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Zwischen Zombies und Zukunft: Clairin aus Haiti

Haitianischer Clairin, ein Rhum mit Stärke, rustikal-handwerklichem Charakter und Rohheit, ist ein spannendes Produkt im Barkosmos. Folgen Sie uns auf die Insel. Dort suchen wir nach dem Ursprung der Spirituose, die im kreolischen „Kleren“ heißt, und erklären ihr Potential zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

Die Bewohner Haitis glauben an Zombies. Sie haben Angst vor bösem Voodoo und so genannten Bokor, Schwarzmagiern. Denn wer sich im Leben etwas zuschulden kommen lässt, kann zur Strafe von ihnen aus dem Totenreich zurückgeholt werden. Wie das geschieht, ist ein sakrales Geheimnis. Und auch jahrhundertelange Kolonialisierung der Insel Hispaniola und Jahrzehnte der Missionsarbeit konnten diesen Zauber nicht austreiben. Man sagt heute, Haiti sei zu 70 Prozent katholisch, zu 30 Prozent protestantisch und zu 100 Prozent Voodoo. Und für die mysteriösen Rituale der synkretistischen spirituellen Praxis, ob nun gut oder böse, wird neben ekstatischer Musik, Knochenteilen, giftigen Pflanzen und bitteren Essenzen nicht selten vor allem eines benötigt: Alkohol.

Zwischen Himmel und Hölle

Denkt man Haiti und Hochprozentiges, fällt dabei meist nur der Name Barbancourt, vielleicht noch Vieux Labbé. In jedem Fall aber eine Spirituose aus Zuckerrohr. Immerhin wurde die hochwachsende Pflanze bereits 1517 durch die Spanier von den kanarischen Inseln nach Hispaniola gebracht und seither im großen Stil kultiviert. Französische Ko­lo­ni­a­listen brachten später zudem Wissen, Arbeitsweisen und Tradition der Alkoholproduktion und -reifung aus ihrer Heimat Cognac nach Haiti und legten den Grundstein der Rum-Produktion. Insgesamt mehr als 30 Rumhersteller versuchten sich daraufhin mit ihren Marken seit dem Jahr 1765 im Land, geblieben sind jedoch kaum eine Handvoll.

Das liegt nicht zuletzt auch daran, dass die großen, für den Export bestimmten Marken großer Konkurrenz gegenüberstehen und im heimischen Markt für viele nahezu unerschwinglich sind. Denn trotz großem kulturellen und natürlichem Reichtum, Lebensfreude und Sandstränden, gehört Haiti zu den ärmsten Ländern der Welt. Wo einst die französischen Besatzer eine wirtschaftlich ausgeblutete Brache hinterließen, dann der Tourismus in den 1980er Jahren blühte und der internationale Jet Set seiner Zeit feierte, liegt heute eine Zivilgesellschaft am Boden. Grassierende Epidemien, Korruption und Naturkatastrophen wie das Jahrhundertbeben von 2010 waren Sargnägel für den westlichen Teil Hispaniolas.

Und auch wenn es sechs Jahre danach wieder intakte Straßen gibt, sich das Land allmählich im Aufbau befindet und Hotels und große Supermärkte in der Hauptstadt Port-au-Prince öffnen, leben zwei Drittel der Bevölkerung unter der nationalen Armutsgrenze. Ihre Sorgen ertränken die Einheimischen daher mit Clairin: Nationalspirituose, Schnaps des kleinen Mannes, Moonshine. Und hierzulande kaum bekannt. Ein weißer, umgelagerter „Rum“ aus frischem Zuckerrohrsaft, dessen Charakteristik irgendwo zwischen Mezcal, Rhum Agricole und Pisco liegt.

Lokal wird Global

Dass das flüssige Kulturgut Haitis nun überhaupt seinen Weg in die hiesige Barwelt schafft, liegt laut Christoph Kirsch an der gewachsenen Begeisterung für kleinere, handwerklichere Produkte. „Die jüngsten Entwicklungen“, umreißt es Kirsch, der mit seinem Unternehmen Kirsch Whisky einige Clairins nach Deutschland importiert, „haben zum Glück eben nicht nur eine Flut an Gins und anderen Spirituosen neu auf den Markt gebracht, sondern auch dafür gesorgt, dass Spezialitäten aus aller Welt auf reges Interesse der Konsumenten stoßen.“

Es sind Nischenprodukte, regionale Spezialitäten und Liebhaberspirituosen mit Charakter aus allen Teilen der Welt. Dass es dabei, wohl auch beim Clairin, selten genug Potential zum massentauglichen Trend gibt, hemmt die Begeisterung nicht. Viele Kanten und Ecken, ungewohnte Aromatik und Komplexität machen heutzutage ein nicht industriell, aber dennoch sauber gearbeitetes Produkt aus – und attraktiv. „Zu Zeiten in denen Vodka noch seinen uneingeschränkten Höhenflug hatte, hätten derart charakterstarke Spirituosen wie die Clairins ohnehin einfach zu wenig Anklang gefunden“, fügt Kirsch hinzu und spielt auf die vor allem klaren, fruchtigen und zugleich erdigen und teilweise rauchigen Umami-Noten des haitianischen Nationalgetränks an.

