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Mailand

Wie man sich in einer Nacht in Mailand verliebt

Zusatz: In die Stadt. Bars wie Kilburn oder Backdoor 43 beweisen, dass Mailand jeden Cocktail-Besuch wert ist. Philipp Gaux streift für eine Nacht durch die lombardische Metropole, die vor allem für ihre Mode und ihr Design bekannt ist, und liegt ihr am Ende zu Füßen.
„Attenzione!“, brüllt es aus einem blechernen Lautsprecher dieser etwas abgelegenen Metro-Station. Gleich soll hier wohl das Gleis bekannt gegeben werden, auf dem unsere Bahn zu einfahren gedenkt. Menschen wuseln in aller Hektik durch diesen 1980er-Jahre-Bahnhof, der mit Charme gealtert ist, und suchen nach ihrer Verbindung. Alles ein wenig ungeordnet, alles ein wenig italienisch.

Pro und Kontra Bella Italia

Nehmen Sie es mir nicht übel, werter Leser: Ich führe eine Hassliebe mit diesem mit einem Stiefel bekleideten Land. Diese vermaledeite Infrastruktur voll an undurchschaubaren Fahrplänen und gespickt mit lebensgefährlichem Verkehr. Die seit Jahrzehnten mehr oder minder verfahrene politische Situation mit unzähligen, unterschiedlichen Parlamenten, die alle den Mafia-Strukturen des Südens nicht Herr werden konnten oder vielleicht auch wollten.
Auf der anderen Seite aber eben auch eine Vielfalt an Kultur, die europaweit ihresgleichen sucht, ob vorzügliche Cuisine oder nationaler Schatz an Historie mit Originalschauplätzen. Oder ob warmes Klima der Toskana oder mediterranes Flair der Adria. Italien punktet! Nur punktet das Land auch mit Barkultur?

Die Stadt des Geldes

Endlich. Ich darf aussteigen. Duomo heißt die Station, und was ich mir aus einer anderen romanischen Sprache lose mit „verschlafen“ übersetze, trifft nicht auf das zu, was sich da vor meinem Auge offenbart. Man mag den Mailänder Dom – die Scala – kitschig nennen und sie ob der vielen Touristen und dem Sammelsurium an Taubenarten verfluchen, doch neidlos muss man ihre architektonische Puristik anerkennen. Doch ich habe ja Durst und schweife ab.
Wohin also? Ich könnte natürlich in der naheliegenden Rinascente Edelkaufhauskette auf der dortigen Rooftop-Bar einen Negroni für 12 Euro bestellen und damit dem hier gefrönten Dolce Vita auf angemessene Art und Weise huldigen – oder ich vertraue einer liquiden Spur, die mich weiter durch die Gassen dem Sonnenuntergang entgegen treibt.

Das Kilburn schultern

Ich erreiche das Kilburn. Barfly und Freund Robert Zander – selbst ein großer Fan der Mailänder Trinkkultur – hat mir diese Bar und die Geschichte dahinter empfohlen. Barchef Ennio erlebte die Höhen und Tiefen des Business hautnah. Kurz nach einer furiosen Eröffnungsphase, in der alles gut zu laufen schien, verließ ihn Hals über Kopf sein Partner, und der italienische Jungbartender hatte von nun an ein Riesenprojekt alleine zu schultern. Vielleicht ist es vor allem auch dieser unbändige Wille und die endlose Leidenschaft Ennios, die den Besuch des Kilburns besonders empfehlenswert macht. Fünfzehn Stunden täglich steht er am Brett, um den Kredit doch noch abzahlen zu können.
Doch auch, was er da zaubert in seiner modern angehauchten Bar mit lockerer Wohnzimmer-Atmosphäre, kann sich sehen lassen. Ob der verheißungsvolle „Aureo & Divino“ aus Rye, Zimtlikör und hausgemachtem Likör aus weißer Schokolade oder der „Eleganza & Delicatezza“ aus Wodka, Feige, Macadamia, die von Ennio und seinem Kilburn-Team erdachten Kreationen zelebrieren vor allem die erfrischende Ehrlichkeit, nicht mehr sein zu wollen, als man wirklich ist.
Anstatt hier auf Teufel komm raus die Trinkkiste der Mixologie zu bedienen, verlässt man sich auf seine Stärke. Digestife Drinks mit Dessert-Charakter, vielleicht das eine oder andere Mal ein wenig zu sehr in die Fancy-Ecke driftend, aber dennoch mit viel Herz und italienischem Charme. Es ist diese Gastfreundschaft und Ehrlichkeit, die ich mir hier gewünscht habe, und bereits bei meinem ersten Stopp hat sich diese Hoffnung erfüllt.

