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Bruder Bar & Restaurant Wien

Die botanische Radikalisierung des Wiener Bruder

Es wird fermentiert, und es wird ironisch: Im Wiener „Bruder“ verwirklichen Lucas Steindorfer und Hubert Peter die Autarkie bei ihren Spirituosen und verwischen dabei die Grenzen zwischen Essen und Getränk. Oder wie sie ihr Motto selbst beschreiben: “Träume in Alkohol einlegen und dick mit Butter bestreichen.”

Die Philosophie wird am T-Shirt getragen, und da kommen wenig Missverständnisse auf: „Hefe sei Dank“ heißt es da, aber auch „Stadt-Wald-Rausch“. Wenn man jetzt kein US-Tourist auf der Suche nach dem Wiener Schnitzel ist, dann ist die Sache im 6. Bezirk klar. Es wird fermentiert. Es wird im Wald und auf der Wiese nach Zutaten gesucht.

Und es wird ironisch. Stimmt alles in Hubert Peters und Lucas Steindorfers „Bruder“. Doch wer das mit vorstädtischem Dünkel als Hipster-Bude abtut, kennt die Vorgeschichte nicht. Ohne diese mag die Konsequenz des Duos als oberflächliches Bedienen der Nachfrage in „Bobostan“ erscheinen, wie sie einige der Wiener Eröffnungsrezensenten mit dem neunschwänzigen Satze peitschten.

Bruder Bar & Restaurant Wien

The Legacy of Oma am Windmühlgrund

Stoßen wir die Elektroroller, Man-Bun-Gassiführer und rosa Rundbrillen-con-Yogamatten-Besitzerinnen daher mal zur Seite und blicken auf die Drinks. Immerhin hat sich selbst Die Zeit in ihrer Würdigung des hundertsten Negroni-Geburtstags mit hanseatischem Scharfblick unter allen deutschsprachigen Tresen-Adressen die Windmühlgasse in Wien auserkoren, um der Leserschaft eine Variante ohne Campari vorzustellen. Die besagte „Morgenröte in Catania“ schmeckt wie eine im Gewächshaus erst noch nachzuliefernde Kreuzung aus schwarzen Nüssen und Blutorangen. Witzigerweise wird einem erst nach dem ersten Schluck dieses Cocktails (9 Euro) klar, dass das aromatisch auch den Klassiker aus Milano gut beschreibt.

Die eingelegten Johannisnüsse sind es, die wiederum die Arbeitsweise von Hubert Peter am besten beschreiben. Sie werden grün geerntet (eben am 23. Juni, dem Johannistag) und in Alkohol eingelegt. Das machen Großmütter in ganz Österreich so, allerdings sterben die guten alten Beilagen zum Wildbret damit auch langsam aus. Nicht aber am Windmühlgrund, wie der Teil der Stadt vor seiner Eingemeindung im 19. Jahrhundert mal hieß.

Bruder Bar & Restaurant Wien
Bruder Bar & Restaurant Wien
Bruder Bar & Restaurant Wien

Wald-Läufer mit Gsiberg-Connections

Es ist das Gassen-Geviert des romantisch zauberischen Wiens – um die Ecke wohnten der depressive Feenland-Besinger Ferdinand Raimund, der „Hanswurst“-Darsteller Josef Stranitzky, Fürsten-Diener und Grandios-Symphoniker Joseph Haydn und auch der eingewienerte Bonner Ludwig van hatte die Wohnstatt fußläufig vom „Bruder“.

Ein Touch aus dieser Zeit – Schaumrollenduft und Lederpantoffeln – findet sich im Raimund-Durchgang, der praktisch schnurstracks in den Garten der Bar führt. Wobei: So einfach ist das mit der Bezeichnung gar nicht. Denn die Tapas-Kultur am Windmühlgrund bedeckt jeden Tumbler mit einer hauchdünnen Schwiegermutter-Zunge, wie die Italos ihr Nicht-Knäckebrot nennen. Da kann dann Speck drauf sein oder Spargel und Holunder-Kapern. „All’s, was drin ist, hätt‘s auch drauf“, kommentiert Peter, gebürtiger Vorarlberger.

Bruder immer mit einem Auge in Vorarlberg

Womit wir bei einer der besagten Vorgeschichten wären. Aus deutscher Sicht klingen die Alemannen zwar wie Schwaben, man muss sie sich aber so exotisch vorstellen wie Saarländer in Berlin oder Leipzig. Superfleissig, kaum zu verstehen und stets auf der Suche nach anderen „Gsibergern“ (also Vorarlbergern), so lautet das Wiener Klischee über den Volksstamm im Westen der Alpenrepublik.

Wahr ist aber vielmehr, dass von den Almen und den Rotten im Bregenzer Wald mit die besten Käse und Gourmandisen kommen. Die man allerdings nur von Vorarlbergern gereicht bekommt. „60 Kilo Almbutter“ etwa lautet das Deputat, mit dem Steindorfer und Peter kochen und fatwashen. Simon Vetter, der Rheintaler Gemüsebauer mit schrägen Brennideen, liefert seinen irren Minzlikör mit Murmeltier-Etiketten, aber auch Kartoffelvodka, der wie Chips schmeckt. Von Kurt Fink kommt der Nationalschnaps über den Arlberg, der Husbirer heißt und nicht „Haus-Birne“ wie in Restösterreich. Konsequent wird auch der Bruder-Heuschnaps nur mit Vorarlberger Mähgut angesetzt, die Weißtannenessenz detto.

