Corona Chronicles, Teil 6 – Kreuzberg, der Sound & das Miteinander
Kreuzberg mag teuer geworden sein. Doch es ist noch immer das laute, vitale, schmutzige Herz des Nicht-Mitte-Nicht-Charlottenburg-Berlins. Das Herz des „anderen“, sehnsuchtsvollen Berlins. Das Coronavirus hat diesen Stadtteil innerhalb weniger Tage stillgelegt. Autor und Barbetreiber Behzad Karim-Khani, der den Kiez zwei Jahrzehnte miterlebt und mitgeprägt hat, kommentiert die Lage emotional, aber nicht panisch. Und er blickt in das Zusammensein der Zukunft.
Ich erinnere mich noch an meinen ersten Drink in Kreuzberg. 2001 war ich gerade hergezogen, der neue Job hatte sich noch nicht finden lassen, das mitgebrachte Geld ging zur Neige, und als ich irgendwann den letzten Zwanziger in der Hand hielt, beschloss ich, dass zwanzig Euro null Euro und in Drinks zu investieren sind. Es war Spätsommer. Wer damals in Kreuzberg gelebt hat, erinnert sich vielleicht an den Sog und die Magie, die das Bateau Ivre am Heinrichplatz ausübte. Also setzte ich mich in die Abendsonne und bestellte.
Rot. Und mit diesem Licht
Ich weiß nicht mehr, was es war. Es war rot, und ein Negroni wäre mir zu diesem Zeitpunkt schon rein stilistisch nicht zuzutrauen gewesen. Also wird es ein Aperol-Sprizz gewesen sein. Keine Ahnung, wie er schmeckte, wie die Eiswürfel aussahen oder wie er serviert wurde. Aber ich erinnere mich daran, wie das Licht ins Glas fiel, an die Haptik, den Sound der Stadt, an die Lebensenergie, den Rhythmus, an die Gesichter. Es war einer dieser Abende, an denen was in der Luft liegt und man mitvibriert ohne zu wissen, warum und womit. Es war eine gute Entscheidung hierhergezogen zu sein, dachte ich und ich hatte recht.
Das sind fast zwanzig Jahre.
Seitdem ist viel passiert. Kreuzberg ging vom „Watermelon Man“, den wir in Mitte abgeschaut hatten, zum Mezcal-Negroni, von abgestandenen PET-Flaschen zu den 0,125-Liter-Tonic-Fläschchen in viktorianischem Stil. Von warmen Beck‘s-Flaschen zu Craft. Vom Hohlkegeleis in Ikea-Gläsern zu Hoshizaki und Nachtmann. Ich wohnte dem Wandel von beiden Seiten des Tresens bei, trug einerseits als Barbetreiber der neuen Kreuzberger Generation fast zehn Jahre meinen Teil zu der Entwicklung bei. Investiere als Gast auch deutlich mehr als zwanzig Euro in Drinks, die meine geschätzten Kollegen im Kiez rühren. Wir sind auch älter geworden, unsere Gespräche drehen sich auch mal um Himalayasalzränder und indonesischen Langpfeffer. Um Lavendelseife und Korianderbitter.
Der Sound, der auch blieb, als der Soundtrack sich änderte
So einfach und selbstverständlich die Entwicklung sich liest, auf den Zeitraum gemessen – und die manchmal ja auch sperrige Grundhaltung unserer Nachbarschaft mitbedacht –, ist das kein kurzer Weg. Und vor allem schaffte Kreuzberg das alles, ohne an Energie oder an Authentizität einzubüßen. Der Sound, die Haptik unseres Viertels blieb mehr oder weniger gleich. Unsere Attitüde, unser Hedonismus, unsere Verschwendung und die Länge unserer Nächte. Das ist nicht jedem Stadtteil gelungen. Das ist besonders. Und nicht nur das. Wir geben der Stadt Impulse. So misslungen die Zwangsvereinigung mit Friedrichshain war, so natürlich und bereichernd ist die Verbindung zum wilderen, jüngeren Neukölln. Ich will es nicht romantisieren. Vieles nervte natürlich auch. Des Einen Sound ist des Anderen Lärm. Dennoch lief es. Nicht beschwerdefrei, aber es lief.
Und dann wortwörtlich über Nacht: Corona. Bars zu. Restaurants zu. Das Vergnügen abgestellt. Das soziale Leben besonders für uns Tresenaffine auf Snooze. Kreuzberg lautlos. Die Nächte nicht kürzer, die Nächte gar nicht. Negronis weg. Sprizz weg. Sound weg. Es ist nicht wie Weihnachten, wenn die Zugezogenen zu ihren Eltern fahren und Kreuzberg leer ist. Aber wer Weihnachten mal hiergeblieben ist, hat immerhin einen Vergleich.
Die verordnete Ruhe, die wir uns sonst nicht genommen hätten
Ich schreibe das hier in der Nacht. Heute war Tag acht, glaube ich. Und heute brauchte ich wieder eine längere Nacht. Schlafdefizit ist auch so etwas wie eine Medizin geworden. Weiß gar nicht, ob es gut ist für meinen Rhythmus, wenn ich jetzt plötzlich jeden Abend um 23 Uhr ins Bett gehe. Fühlt sich jedenfalls nicht richtig an. Ansonsten aber genieße ich die Ruhe, zu der wir gezwungen worden sind und die wir uns niemals freiwillig angetan hätten. Jetzt, am achten Tag, genieße ich sie. In vier bis sechs Wochen (und ich hoffe, es wird nicht länger gehen) werde ich es nicht mehr.
Wenn ich mit meinen Kollegen spreche, stelle ich fest, dass es allen mehr oder weniger ähnlich geht. Und dann stellt sich natürlich die Frage, was man vermisst. Die Mezcal-Negronis und die Himalayasalzränder werden es nicht sein. Die habe ich auch hier. Und es wird auch nicht der neue Petersilienbitter sein oder der nächste Gin.
Ich werde das vermissen, worauf es ankommt, die Haptik der Stadt, ihren Sound, ihre Energie, das Licht – und mittlerweile bin ich angekommen –, das in meinen Negroni fällt. Ich glaube, dass nach der Auszeit eine neue Lebensfreude entstehen wird. Bescheidenheit will ich es gar nicht nennen. Eher eine neue Wertschätzung, die uns nach dieser langen Phase des Ungezügelten und des Konsums auch ganz gut stehen wird. Ich glaube nicht, dass in nächster Zeit jemand vor mir stehen und das Gesicht verziehen wird, weil ich seinen Lieblingsscotch gerade nicht habe oder weil er nur aus sechs verschiedenen Tonics wählen kann. Ich glaube, dass unseren Nächten und unserer Verschwendung auch eine Großzügigkeit beigemischt sein wird, die mir, meinen Gästen und meinem Viertel sehr gut tun wird.
Und vielleicht ist es auch das, was die nächste Bar-Generation ausmacht. Auf beiden Seiten des Tresens: Die Energie, die da war, als wir kamen, die Qualität, die wir hinzugefügt und etabliert haben als Basis für ein neues Miteinander.
Credits
Foto: Valerie Benner
Martin Stein
Toll. Danke.