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Jemill Wette

„Das 1090“: Nachwuchsarbeit in Wien-Alsergrund

Jemill Wette demonstriert auf zwei Etagen eindrucksvoll, dass jeder Wiener Bezirk ein Bar-Restaurant wie sein “Das 1090” haben sollte.In einem ehemaligen Billardcafé zelebriert der Barchef Ganztagsgastro auf hohem Niveau und bringt seinen Gästen dabei subtil Martini und lokale Brände näher.
Bartender, wer macht eigentlich das Nachwuchstraining eurer Gäste? Sazerac-Trinker wachsen schließlich weder auf Bäumen, noch rücken sie mit der mathematischen Präzision von 1,692% pro Geburtsjahrgang automatisch nach.
Im Idealfall sind das großvolumige Bars, die listig ein paar Optionen zum „Hoch-Trinken“ anbieten. Denn die Klugen unter ihren Betreibern wissen, dass nicht jedem beschlossenem Arbeitstag eine Haube aus Kamillen-Espuma übergezogen oder die geflämmte Thymian-Hutblume angesteckt wird. Manchmal muss es einfach ein Absacker in der Neighbourhood-Bar sein, vielleicht mit den Leuten, die schon vor drei Jahren hier am Tresen standen. Und dann und wann gibt man denen „etwas Besonderes“ aus. Oder verliebt sich selbst „was vom ganz Guten“ ein.
Dass derlei betreutes Trinken vom Start weg gelingt, bedarf versierter und bescheidener Kräfte. Selbstverwirklichung und Oberlehrertum lässt man lieber im Spind, eher wappnen Demut und Gebetsmühle für die laufende Begegnung mit Menschen mit Raten-Plänen, die abseits der onyx- und kupferbeschlagenen L’art pour l’art der Kellerlokale mit Telefonzellen-Eingang real existieren.

Jemill Wette: Von der Hotelbar in den „Neunten“

Die hohe Mixologie kennt Jemill Wette, der einer der Nachwuchscoaches der Wiener-Stadt ist, ohnehin. Genau genommen sogar wörtlich. 200 Meter hoch reckte sich seine Wirkungsstätte über der so genannten Donauplatte, einer Art künstlicher Insel mit großer Windlast auf den Hochhäusern und einer U-Bahn-Anbindung ins Zentrum, die in die Gegenrichtung wenige nach 17 Uhr nutzen.
Dass die 57 Lounge des Meliá Vienna Hotels einen guten Ruf genießt, verdankt sich seinen Bemühungen an diesem schwierigen Ort. Doch der Pionier ließ die Spitzenhotellerie sein und hauchte einem anderen, nicht unproblematischen Ort neues Leben ein. Der neunte Bezirk ist ein Schlauch, an dessen Enden mit The Sign Lounge und Botanical Garden bekannte Bars liegen. Auf halben Weg dazwischen fand Jemill Wette das ehemalige Billard-Café, dessen Nachnutzer wenig Fortune hatten.
Das 1090: Kühler statt Kugeln
Billard ist ein Zeitvertreib, den man Jüngeren heute schon fast erklären muss. Der Vorteil an den in etlichen Ecken Wiens einer Nachnutzung harrenden, abgewrackten Sportstätten für Queue-Träger (Wortwitz für Französischsprachige!): Sie bieten reichlich Platz. Im Falle des „Das 1090“, um auch einmal den Namen der Bar zu nennen, sogar perfekt auf zwei Etagen und einen riesigen Gartenbereich aufgeteilt. Womit auch die Bar „wandert“. Wenn sich das Leben draußen abspielt, bleibt oben – außer für Raucher – dicht. Ansonsten wird neben den Speisen auch die Cocktailkultur auf beiden Ebenen zelebriert.
Denn Das 1090 ist eine funktionierende Ganztagsgastronomie. Vom Frühstück bis zum Nightcap wird hier der Tageslauf am Alsergrund begleitet. „Wir wollen eine Wohnzimmeratmosphäre schaffen“, stapelt Jemill Wette, der das Lokal seit Ende des Vorjahres gemeinsam mit Marco Radanovics und Boris Kozomara führt, tief. Immerhin, das nahe Lycée Français hat Das 1090 schon entdeckt, in den Freistunden kommen die Schüler, „aber auch die Eltern trinken gerne etwas bei uns“. Zumal er viele Väter und Mütter wiedererkennt, aus den früheren, wilderen Zeiten.

