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Buch und Bar: Von Granathülsenbowlen und Schüttelbechern

„Bowlen und Pünsche für den Feld- und Manövergebrauch der Deutschen Armee.“. Doch. Dieses Buch hat es gegeben. Aber nicht nur das: Es gab auch eine Variante für den zivilen Konsumenten. Und auch Harry Johnson hatte seine Hände im Spiel. Irgendwie.
Der Journalismus ist eine originär künstlerische Angelegenheit, das sieht man schon daran, dass das ein französisches Wort ist. Und Kunst lässt sich nicht in Formen pressen, sie soll Ketten sprengen, Grenzen aufbrechen, Mauern einreißen …
Man zapft sich also um halb zwei Uhr nachmittags den ersten Morgenespresso aus der La Pavoni, steckt sich den Touchpen-Adapter auf den Montblanc, um instantan Feinsinniges ins iPad zu drechseln, und sieht sich missmutig mit folgender Zumutung konfrontiert: Der Artikel muss innerhalb eines 900-Wörter-Korsetts stattfinden. Vermutlich geht dem Internet sonst der Platz aus.

Soldatisches Durstgefühl

Umso bitterer ist es, wenn es ein Buch zu behandeln gilt, dessen Titel allein schon das Wörterkontingent zusammenschmelzen lässt wie das Prepaid-Guthaben bei der Erotik-Hotline: Das Werk nennt sich „Bowlen und Pünsche für den Feld- und Manövergebrauch der Deutschen Armee. Ein Rezeptbüchlein zur Bereitung von allerlei stärkenden Getränken, gesammelt aus den Kursen der Feldartillerie-Schießschule zu Jüterbog. Mit einem Anhange gastronomischen Inhalts.“
Holla die Waldfee. Auch ohne einen Blick in das Buch geworfen zu haben, erscheint die Bilanz zweier verlorener Weltkriege plötzlich in einem anderen Licht. Aber gemach: Man nähert sich so einem Werk ja mit der unverhohlenen Hoffnung auf Skurrilitäten, und diese Hoffnung wird auch nicht enttäuscht. Ohne Umschweife geht es zur Sache: Das Buch (das sich, obwohl ohne Jahresangabe, recht gut auf etwa 1902 datieren lässt) soll der Gesundheit des Soldaten dienen. Natürlich. Nichts ist dem Feldherrn unangenehmer als ein Soldat, der von einer gänzlich unmilitärischen, quasi defätistischen Todesursache dahingerafft wird, bevor er sich pflichtgemäß niederschießen lassen kann.
Und jetzt kommt’s: Durch das Abfeuern der Kanonen (besonders während der Manöver) entsteht beim Kanonier ein „vermehrtes Durstgefühl“, und wir alle wissen, was der Durst für ein elementares Problem ist. Hinzu kommt, dass das neue rauchschwache Pulver die Körpertemperatur nicht mehr so anheizt wie die alte Variante, weshalb besonders die Westheere zu Frostbeulen neigen. Die Ostheere hingegen können nicht auf den „leichten guten Moselwein“ zurückgreifen und müssen sich mit dem örtlichen Fusel zufriedengeben. Und schon leidet die halbe Armee unter Leberzirrhose. Also brauchen die einen Getränke zur Steigerung der Körpertemperatur, während die anderen mit „gut bekömmlichen leichten Sommergetränken“ versorgt werden müssen.
Bowle Armee

Vandalenwasser und Granatfüllung

Selten gab es wohl ein Buch, das aus rein altruistischen, gesundheitsfördernden Motiven eine derartige Masse an Schnaps präsentiert hat. Der Inhalt lässt nichts zu wünschen übrig: der „Altbrandenburger Kaffee“ etwa, der mit Portwein und Cognac, aber gänzlich ohne Kaffee funktioniert und „für (sic!)
Schwächezustände“ empfohlen wird. Das „Vandalenwasser“, „zur Zeit der gefrorenen Kanonenröhrchen zu empfehlen“. Oder, mit der ungehemmten Grobheit einer von Political Correctness gänzlich unbelasteten Zeit, die „Granatfüllung C/1900 (auch Türkenblut oder Pelzbowle genannt) (gegen widerstandsfähige Ziele benutzbar)“.
Damit wird es aber spannend: Das Buch hat nämlich einen Zwilling. Derselbe Verlag, J. J. Weber, Leipzig, vermutlich zeitgleich oder nahe hintereinander erschienen: Bowlen und Pünsche, aber ohne Feld oder Manöver. Inhaltlich fast identisch, aber ohne Frostbeulen und Regimenter, dafür mit hübscheren, teils kolorierten, zivilen Jugendstil-Ornamentiken – und auch das Türkenblut ist darin aufgeführt mit seinem Drittel Sekt und zwei Dritteln Porterbier, aber nicht in einer leeren Granathülse angerührt, sondern in einem Karlsbader Becher, was in etwa dem stilistischen Gegenteil einer Granathülse entspricht.
Es lassen sich weitere Beispiele anführen: die Ananasbowle in dem einen Band ist für Haubitzbatterien gedacht, in dem anderen für Afrikareisende. Die „Haubitze“ (Eidotter, Kognak, Curaçao, Sekt) heißt andernorts „Grand Prix de l’exposition de 1900“, und der in beiden Versionen erwähnte Ausruf „C’est une chose!“ ergibt tatsächlich nur im Bezug auf die Pariser Weltausstellung Sinn.
Bowle Armee

Wahrheit oder Wehrpflicht?

