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Applaus nach der Wiedereröffnung und das verheerende Signal der Sperrstunde: Behzad Karim-Khani über den zweiten Lockdown

Zu Beginn des ersten Lockdowns hat Behzad Karim-Khani einen Text für uns geschrieben, in dem er ein neues Lebensgefühl beschwor, in dem Großzügigkeit, Exzess und Wertigkeit ein Wertedreieck bilden würden. Heute sagt er: Er lag falsch wie selten. Trotzdem lässt sich der Betreiber der Lugosi Bar und Autor seinen Optimismus nicht nehmen. Er ist nur um einiges gezügelter, wie er in einem persönlichen Kommentar zum zweiten Lockdown schreibt.

Einer der schönsten Corona-Momente, vielleicht sogar eine der schönsten meiner gesamten gastronomischen Laufbahn war der Tag der Wiedereröffnung nach dem Lockdown. Wir hatten niemandem Bescheid gegeben. Wir konnten die Situation nicht abschätzen und wollten einen Ansturm verhindern. „Wir sind geöffnet. Bitte kommt nicht“, hätte es auf den Einladungskarten geheißen, die wir nicht schrieben und die wohl jedem als Neujahrsgrußkarte für Zwanzigzwanzig einiges erspart hätte. „Wir sind geöffnet. Bitte erscheint nicht.“ Das Jahr in nuce. Zumindest hätte die Einladung in diesem Jahr auch niemanden mehr überrascht.

Jedenfalls hatten wir bewusst zwei, drei Tage verstreichen lassen und dann leise geöffnet. Um neunzehn Uhr machten wir auf. Gegen neunzehndreißig lief ich dann vorsichtig am Laden vorbei, um zu sehen, was so passiert. Die Terrasse war voll. Und trotzdem merkwürdig ruhig. Genau so leise, wie wir aufgemacht hatten, hatten sich die Gäste hingesetzt. Hoher Anteil an Sektkübeln auf den Tischen. Ein Setting wie bei einer Überraschungsparty. Als ich über die Straße wollte, drehten sich einige der Köpfe in meine Richtung und von zwei Tischen dann: Applaus. Es war nicht mein Geburtstag. Es war kein Jubiläum der Bar. Ich hatte einfach nur überlebt. Das war alles.

Wobei… eigentlich war es nicht alles.

Es gab etwas anderes, und wenn nicht, möchte ich das zumindest für diesen Text hineininterpretieren: Nicht nur ich hatte überlebt. Auch ihre Bar hatte überlebt. Wie ich, waren sie auch vorbeigekommen, um zu sehen, was passiert. Also applaudierten sie. Vielleicht wie man früher einem Piloten applaudierte, damals, als Fliegen noch ein Abenteuer war. Ich hatte ihre Bar durch eine turbulente Zeit gebracht und das bedurfte eines kleinen Applauses. Das erklärte die Sektflaschen.

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Mein erster Lockdown war geprägt von einem naiven Optimismus und Gin & Tonics. Für diese Magazin hier schrieb ich einen heiter in die Zukunft blickenden Text über die wiederzufindende Lebensfreude nach der Epidemie, von der ich dachte, dass sie in sechs bis acht Wochen enden würde.

Ein neues Lebensgefühl beschwor ich in dem Text herbei, in dem Großzügigkeit, Exzess und Wertigkeit ein Wertedreieck bilden würden. Ich lag falsch wie selten.

Mein Optimismus war teils vielleicht Gewohnheit (wenn nicht zwanghaft), teils war er den Maßnahmen geschuldet, die ergriffen wurden und mich beeindruckten. Von der Soforthilfe über die Masken bis zu der Merkel-Ansprache fühlte ich mich aufgehoben. Ich mochte die Abstände wie Drosten. Mir gefiel auch das Desinfizieren der Hände. Hatte das Gefühl, bis dahin nie wirklich saubere Hände gehabt zu haben. Auf Facebook behauptete ich dann, dass man kein Bartender ist, wenn man nicht darüber nachgedacht hat, ob vielleicht Chinin helfen könnte. Ich nahm zwei Kisten Tonic und zwei Flaschen Gin mit, schloss die Bar und sperrte mich zu Hause ein.

Nach fünfzehn Jahren der Selbstständigkeit fühlte sich das fast an wie Nestwärme oder eine bessere Welt. Natürlich nur in dem kleinen Rahmen. Draußen starben Menschen. Das war kein Spaß. Aber meine Solidarität brauchte nicht mehr als Social Media, die Arbeit an meinem Roman und Gin & Tonic. Mehr musste ich nicht tun, während der Staat aufpasste, dass ich zumindest nicht unterging.