Das 1090 macht Hinführen zum besseren Getränk

Jemill Wette ist dabei geduldig. Er hält es auch aus, wenn von versprengten Touristinnen die Panier vom Wiener Schnitzel geschabt wird (in der Vorstadt ein kulinarisches Kapitalverbrechen!). Mit dem erfolgreichen Betreiben einer Neighbourhood-Bar allerdings ist es für ihn nicht getan. Listig führt er die Gäste zu Neuem, im Idealfall Besseren. Würde er einen englischen Namen für die Restaurant-Bar suchen, „Nudge“, wie man dieses Hinstupsen zum Gästeglück im Marketing-Sprech nennt, wäre eine gute Wahl.
Der Ansatz des Profis äußert sich etwa darin, dass eine Karte nicht den Blockbuster Moscow Mule allein listet, sondern ihn mit vier Alternativen flankiert. Darunter einem für Otto Normal-Longdrink reichlich obskuren „Dublin Mule“ mit Bushmills.
Eröffnet wird die Cocktail-Karte noch niedrigschwelliger – für die Gartensaison am Bauernfeldplatz hat man gleich zehn Spritz-Varianten parat. Erst danach kommen die ausgefalleneren Kreationen wie ein „Negroni bianco“ (mit weißem Portwein). Gibt man dem Barteam, das Jemill Wette teilweise aus seiner früheren Wirkungsstätte gefolgt ist, freie Wahl, dann empfiehlt man den „Smoking Gun“. Einer der seltenen Drinks, in dem man Black Bottle Whisky findet; er wird geschmeidig gemacht mit einem „Waffenöl“ aus Honig und Drambuie. Mit Schmauchspuren von Ingwer und Limette kommt diese Kreation zum Gast. Eigentlich eine Granate, aber wie klingt denn „Smoking Grenade“?

Scharfe Sache: Im 1090 gibt es viel Chili

Mit Preisen von 6,50 Euro (Spritz) bis 11 Euro (die meisten Cocktails) bleibt man auch hier am Teppich. Der einzige Ausreißer ist der „French 1090“ (15 Euro), für den Granatapfel und Rosé Champagner zum Einsatz kommen. Und dass nicht jedes Detail immer sitzen kann bei der breiten Anlage des Lokals und den Gästeströmen, würde Jemill Wette selbst als erster einräumen. Allerdings, ihr snobistischen Barfliegen: Wer mit spitzen Fingern den nur semitransparenten Eiswürfel aus dem Tumbler fischt, sollte mal den dosierten Wasabi-Einsatz im „1090 Martini“ checken.
Der ist nämlich kein Einzelfall; scharfe Zutaten hat man hier gut im Griff – und das ist nicht leicht. Die Chili-Tinktur kippt schließlich schon mit ein paar nicht weggeputzten Kernen, erinnert sich Jemil Wette an einen Azubi, der sich Arbeit ersparen wollte. Diese konstante, pikante Zutat gibt sowohl der „Mango Margarita“ als auch dem „Spiced“ den Kick, in dem auch eines der Lieblingsprodukte Wettes, der Likör „Ingwerer“, zum verschärfenden Einsatz kommt. Derzeit ist dieser Cocktail sicher einer der Top 5 Wiener Drinks aus der so vernachlässigten Aromaabteilung „Savoury“.

Austro-Brände in allen Kategorien

Nicht selbstverständlich ist auch die Rubrik „Locals“. Sie hat Jemill Wette nicht den immer zahlreicher werdenden Gästen aus der Nachbarschaft gewidmet, sondern den einheimischen Spirituosen. Vom steirischen Gin bis zum Vorarlberger Vodka finden sich hier Alternativen zum internationalen Farbfächer der Rückbuffets.
Fast schon eine Säule der gesamten Karte ist aber der hauseigene Gin der Vorarlberger Freihof-Destillerie. „Gegen die scheinbar unheilbare Traurigkeit“ wurde er laut Label kreiert und findet etwa mit Ardbeg und Schokosirup zusammen im eleganten „Moonshiner“ (11 Euro). Natürlich kommt die Rubrik „Modern Martinis“ nicht ohne den auch zum Mitnehmen angebotenen Gin aus. Und wer weiß, vielleicht schwadroniert in einigen Jahren eine Barfliege spätnachts in Übersee: „Wissen Sie, meinen ersten Martini trank ich im 1090. Wien, wenn Sie’s kennen.“

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