Lage, Lage, Lage und ein bisschen Zufall

Geprägt wird die Aromatik insbesondere durch die rustikale, teilweise an Mezcal erinnernde Herstellungsweise, die verwendete Zuckerrohrart und den Zufall während der Fermentation. „Damit beginnen wir, sobald wir Zuckerrohrsaft gepresst haben“, erklärt Fritz Vaval, Produzent des gleichnamigen Clairins, die Herstellung. „Bis der Saft komplett fermentiert ist, dauert es dann drei Tage bis zu einer Woche. Je nachdem, ob wir Hefe selbst hinzugeben oder den ganzen Prozess natürlich belassen.“

Und „natürlich“ bedeutet in diesem Fall Spontangärung in Fässern oder Steintrögen an der Luft. Wie bei belgischen Lambics, Gose oder Weingütern, die besonderen Wert auf Terroir legen und das Verfahren als Marketinginstrument zur Differenzierung nutzen, kommen dabei wilde Hefen der Umgebung zum Einsatz. Terroir pur! Denn durch ihre einzigartige, natürliche Mikroflora verleihen sie dem späteren Endprodukt einen unverwechselbaren Eigengeschmack, machen praktisch jedes Batch Clairin zum Unikat und lassen große geschmackliche Unterschiede zwischen den einzelnen Hersteller zu.

Und das sind schätzungsweise immerhin 500 Clairin-Brennereien in ganz Haiti. Sie liefern alles zwischen „Trinken auf eigene Gefahr“, Blindheit in Flaschen und soliden Rauschmitteln. Einen internationalen Standard jedoch erreichen nur wenige. Die Kunst des Brennens, im Fall von Clairin auf einer vergleichsweise niedrigen Alkoholstufe zwischen 51 und 60 Volumenprozent, ist bei weitem nicht jedermanns Fortune. Abgefüllt wird der Stoff aus dem Alembic aber eben trotzdem! Für jeden Clairin üblich, unverdünnt, ohne Zugabe irgendwelcher Geschmacksstoffe und ohne jegliche Lagerung.

Zwischen schlecht und gut liegen Welten

In der Folge hat Haiti ein drastisches Alkoholproblem. Die Zahlen wirklich kritischer Alkoholvergiftungen eskalieren im Land, weil viele Hersteller ihr Feuerwasser unsauber ausarbeiten und panschen. „Es ist aber nicht Clairin an sich, der die Leute tötet“, versichert Eric Jean-Jacques II, Kopf hinter der Marke Clairin Lakay, „sondern es fehlt bei so vielen kleinen Produzenten einfach landesweit an Verordnungen und Überprüfung.“ Ginge es nach ihm, müsste die Regierung streng regulieren. Zumal die Triple-A-Standards, die als Bewertungskriterien für handwerklich sauber gemachten Clairin vor allem die Produktionsbedingungen umschreiben, nicht zwingend Rückschlüsse auf die Qualität erlauben. So zeichnet sich ein „AAA-Clairin“ durch folgende Attribute aus:

Das verwendete Zuckerrohr muss nativ sein, organisch angebaut werden, mit traditionellen Methoden von Hand geerntet werden und ohne Verwendung von synthetischen Chemikalien (Herbizide, Dünger, Fungizide usw.) kultiviert sein. Der Transport des Zuckerrohrs zur Brennerei muss mit Tieren erfolgen.

Die Fermentation des Zuckerrohrsafts muss allein durch die Verwendung von natürlichen Hefen und ohne Zusatz von industrieller Hefe stattfinden. Er darf ebenfalls nicht mit Wasser verdünnt werden, um die Grad Brix zu beeinflussen. Die Fermentation muss mindestens 120 Stunden dauern. 

Die Destillation erfolgt in kleinen Batches in Pot Stills oder kleinen Kolonnen mit maximal fünf Kolonnenböden über direktem Feuer.

Die Abfüllung des Alkohols erfolgt in der Stärke, in der gebrannt wurde, ohne Verdünnung und muss auf Haiti geschehen.

Rhum und Ehre

Erfüllt werden all diese Kriterien unter anderem von drei Clairins, die Kirsch in Deutschland anbietet und gemeinsam mit Rhum-Urgestein und Velier-Geschäftsführer Gianluca Gargano nach Europa holt. Dahinter stehen die Brenner Faubert Casimir, Fritz Vaval und Michael Sajous. Alle titulieren ihre Clairins stolz mit ihrem Namen, liefern grandiose Produkte, die eben alles andere als ein weiterer weißen Rum sind und eine Bereicherung für Impresarios am Shaker. „Auch meine ersten Erfahrungen mit Bartendern“, wirft Christoph Kirsch ein, „zeigen, dass charakterstarke Spirituosen im Stile der Clairins durchaus eine dauerhafte Ergänzung der deutschen Spirituosenlandschaft bilden werden.“

Ob jedoch das Potential zum großen Trend besteht, bleibt fraglich. Immerhin ist Clairin alleine schon durch seine Herstellungsmethoden und Lokalität begrenzt. Entsprechend geht auch Importeur Kirsch nicht davon aus, dass wir in den nächsten Jahren eine dreistellige Anzahl an neuen Clairin-Produkten auf dem Markt antreffen werden. Für Akzente sei jedoch gesorgt. Und davon abgesehen, sollte man wohl in erster Linie auch den Haitianern immer zuerst genügend Selbstgebrannten zugestehen, um sich vor Zombies zu wappnen.

Credits

Foto: Alle Bilder via Clairin.

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