Was ist also von der ganzen Geschichte zu halten? Welche Henne legte welches Ei? Ist eines der beiden Bücher bloß eine Theaterkulisse? Die Zivilversion berichtet im Vorwort vom Telegramm einer eingeschneiten Gesellschaft im Harzer Brockenhaus, die um das Rezept für einen „recht guten Sylvesterpunsch (sic)“ bittet, woraus der Verlag dann gleich ein Buch gemacht habe. Nette Geschichte, aber plausibel?
Und was den Militärband betrifft: Auch wenn man schon an der Stichhaltigkeit der einzelnen militärischen Rezept-Referenzen zweifeln kann, so ist es doch ziemlich unwahrscheinlich, dass ein Verlag im wilhelminischen Deutschland ohne Erlaubnis ein Buch mit so vielen ausdrücklichen Verweisen auf reale Truppenteile und Geschehnisse publizieren kann („Dieses Buch wird nur an Offiziere abgegeben. Ein Teil des Reingewinns fällt den wohlthätigen Stiftungen für die nach China kommandierten Truppen und deren Hinterlassene zu“).
Da hätte er keinen Spaß verstanden, der Soldat unter seiner Pickelhaube. Es gibt jedoch noch ein weiteres Rätsel, beinahe schon ein richtiges Mysterium: Das Buch wird seinem Namen durchaus gerecht, indem es nämlich eine ganz Menge Bowlen und entsprechend viele Pünsche (wobei der Duden den korrekten Plural mit „Punsche“ angibt) bietet.
Bowle Armee

Von zierlich gedrehten Citronenschalen

Ein anderes Kapitel jedoch ist tatsächlich spektakulär: In diesem eigenartigen Ratgeber für Armee-Besäufnisse gibt es doch tatsächlich einen Abschnitt für „American Drinks“. 1902, wohlgemerkt! Cobbler, Cocktails, Sours („Die Cocktails werden im Schüttelbecher gemischt, in ein kleines Cocktailglas geseiht und nur mit einem Stückchen Citronenschale versehen, das man zierlich drehen muss, um das in ihr enthaltene Citronenöl auf den Cocktail zu sprengen“).
Manhattan, Martini (Zucker, Angostura, Curaçao, halb Old Tom Gin, halb Vermouth – nicht sonderlich dry), Brandy Crusta; ganz außergewöhnliche Dinge für das Deutschland jener Zeit, und besonders für den recht speziellen Kundenkreis aus Soldaten, die anscheinend vorzugsweise aus Kanonenrohren soffen. Ein wenig werden die Rezepte auch bezüglich ihrer Qualitäten als „Frühstück- oder Vorabendgetränk“ belächelt, und gerade deshalb erscheint dieses Kapitel wie ein glänzendes, kleines Raumschiff, das gerade inmitten einer Pfahlbautensiedlung gelandet ist. Herrlich feine Illustrationen zieren die Drinks; der „Schüttelbecher“ wird erklärt, von „Dashes“ gesprochen, und während im Mutterland dieser Getränke noch jahrzehntelang „Curaçoa“ geschrieben werden wird, weiß man es in diesem Büchlein schon besser.
Diese Rezepte entstammen, genau wie die Illustrationen – Achtung, Trommelwirbel, Kunstpause, Spannung … sie entstammen der wenig bekannten, rein deutschen Version von Harry Johnsons legendärem „Handbuch für Bartender“, erschienen 1900, ebenfalls bei einem Leipziger Verlag, genau wie unser Büchlein. Teilweise wörtlich abgeschrieben, teilweise ein wenig anders angeordnet, manchmal ein wenig abgeändert.
Was in drei Teufels Namen hat denn nun das wieder zu bedeuten? Hat da ein Verlag beim anderen abgeschrieben? Wäre schon reichlich dreist, besonders bei einem direkten Nachbarn. Harry Johnson war wohl auch in Deutschland, um sein Buch zu bewerben; vielleicht gab es da ja auch einen kleinen Nebenverdienst für ihn. Man weiß es einfach nicht, und das oben erwähnte Wörterkorsett zwingt mich nun, diese Fragen offen zu lassen und zum Ende zu kommen.
Bowle Armee

Für den interessierten Sammler?

Jedenfalls: Das Buch mit den Bowlen und Pünschen taucht nur alle heiligen Zeiten mal antiquarisch auf, zum Teil zu astronomischen Preisen. Der hübschere und dennoch unscheinbarere Zwilling hingegen ist immer wieder schon für einen geringen, zweistelligen Betrag zu erwerben. Und das ist mal eine richtig günstige Gelegenheit für den interessierten Sammler, einen beinahe richtig echten Harry Johnson zu erwerben.

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