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Bar am Steinplatz Barkarte

Die Sinne schärfen – mit der Barkarte des Jahres.

Die Berliner Bar am Steinplatz wurde bei den MIXOLOGY BAR AWARDS 2019 mit dem Preis für die „Barkarte des Jahres“ prämiert. Dahinter verbirgt sich ein Nachdenken über Sensorik. Denn was zunächst wie eine Spielerei mit reiner Visualität wirken mag, entpuppte sich schon während der Entwicklung für das Team zu einem neuen Ansatz in Bezug auf Konzeption und Kommunikation von Geschmäckern, Aromen und letztlich dem fertigen Cocktail. Einblicke in den Prozess der Erstellung.

Die Bartenderin bringt vier gleich aussehende Drinks, obwohl die Gäste vier verschiedene bestellt haben. Vielleicht der falsche Tisch? Sie stellt die mit farbloser, transparenter Flüssigkeit gefüllten Cocktailgläser ab. Im Halbdunkel der Bar sind erst jetzt feine Garnituren zu erkennen. Auf einem Drink schwimmt eine einzelne Blüte, ein anderer schimmert an der äußeren Glaswand vor rötlichem Staub. Ansonsten sind sie identisch. Nicht jedoch im Geschmack – das wird nach dem ersten Schluck klar.

„Wir wollten mit den Erwartungen der Gäste brechen“, sagt Christian Gentemann. Der Barchef der Bar am Steinplatz, die zum Hotel am Steinplatz gehört, überraschte bereits im April 2017 mit seinem Spirituosenkonzept, als er sämtlichen Gin aus dem Sortiment nahm. Im darauffolgenden Oktober wurde die Bar zum zweiten Mal in Folge als „Hotelbar des Jahres“ bei den MIXOLOGY BAR AWARDS ausgezeichnet. Der Mut zur Reduktion mag oft als Akt der Provokation aufgefasst werden. Gentemann geht es aber um die Schärfung des eigenen Profils, auch ums Nachdenken über Konventionen. Jetzt hat er es wieder gemacht: Normalerweise sei der Gast gewohnt, verschieden aussehende Kreationen vorgesetzt zu bekommen, wenn er Unterschiedliches bestellt. Die Drinks auf der aktuellen Karte serviert das Team im gleichen Glas, und sie sind klar – und zwar alle zehn. Ein Anspruch, der so stringent und durchdacht umgesetzt wurde, dass die Bar am Steinplatz vor drei Wochen erneut mit einem MIXOLOGY BAR AWARD ausgezeichnet wurde – diesmal für die „Barkarte des Jahres“.

Die Idee dazu bekam Gentemann in Form vieler clarified Drinks in London serviert. Sofort wollte er ein eigenes Konzept für seine Barkarte in Berlin entwickeln. Doch das „Klären“, ob mit Zentrifuge oder Filter, ist eine arbeitsreiche Zubereitungsart. Erfahrene Kollegen sagten dem Barchef: Um ein Konzept mit dieser Thematik und Technik umsetzen zu können, müsse er eine Person pro Woche einen gesamten Arbeitstag damit beauftragen, lediglich Vorbereitungen zu treffen.

Die Barkarte des Jahres: Händeringen

„Unser Team ist klein“, sagt Christian. „Es wurde relativ schnell klar, dass wir den technischen Kram operativ nicht umsetzen können.“ Eine Lösung musste her. Fest entschlossen, ihr Vorhaben umzusetzen, entschieden Christian und seine Crew, Anne Linden und Stefan Gunzelmann, nur farblose und transparente Produkte zu nutzen und Pre-Mixes für jeden Drink vorzubereiten. Eine kleine Recherchereise begann.
„Die Produktsuche war super spannend“, sagt Linden. „Wir haben völlig neue Sachen kennengelernt.“ Stefan erinnert sich etwa an einen farblosen Cognac, den er bei seinen Nachforschungen fand. „Die anfängliche Beschränkung wurde zur Bereicherung“, erzählt er. Die Suche an ungewohnten Stellen sowie die vielen Neuentdeckungen, so die beiden jungen Bartender, hätten ihre Kreativität gesteigert und die persönliche Entwicklung vorangetrieben. Christian habe erstmals die Rolle eines „Regisseurs“ eingenommen und lediglich im Hintergrund Ideen beigesteuert. Nur einer der zehn Drinks, sagt der Chef, sei wirklich „seine“ eigene Kreation.