Bruder Bar

Windmühlgasse 20
1060 Wien

Mittwoch bis Samstag ab 17 Uhr

Wasser lassen unter lauter Brüdern

Leider aus ist aktuell der „Sigg“, ein mit Molkekaramell nur unzureichend beschriebenes Milch-Derivat, mit dem Hubert Peter einen Baileys-Ersatz für alle zaubert, die so was wollen. Dass man als Stammgast danach fragt, liegt an einem weiteren Teil der Vorgeschichte. Denn der mixologische Werbegang des Vorarlbergers stellt eine Radikalisierung dar, die in der eigenen Bar mündete.

Fermentiert und selbst angesetzt wurden Schnäpse und Liköre schon im „Kussmaul“ und erst recht in der kurzlebigen „Barrikade“, als Partner in crime kam im „Rien“ – einem Pop-up – dann Lucas Steindorfer dazu. Dieser kocht ebenso eklektisch wie Peter Drinks konzipiert. Und weil das so gut passt, finden sich dynamische Duos reihenweise auch am Klo: Max & Moritz, die Klitschko-Brüder, die Schalke-Legenden Erwin und Helmut Kremers oder die Rodel-Olympiasieger Wolfgang und Andreas Linger.

Unabgeschlossen: Die botanische Radikalisierung

Einer Mission bleibt Peter treu, und das ist die Idee der Autarkie bei der Spirituosen-Herstellung. Der Bestseller der vor einigen Monaten eröffneten Bar – sie folgte dem ähnlich ironischen, aber finanziell gescheiterten Hipster-Heurigen „Zum G’schupften Ferdl“ – stammt jedenfalls schon aus eigener Produktion. „Wermutlich“ gibt es mit Tonic in drei Varianten, die mit Sommelier Thomas Juranitsch und dem biodynamischen Winzer Michael Andert jedes Jahr neu angesetzt werden.

Wer sich für Wermut nicht erwärmen kann, der wird eben mit dem „Holler-Sekt“ bekannt gemacht – auch so ein Speisekammer-Bewohner bei Oma. „Die Industrie hat bei uns eh keinen Platz“, hat Hubert zumindest ein Etappenziel in seiner Suche nach einer Bar mit ausschließlich Hausgemachtem erreicht. Da kippen wir doch jetzt das „Ferment des Tages“ drauf, natürlich aus Vintage-Likörgläsern!

Bruder Bar & Restaurant Wien

Löwenzahn im Likörlager

Wenn da nur nicht die spärliche Zeit wäre. Denn an den zwei Schließtagen wird „einmal Büro gemacht, und einmal in der Wildnis gesammelt und vorbereitet“. Da kommt dann etwa Löwenzahn in das Likörlager oder Kirschblüten aus dem 22. Bezirk in die Botanisiertrommel. Damit daraus später der „Du bluffst doch“ wird – ein Whiskydrink mit Speck, Sauerkirsche und Wermutkraut, der ordentlich ins Kontor knallt. Soll keiner sagen, der Coaster darunter hätte nicht gewarnt: „Heute lieber rauschig“ steht da zu lesen.

Sanfter wird die Sour-Variante mit Erdnuss und Banane, die ein bisschen auch Zukunftsmusik darstellt. „Die Verbindung von Klassik und unserem Zugang“, sei der nächste Schritt, der Negroni alias „Morgenröte in Catania“ sei bereits ein solcher Cocktail, so Peter. „Irgendwann würde ich gerne nicht hinter der Bar stehen, sondern andere machen lassen“, träumt er dann mit einem „Kopf oder Zahl“ (12 Euro) in der Hand.

Bruder Julian, der Mann für Lobe

Dass dieser Spargel-Holunder-Mix, der mit Kerbel aufgepeppt wird, so witzig auf der Karte notiert, liegt übrigens an Julian Steindorfer, dem real existierenden Bruder des Küchenchefs, der für die Kommunikation im Bruder verantwortlich zeichnet. Er trinkt zwar keinen Alkohol, denkt sich aber rund um die Zutaten des flüssigen und festen Angebots allerhand Schrägheiten aus.

„Deine Waage lügt“, heißt etwa die Dessertkarte. Einen Drink namens „Rüttel am Watschenbaum“ gab es auch schon mal. Das kann angesichts der feinen Kreativbier-Auswahl (u. a. „Alefried“, „Xaver“ und „Gusswerk“) schon mal passieren. Denn stoppt man die Gastgeber nicht irgendwann bei ihren immer wieder angebotenen Likör-Kostproben, könnte man spätnachts glatt den alten Raimund-Ferdinand zitieren:

» Denn kaum trinkt man vierzehn Seidel,
Hat man schon kein Geld im Beutel,
Schnappt vom Fuß bis zu dem Scheitel
Zamm als wie ein Taschenfeitel,
Alles eitel. Noch ein Seidel! «

Aber das steht in „Der Verschwender“ – und nicht in „Der Bruder vom Windmühlgrund“.

Credits

Foto: ©Bruder / Manuel Haring / Roland Graf

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