Dick Bradsell: Ein Nachruf
Am Sonntag wurde bekannt, dass der einflussreiche Londoner Bartender Dick Bradsell, der die internationale Barkultur seit 1990 wie kaum ein Zweiter prägte, verstorben ist. Bei aller Prominenz seines Wirkens blieb Bradsell in der Öffentlichkeit stets eine stille, bescheidene Figur, die sich ihre Exzentrik fürs Private reservierte. Sein Nachwirken wird in der Barszene noch unzählige Jahre anhalten. Ein Nachruf auf einen der größten Gestalter und Denker hinter der Bar.
Es gibt dieses seltsame Sprichwort: „Hunde, die bellen, beißen nicht.“ Wer ordentlich Lärm macht, der stellt schon nichts Schlimmes an. Im Umkehrschluss meint es natürlich auch: Hüte dich vor dem stillen „Hund“ – vor dem, der sich, statt zu kläffen, seine Zeit zum Nachdenken nimmt. Denn dieser Hund setzt letztendlich wohlüberlegt zum Biss an, ohne vorher all seine Kraft ins Bellen verschwendet zu haben.
Das laute Bellen, das an der Bar und in der Spirituosenindustrie mit all ihren starken Egos, Launch-Partys, Wettbewerben, Empfängen, Fachmessen und Preisverleihungen in so vielen Facetten vorhanden und auch medial allgegenwärtig scheint, war niemals die Sache von Richard Arthur „Dick“ Bradsell. Nicht heute, wo das Bellen leichter ist als je zuvor. Und auch früher, in den Zeiten seines größten Ruhmes und Einflusses, blieb dieser Mann, der von der beschaulichen Isle of Wight aus nach London kam, immer ein Mensch der leisen Töne. Er dachte nach, hinterfragte und brachte dadurch die Bar weiter als fast jeder andere europäische Bartender seither. Vorgestern wurde bekannt, dass Dick Bradsell im Alter von nur 56 Jahren verstorben ist.
Die Idee des echten Geschmacks
Wenn wir heute das Nachwirken von Bradsells Arbeit zusammenfassen wollen, ist es unmöglich, sich auf einen Aspekt zu beschränken. Vielmehr bleibt ein komplexes Vermächtnis. Sein wichtigster Verdienst aus mixologischer Sicht liegt in der Wiederentdeckung der Frische, wenn man so will: in seinem Feldzug gegen den Sweet’n’Sour-Mix. Anfang der 1990er-Jahre war jener im Verbund mit Farbstofflikören, billigem Eis und Dosenfrüchten noch ein Stammgast in den „Spitzenbars“ von New York und London. Und während sich von der US-Metropole aus ein gewisser Dale DeGroff anschickte, auf seiner Seite des Atlantiks die Cocktailwelt mit klassischen Werten neu zu beleben, so war es in Europa – neben Charles Schumann – Dick Bradsell, der vor allem durch seine Arbeit als Bar Manager im heute geschlossenen Atlantic Bar & Grill den entscheidenden Impuls für etwas legte, was längst selbstverständlich in jeder nur halbwegs guten Bar ist: Die Frische und Qualität der Zutaten steht an erster Stelle. Diese Abkehr vom TGIF-Kettenbar-Wahn der 1980er, die Hinwendung zum reinen, natürlichen Geschmack mit all seiner Komplexität und teilweisen Unberechenbarkeit ist der große Akzent des Dick Bradsell gewesen.
So steht auch sein Drink-Erbe im Zeichen der Revitalisierung „echter“ Zutaten. Neben unzähligen anderen Schöpfungen ist es vor allem die Trias aus dem „Espresso Martini“, dem Rum-Old Fashioned „Treacle“ und natürlich dem „Bramble“, mit der sich Bradsell eine wahrscheinlich ewige Präsenz auf der globalen Getränkekarte gesichert hat. Sie alle setzen mit Zutaten wie frischem Espresso, frisch gepresstem Apfelsaft oder frischem Zitronensaft plus hochwertigem Crème de Mûre auf unverfälschtes Aroma jenseits der damals omnipräsenten Zuckerbomben. Gleich zwei davon – den Bramble und den Espresso Martini – hat Angus Winchester vor einigen Jahren in seine Liste der sieben modernen Cocktail-Weltwunder aufgenommen. Man mag diese Drinks aus heutiger Sicht vielleicht als nicht mehr wirklich zeitgemäß beurteilen (wenn auch die beiden letzteren noch immer die Topseller zahlreicher Bars sein dürften). Doch sie waren die Vorstufe, das Initial, der nötige Impuls, damit der heutige Gaumen wieder in der Lage ist, Sazeracs, Manhattans oder El Presidentes nicht nur zu konsumieren, sondern auch zu schätzen.