Lagerbildung am Naviglio Grande

Sucht man in Mailand nach Bars, so tut man das zwar nicht lange, man sollte aber wissen, wo. Nicht zuletzt machen auch hier die vielen Touri-Bars nicht Halt davor, den unbedarften oder wenig informierten Kunden preislich und qualitativ an der Nase herumzuführen. Es bedarf daher bei der Wahl einer guten Trinkstätte mitunter durchaus einer gewissen geographischen Orientierung.
Und ich mache mich auf den Weg. Vorbei an der Basilica di Sant’Eustorgio führt mich die nächtliche Odyssee durch die Millionenstadt schließlich zur Station Piazzale Stazione Genova. Nicht nur ich, sondern gefühlt die halbe künstlerische Formation aus jugendlichen Alternativen und Spaßsuchenden der Nacht quält sich durch die engen Gassen eines Ortes, der eigentlich nicht das sein wollte, was er heute ist.
Vor zehn Jahren nämlich, da umgab den kleinen Kanal Naviglio Grande noch ein Moloch aus städtischer Marginalisierung. Hier lebten sie, die Ungebetenen; die verhassten Clochards dieser geldgeführten Ordnung, die verachteten Immigranten und abgehalfterten Drogensüchtigen. An ihnen vorbei floss das Leben, an dem sie nicht teilzuhaben hatten.
Heute, vor allem auch durch die EXPO, hat sich das Bild gewandelt, und die Gentrifizierung hat ihren Einzug ins einst vermoderte Viertel gefunden. Früher abgewrackte Häuserzüge wurden in ihrem Charme gepimpt und beherbergen alternative Clubs, Restaurants und die wahrscheinlich spannendste Bar, die ich je habe besuchen dürfen.

Backdoor 43: das Schiebefenster zum Glück

Ich klopfe, und ein kleines Holztürchen mit Sichtspalt wird zur Seite geschoben. „How can I help you, Sir?“ Vieles habe ich bereits erlebt, doch Backdoor 43 verblüfft und verwirrt mich. Es gilt diese berühmte Audienz beim Papst parabolisch heranzuziehen für einen Besuch dieser Bar. Hier werden Termine vergeben für jeden Gast und jedes Paar, denn die knapp über 10qm große Bar kann nur drei Gäste gleichzeitig beherbergen und gilt damit als offiziell kleinste Bar der Welt; ja jeder Gast hat auch nur eine Stunde in eben dieser Bar.
Es bedarf an dieser Stelle sicherlich keiner Erklärung, die Beliebtheit dieses Ortes durch künstliche Verknappung einmal herauszustellen, ich tue es dennoch einmal explizit. Wer hier trinken will, der muss dem Bartender vorab an der Tür nicht nur einen guten Grund dafür liefern, der sollte auch zwei bis drei Wochen vor seinem Aufenthalt in der Bar anfragen und einen Termin reservieren. Doch lohnt sich dieser Aufwand auch?
Zweifellos. Nicht alleine überrascht die Miniatur-Trinkstätte mit gemütlicher Holzvertäfelung und überraschendem Altbau-Charakter, was die Höhe der Wände angeht, sie wartet darüber hinaus mit zwei sehr interessanten Dingen auf. Einerseits wäre das die Tatsache, dass man in jedem Fall mit dem Bartender kommunizieren muss. Das sollte man zwar immer bei einem Barbesuch, doch fühlt sich das Gespräch hier ob der Intimität und auch Absurdität der Situation quasi an wie ein Date zwischen der mixenden Person und dem Gast, in dem erstere eben zweiten kennenlernen möchte. Zweites – das schließt nahtlos ans Kennenlernen an – beherbergt das liquide Kleinod eine Range an ca. 200 unterschiedlichen Whiskysorten. Ob der Gast dann einen eben dieser neat verköstigt oder dem Bartender von seinem Lieblingsdrink erzählt, es geht hier vor allem um die Atmosphäre. Und wenn man dann wie in seinem eigenen Heim noch DJ spielen darf und den Soundtrack der Nacht auszusuchen vermag, spätestens dann ist der Höhepunkt erreicht.
Es klopft ein weiteres Mal, und ich traue meinen Augen nicht. Kurzerhand wird vom Bartender eine kleine Luke geöffnet und der vor der verschlossenen Tür stehende Gast kann sich einen Cocktail-to-Go bestellen. Warum nicht einfach mal ein Hendrick’s Tonic mit Fever-Tree und Gurke für sechs Euro. Verrückt.