Blindes Vertrauen

Sehende Menschen nehmen rund 80 Prozent ihrer Umwelt mit den Augen wahr, diese neurologische Erkenntnis ist nicht neu. Wir verlassen uns auf sie, selbst wenn sie uns in die Irre führen. Wissenschaftler der Universität von Washington fanden beispielsweise heraus, dass Farbe Einfluss auf unseren Geschmackssinn haben. Roter Joghurt schmeckte in einem Experiment für die meisten Probanden nach Erdbeere, obwohl er nur gefärbter Naturjoghurt war. Andere Tests der US-amerikanischen Forscher F. M. Clydesdale und J. Johnson zeigten, dass Versuchspersonen einen stärkeren Rot-Ton mit stärkerer Süße verbanden, auch wenn die Probe mit einem schwächeren Rot-Ton die gleiche Menge Süßungsmittel enthielt. Weitere Versuche der Forscherin J. Stillman von der Universität Auckland in Neuseeland deuten darauf hin, dass es uns leichter fällt, einen Geschmack zu identifizieren, wenn die Farbe darauf hinweist: Ein orangefarbenes Getränk etwa verbinden wir schneller mit dem Geschmack von Orange als eine farblose Flüssigkeit.

Geruch und Geschmack – ein gleichgesinntes Paar

Auch Geruchs- und Geschmackssinn sind eng verbunden, jede Erkältung beweist das. Ist die Nase zu, lässt auch der Genuss beim Essen und Trinken nach – wir schmecken weniger. Fehlt uns ein Sinn, können wir uns etwa nicht mehr auf visuelle Informationen verlassen, können die anderen Sinne „kompensieren“.

Experimentelle Gastronomie

Mit dem Zusammenspiel der Sinne experimentieren bereits die unterschiedlichsten Gastronomiekonzepte: In der Berliner Bar Fragrances im The Ritz-Carlton wählen Gäste ihre Getränke aufgrund von Geruchsvorlieben aus. Im Londoner The Fat Duck bekommen Besucher Kopfhörer zum Essen – Meeresfrüchte mit Meeresrauschen etwa –, für ein intensiveres Geschmackserlebnis. Und Leute, die Dunkelrestaurants besucht haben, berichten oft, sie hätten bewusster gegessen denn je. Das Team der Bar am Steinplatz beobachtet seit Mai dieses Jahres etwas Ähnliches: Fällt der visuelle Aspekt größtenteils weg, gehen die Gäste anders mit ihrem Drink um. „Sie schnuppern mehr, trinken bewusster“, berichtet Linden. Auf Grund des Aussehens und der Farben ganz besonders, würde man einem Cocktail normalerweise viele Attribute zuschreiben, die eine bestimmte Erwartung festlegen. Wollen die drei ihre Gäste fordern?
„Darum geht es nicht“, sagt Gunzelman. „Am Ende sind es Drinks und die sollen einfach schmecken und Spaß machen.“ Die Karte fördere Neugierde, erzählt Linden. „Man kommt öfter mit Gästen ins Gespräch, wenn sie sich wundern“, sagt sie. Zunächst würden sie erzählen, was sie wahrnehmen und welche Assoziationen die Geschmäcker bei ihnen wachrufen: Der Drink „Erdbeere | Schokolade | Wermut“ erinnere manche an die klassische Eiscreme-Kombination im Sommer, andere schlicht an Yogurette.