Das Erbe geht über den Drink und die Person hinaus
Doch der größte, gewichtigste Teil von Bradsells Arbeit ist jener, der sich nicht in ein paar Rezepturen sublimieren lässt, eben weil Bradsell niemals darauf setzte, sich als Person im Vordergrund zu verewigen. In einer Ära, in der Wissen einfach verfügbar ist und in der die Angehörigen einer vergleichsweise kleinen Szene wie der Barwelt sich global vernetzen und austauschen, sich kennen und auch einen Starkult etablieren, wusste sich Dick Bradsell stets auf das zu konzentrieren, was der Bar ihr Leben über den Moment hinaus garantiert: Das tägliche Handwerk und vor allem die Ausbildung des Nachwuchses. Denn mit seiner Arbeit als Mentor für einen gewaltigen Teil der heutigen Londoner Barszene erleben wir Bradsell bis heute als stilprägend, wie es Chris Moore noch am Sonntag Abend anmerkte. Als die Figur, die eine ganze Generation entwickelte, formte und begleitete.
Legendär sind die Schilderungen all jener heutigen Tresen-Granden, die, wie etwa Tony Conigliaro, fast alle davon berichten, dass sie an ihrem ersten Tag unter Bradsells Führung zunächst noch nicht einmal Schnaps in die Hand nehmen durften – denn am Anfang der gemischten Getränke stand für ihn immer noch die Limonade aus Süße, Säure und Verdünnung. Die Grundpfeiler für Myriaden von Drinks waren für ihn mehr als nur Beiwerk. Sie waren das Zentrum dessen, was heute bisweilen als „Mehrwert der Mischens“ bezeichnet wird. Diese Idee vom Betrachten aller Teile eines Drinks und die Abkehr vom Gedanken, dass ein Drink nur durch eine große Spirituose auch automatisch zu einem großen Cocktail wird und dass das sauber ausgeführte Handwerk von eminenter Bedeutung ist, darf vielleicht als das Diktum gelten, unter dem man das Konzept Dick Bradsells am besten zusammenfassen kann.
Die Exzentrik blieb bei Bradsell im Privaten
Ein unter vielen Bartendern verbreitetes, augenzwinkerndes Statement lautet, dass eine Cocktailkarte heutzutage erst dann ihre Bezeichnung wirklich verdient, wenn mindestens ein Drink von Dick Bradsell auf ihr zu finden ist. Dass er trotz dieses Ruhms und all der Anerkennung nie seinen Gleichmut verloren und sich stets auf die tägliche Arbeit an der Bar und deren Weiterentwicklung konzentriert hat, sagt viel über die Bescheidenheit des Menschen Bradsell aus. Mochte sein amerikanischer Mitstreiter im Geiste, Dale DeGroff, mit seinen Büchern zum „King Cocktail“ avancieren. Mochte sein Londoner Kollege Salvatore Calabrese mit viel Grandezza den teuersten Cocktail der Welt rühren und unter viel Medienbohei inszenieren.
Das Aufsehen um die eigene Person, der Lärm, das Bellen war niemals die Sache von Dick Bradsell, zumindest im öffentlichen Raum – seine Exzentrik in Bezug auf seinen Hang zum Cross-Dressing und auf seine Verhaltensweisen hat er sich stets für Privates aufgehoben und damit durchaus zu Kontroversen geführt. Doch auch ohne öffentliches Zähnefletschen: Seine Spuren, den Abdruck seines Biss, hat er trotzdem hinterlassen. Wie so oft sind es die leisen Töne, die nach dem Verhallen des Kraches bleiben.
Dick Bradsell wird der Barwelt und seinen Lieben fehlen. Das letzte, was von ihm bekannt wurde, war, dass er mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen hatte. Er ist nun nicht mehr als aktive Instanz zugegen. Seine Drinks werden bleiben. Vor allem aber wird seine Auffassung vom Bar-Beruf als bescheidenem Handwerk nie verschwinden.
Horst
Guten Abend.
Leider ist der Espresso Martini mit Vodka.
Das wollte ich nur anmerken, falls es nicht aufgefallen ist.
Ich finde Alkohol und Koffein verträgt sich auch überhaupt nicht. Wer macht den auch so ETWAS?
Mein herzliches Beileid weiterhin.
Liebe Grüße, Horst
Mixology
Lieber Horst,
der Espresso Martini basiert auf Vodka, das ist richtig – und der Text behauptet auch nichts Gegenteiliges.
Beste Grüße aus der Redaktion,
Stefan Adrian