Ein krönender Abschluss

Was kann da noch kommen, mag der ein oder andere Leser sich fragen. Das genaue Gegenteil zum Beispiel, von ein und derselben Gruppe einen Steinwurf vom Backdoor 43 entfernt. Willkommen im Mag Cafè. „Eigentlich ein ziemlich ungeiler Name“, dachte ich mir schon auf dem Weg, doch was meine Augen dann trifft, ist mitunter das coolste an Kneipe/Café-Bar-Konzept, das ich seit langer Zeit erleben durfte.
Und dieses Konzept platzt aus allen Nähten. Am Wochenende und unter der Woche. „Wir machen hier unter der Woche schon ein paar Tausend Euro.  Ich bin zugegebenermaßen hin und hergerissen zwischen ungläubigem Stoizismus und verneigungswürdiger Bewunderung und schaue mir gleich einmal die Karte an. Da geht es schon los. Saisonal ist sie nicht nur komplett erneuert, sie nimmt auch immer wieder neue Form an. Zunächst noch fragend nach dem flüssigen Labsal suchend, stelle ich schnell fest, dass das mir in die Hand gedrückte Menü doch nur aussieht wie ein Stadtplan. Benannt nach Stationen der Metro, orientiert sich jeder Drink an den jeweilig rund um die Stationen liegenden Vierteln und ihren Eigenheiten.
Ich entscheide mich für den „San Siro“ aus Rum, Kaffee, Chartreuse mit Walnuss versetzt, hausgemachtem Biersirup und einer Espuma aus Bier, Eiweiß, Schokolade und Lakritz. Serviert in einer Kaffeetasse, wird mir schnell klar, wofür die Gegend um San Siro steht. Mit dem Drink geliefert wird ein Panini-Bild mit Bartender im Trikot als kleine Hommage an die Stadionkultur des San Siro. Hervorragend schmiegen sich die einzelnen Bestandteile des Drinks aneinander. Zeit für den nächsten Drink. Als Raumduft-Diffuser getarnt, präsentiert sich vor mir die Verbindung aus Noilly Prat, Safran, Umeshu, Pimm’s, Bourbon und einem Gum-Sirup. Köstlich und der Abschluss, den ich gesucht habe.

Kilburn, Backdoor 43, Mag Cafè: nur drei von vielen

Natürlich. Das kann es nicht gewesen sein und nein, das war es auch nicht. Wir hätten in dieser an Bars reichen Stadt noch ins Rita gehen können und das 1930 aufsuchen müssen. Uns hätte es noch in das The Yard, das The Spirit, das Nottingham Forest und das Lacerba verschlagen müssen. Aber das ging eben nicht, denn wir hatten nur eine Nacht. Eine Nacht in Mailand …

Credits

Foto: Shutterstock

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