Das Periodensystem der Getränke

Die Karte selbst könnte direkt aus dem Chemieunterricht stammen und zeigt für jeden der zehn Drinks ein Aromenrad – inspiriert vom Freimeister-Kollektiv. Die Brenner-Gemeinschaft zeigt auf ihren Flaschen jeweils grafisch, was geschmacklich zu erwarten ist. Emojis der Grundzutaten – Erdbeere und Schokolade etwa – entdeckte Gentemann in einem Restaurant in Singapur. „ Das wollte ich unbedingt haben“, erinnert er sich. Die Menükarte dort habe 25 Gerichte ohne Worte oder Buchstaben, nur mittels der Minisymbole beschrieben.

Verwechslungsgefahr bannen

Christian vergleicht das Konzept gerne mit dem eines Restaurants: Wer Lust auf Sushi hat, gehe ganz gezielt in ein Sushi-Lokal. Wer Appetit auf Fleisch hat, würde ein Steakhouse besuchen. „Die meisten Bars haben kein wirkliches Profil, weil man versucht, möglichst viel von allem mitzumachen und dem Gast alles zu bieten, was er haben möchte.“, sagt er. Dieser Meinung sei er mittlerweile nicht mehr. „Mir geht es darum, dem Gast zu zeigen, was wir gerade spannend finden.“ Bestenfalls käme er genau deswegen in die Bar – „weil er uns vertraut und weiß: ‚Da bekomme ich immer etwas anderes‘.“ Gentemann ist es wichtig, das Profil zu schärfen. Um in Erinnerung zu bleiben. Das macht der Barchef mit unzähligen Flaschen, gefüllt mit klaren Flüssigkeiten – Pre-Mixes und Basis-Spirituosen. „Labeln“ sei ein Unwort im Team geworden, erzählt Anne schmunzelnd.

Der feine Unterschied

Sogar die minimalistischen Garnituren, die dem Team als einzige optische Unterscheidung dienen, sorgen bei Gästen für Verwunderung. Einen der Drinks etwa, mit Mezcal sowie den Aromen der Mandarine und Limette zubereitet, ziert ein Blatt der Austernpflanze. „Aufgrund von fehlender Erfahrung sieht man einem Blatt oft nicht sofort an, wonach es schmecken wird. Dieses schmeckt tatsächlich wie eine Auster“, sagt Anne. Das salzige Aroma passe zum rauchigen Aroma des Mezcal und der Frische der Mandarine. Die Textur sei aber eine „falsche“ – es schmeckt nach einer Sache, fühlt sich im Mund aber nach einer anderen an. Ein wahres Geschmackskarussell. Und das eben ganz ohne Farbe. Aber alles andere als farblos.

Ausgewählte Rezepte

Shiso | Jasminblüte | Bergamotte
4,5 cl Blanco Tequila mit Shiso-Infusion
2 cl Limettenwasser
1 cl Faude Feine Brände Bergamotte
1,5 cl Jasminsirup
Garnitur: Jasminblüte

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Mandel | Kirsche | Limette
3,5 cl Cachaça
2,5 cl Faude Feine Brände Kirschbrand
3,5 cl Limettenwasser
2,5 cl Mandelsirup
Garnitur: Staub aus gefriergetrockneten Kirschen am Glasrand

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Erdbeere | Schokolade | Wermut
3,5 cl Mozart Dry
3,5 cl Erdbeer-Cordial
2,5 cl weißer Wermut
0,5 cl Zitronenwasser
Garnitur: Maisblüte mit Staub aus gefriergetrockneten Erdbeeren

Hinweis vom Team: Das Limetten- & Zitronenwasser wird exklusiv vom Team der Stairs Bar für die Bar am Steinplatz produziert.

Der vorliegende Text stammt in seiner ursprünglichen Fassung aus der Sonderausgabe 2018 von MIXOLOGY, dem Magazin für Barkultur. Aufgrund der Auszeichnung der Bar am Steinplatz für die „Barkarte des Jahres“ bei dem MIXOLOGY BAR AWARDS 2019 wurde der Text leicht angepasst.

Credits

Foto: Titelbild: Constantin Falk; Weitere Bilder: Katja Hiendlmayer

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