allen Richtungen wehen Gerüche, ohrenbetäubender Arbeits- und Gesprächslärm. Kaum eine Sekunde vergeht, in der nicht ein Bekannter freudig um die Ecke grüßt, ganz abgesehen davon, dass man sich vielleicht schon 28 andere Craft Spirits und Biere den Rachen hinunter gejagt hat. Ein derart reizüberflutetes Umfeld erfordert umso mehr Konzentration und Fokus, die gelernte Routine erweist sich als doppelt wertvoll. Idealerweise kostet man neue Produkte oder alte Bekannte in ruhigen, gut gelüfteten Räumen, ohne äußere Irritationen wie Parfüm, Raumspray oder Essensgeruch.

5) Das Individuum

Wie optimal die Umstände und äußeren Parameter auch sein mögen, eine Variable bleibt so unberechenbar wie einzigartig: der Verkoster selbst. Nicht jeder Mensch hat gleich stark ausgeprägte Sinne oder geht mit dem gleichen Aufmerksamkeitslevel durch die Welt.  Unabhängig von natürlicher Programmierung und genetischer Mitgift, heißt das Zauberwort schlichtweg „üben, üben, üben“. Kein Weinautor hat seine erste Blindprobe mit denselben blumig-ausschweifenden Notizen bedacht wie die Nummer 200 oder 300.

Hat man erst einmal begonnen, bewusst Gerüche und Geschmäcker zu „sammeln“, sie gedanklich abgespeichert, so kann man sie beim Verkosten wieder suchen und als Beschreibung festhalten. Ein versierter Verkoster muss nicht die größte Spürnase besitzen, oft ist es schlicht die Fähigkeit, Dinge zu benennen und für andere nachvollziehbar zu machen.

6) Der Zweck der Verkostung

Zu guter Letzt sollte man sich ganz ehrlich und schlicht dem Zwecke einer bestimmten Verkostung bewusst werden. Jeder Moment hat seinen Reiz und jedes Getränk seine Zeit.

Beim geselligen Miteinander oder einer entspannten Verkostungsrunde geht man mit eigenen Parametern an die Sache und das Glas heran. Bewusster Genuss kann zwar gerne analysiert und „kritisiert“ im ureigentlichen Sinne werden, doch läuft man ebenso leicht Gefahr, Dinge über Gebühr zu zerpflücken und sich selbst der Freude zu berauben.

Ist der Hintergrund einer Verkostung jedoch die sensorische Beurteilung, fachliche Analyse oder professionelle Beschreibung, sind Seriosität und die diversen Faktoren umso bewusster zu bedenken. Mit etwas Aufmerksamkeit wird so aus dem blanken Trinken eines Glases das Verkosten eines Geheimnisses. Und dass das mit Sicherheit die Seele befriedigt, hat nicht nur Ignatius von Loyola verstanden.

Credits

Foto: Bild via Tim Klöcker.

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