Die Maßnahmen verstand ich, auch als wir – früher als ich erwartet hatte – wieder aufmachen konnten, hielt sie penibel ein und erlebte ein historisches Novum: Der Mitarbeiter des Ordnungsamts Berlin attestierte uns ein „Hervorragend“. Ich war selbst nicht da, aber die Legende besagt, dass er dieses Wort wirklich ausgesprochen hat.

Ich sah auch die neue Situation optimistisch. Der Andrang und die Enge an der Bar, die ich vorher mit Türempfang und Bouncern in den Griff bekommen wollte, hatten sich jetzt erledigt. Die Dynamik, die Menschengruppen ab einer bestimmten Anzahl erreichen, war gedrosselt. Ich mochte das, auch wenn es finanziell drückte. Anfang Oktober schienen wir wieder auf die Beine gekommen zu sein, dachten über ein Essen mit dem Team nach, stellten neue Mitarbeiter ein, hatten gelernt, besser zu haushalten. Sogar mit den neuen Umsätzen.

Ich gehörte zu denen, die Glück hatten und ich weiß das. Meine Bar hatte die richtige Größe, die richtige Anzahl an Mitarbeitern. Mein Mietvertrag ist aus den Tagen, als Kreuzberg bezahlbar war. Mein Flieger – um bei dem Bild zu bleiben – die richtige Spannweite, genügend Kerosin.

Wer deutlich größer war als ich, musste Darlehen aufnehmen, wer deutlich kleiner war, konnte mit den neuen Zahlen nicht überleben.

Aber auch für mich kippte die Situation. Und zwar mit der Sperrstunde. Aber nicht nur die finanzielle Situation. Der Staat, der uns gerade noch geschützt hatte, legte jetzt eine Willkür und einen Aktionismus an den Tag, der mich an die wilden, martialischen Schätzungen des Finanzamts erinnerten, mit denen das Berliner Finanzamt ein Jahr zuvor auf die Gastronomie losgegangen war. Martialisch, weil sie versuchten, etwas – nämlich eine ausführliche und detaillierte Prüfung – mittels Drastik zu umgehen. Absurde Zahlen in den Raum stellen, schockieren. Wenn man seine Felle davonschwimmen sehen hat, verhandelt man aus der Position des Dankbaren. Ohne pathetisch überladen zu wollen, so funktioniert die Ökonomie der Angst. Der Abschreckung. In einem Kampf, für dessen Sieg die Ressourcen fehlen, setzt man auf das Statuieren von Exempel.

Die Sperrstunde kam, weil das Ordnungsamt nicht genug Manpower hatte, die schwarzen Schafe ausfindig zu machen, die sich nicht an die Maßnahmen hielten. Punkt. Empirisch machte sie, die Sperrstunde, keinerlei Sinn. Rechtlich gesehen war sie nicht einmal legitim. Ihr Erfolg war bescheiden und was die Nachweisbarkeit angeht, ähnlich zitierbar wie meine Chinin-Kur. Die Neuinfektionen schnellten jedenfalls hoch. Es wäre unterkomplex, hier eine Korrelation zu der Sperrstunde herzustellen, aber die Effizienz war an der Stelle durchaus infrage zu stellen. Zu diesem Zeitpunkt war mir klar, dass spätestens das auch zu einer Verschärfung der Situation führt und dass die Gastronomie an vorderster Front steht. Wenn meine Haltung im ersten Lockdown also etwas Gesund-Naives hatte, ist der zweite Lockdown für mich von Skepsis geprägt, und auch von weniger Gin & Tonic.

Die Naivität hebe ich mir jetzt auf. Heute, als ich das hier schreibe, ist in den USA election day. Und allein die Knappheit bei dem Rennen deutet schon hin auf eine Zukunft, geprägt von Instabilität und Unbeständigkeit.

Meinen Zwangsoptimismus werde ich also brauchen. Einen Teil werde ich mir aufheben für die Annahme, dass Zwanzigzwanzig alles, was wir mit ihm verbinden, mit sich begräbt und danach etwas Besseres beginnt. Einen anderen Teil dafür, dass wir die nächste Eröffnung mit „Wir sind geöffnet. Kommt alle!“ ankündigen können.

Und einen kleinen Teil lege ich mir für die übernächste zur Seite. Wer weiß.

Credits

Foto: Valerie Benner

Comments (1)

  • Waldemar Bornemann

    Vielen Dank für Deine Worte und Deine Meinung.
    LG Waldemar.

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