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Der Bull Shot für Mutige

Schon die Bloody Mary hat entweder Liebhaber oder Feinde. Beim Bull Shot ist es noch ein wenig extremer: Kalte Rinderbrühe mit Vodka? Ernsthaft? Oder nur ein Scherz? Wir nehmen uns nach der Festsaison diesen deftigen Brecher einmal vor und stellen fest, dass man hier mit der alten Theorie von der Spirituose als Basis nicht weiterkommt.

Was soll man von einem Drink halten, der tatsächlich als eigentliche Hauptzutat nach kalter Rinderbrühe verlangt? Man mag darüber den Kopf schütteln, den Cocktail als Scherz ansehen oder aber sich freuen. Wer aber von sich behaupten möchte, im Drink-Universum wirklich so viele Galaxien wie möglich ergründet zu haben, der darf sich davor nicht scheuen, auch mal die Consommé vom Vortag an die Bar zu holen.

Bull Shot: die alkoholfreie Basis

Denn genau das ist das Stichwort: Consommé. Nicht einfach Brühe. Zu behaupten, der Bull Shot sei ein Vodka-Drink, der hat nach der üblichen Basisspirituosenregel zwar Recht, aber eigentlich doch Unrecht. In Wirklichkeit ist dieser Cocktail mit der nicht wirklich nachvollziehbaren Provenienz – ähnlich seiner berühmten Schwester Bloody Mary – nämlich ein Drink, der eine alkoholfreie Basis hat: was der Bloody Mary der Tomatensaft, ist dem Bull Shot die kalte Rinderconsommé. Dazu kommen die üblichen Gewürze, die in vielen „Savoury Drinks“ oder geistigen Katerwundermitteln eine Rolle spielen: Herzhaftes vertreibt den Schmerz und bringt neues Leben in den Leib – so zumindest der landläufige Grundsatz.

Bloody Mary, weitergedacht

Schon die Geschichte der Bloody Mary ist schwierig nachzuvollziehen. Camper English etwa hat zwar darauf hingewiesen, dass der wahrscheinlichste Urheber ihrer heute gängigen Form Fernand Petiot gewesen ist, der den Drink in den 1920ern als Bartender in Harry’s New York Bar in Paris mit Vodka entwickelt haben soll. Zwar war die Mischung aus Vodka und Tomatensaft schon vorher bekannt (etwa durch George Jessel, worauf beispielsweise Dale DeGroff 2008 in „The Essential Cocktail“ aufmerksam gemacht hat), dennoch liegt ihr modernes Wesen im Wirken Petiots begründet, der durch die Zugabe der charakteristischen Gewürze wie Salz, Pfeffer, Sellerie und Worcestershire Sauce die Mischung aus Vodka und Tomate erst zu jener Deftigkeit erhoben hat, der die Bloody Mary seit Jahrzehnten ihre Popularität bei Verkaterten und amerikanischen Brunch-Gästen verdankt.

Und genau an dieser Stelle setzt der Bull Shot an, dessen Historie aber noch nebeliger ist: bei der Deftigkeit. Denn was der Vorläufer Bloody Mary noch an Süße und Säure mitbringt, geht dem Bull Shot ab. Hier steht nichts im Vordergrund als die volle, würzige Kraft all jener typischen Gewürze, die seit jeher für eine gute, kräftige Brühe stehen. Der Drink ist daher sogar noch deutlicher fokussiert auf den „Filler“ als die Bloody Mary.

Ein Drink ohne Herkunft

Über die Geschichte des Bull Shot ist nur wenig bekannt. So wirklich scheint sich niemand zu ihm bekennen zu wollen, zumindest geistert kein Name durch den Äther, wie es sonst bei so vielen Drinks – auch jenen mit zweifelhaftem Ruf – der Fall ist. Fest steht, dass sie das erste Mal in den 1950er Jahren auf Barkarten in den USA auftauchte und unter gewissen Wirkungstrinkern einen durchaus guten Ruf genossen hat. Der Nachkriegs-Tiki-Gott, Systemgastronom und mutmaßliche Mai-Tai-Schöpfer Victor „Trader Vic“ Bergeron – so wird kolportiert – soll ein Freund der Mischung gewesen sein.

Wenn man nun einen Grund sucht, warum sich die Variante mit Tomatensaft gegenüber jener mit Brühe durchsetzen konnte (denn beide verheißen gerade dem Katertrinker am Morgen prinzipiell das Selbe), dann muss man annehmen: es liegt schlicht an der Verfügbarkeit der Grundzutat. Tomatensaft kann man fast überall kaufen, eine gute Rinderbrühe nicht. Das gilt nicht nur für den privaten Rahmen, sondern auch für die Bar. Wer nicht gerade in einer Hotelbar arbeitet und auf gut ausgestattete und wohlwollende Kollegen aus der Küche zurückgreifen kann, wird sich aus nachvollziehbaren Gründen nicht die Mühe machen, in langer Feinarbeit eine Consommé anzusetzen, die am Ende womöglich schlecht wird – weil die Gäste den Bull Shot entweder nicht kennen oder sich vor der Mischung fürchten. Es soll daher hier kurz vor allem um die Consommé gehen:

Die Consommé ist das Zentrum

Während man in Frankreich mit „Consommé“ grundsätzlich jede klare Suppe meint, steht der Begriff ansonsten meist für eine nicht nur abgeseihte und entfettete, sondern eigens aufwendig geklärte Brühe. Damit ist nichts anderes gemeint, als dass nach dem Abseihen und Entfetten der Brühe geschlagenes Eiweiß untergemischt wird. Beim anschließenden, erneuten Aufkochen gerinnt dieses und bindet dabei einen großen Teil der Trübstoffe, das erneut abgeseihte Ergebnis ist im Idealfall eine zwar farbige, aber fast glasklare Brühe mit einem gleichzeitig würzigen, aber elegant-feinem Geschmack. Für eine gute Rinderconsommé braucht man nichts anderes als durchwachsenes Suppenfleisch vom Rind (vor allem Querrippe, Brust, Schwanz oder Flanke). Hinzu kommt klassisches Suppengemüse (vor allem Sellerie), eine geröstete Zwiebel und Gewürze, etwa schwarzer Pfeffer, Knoblauch, Piment, Sternanis, Nelken, Lorbeer und Liebstöckel. Auf die Zugabe von Markknochen oder Kalbsfuß, sonst essenzielle Zutaten, die durch ihren hohen Anteil an Bindegewebe eine tolle Bindung beisteuern, sollte im Falle des Bull Shot verzichtet werden, da die kalte Brühe sonst zu stark gelieren könnte.

Alles wird mit so viel Wasser im Topf kalt aufgesetzt, dass die Zutaten bedeckt sind, aufgekocht und dann für mindestens zweieinhalb Stunden leise simmernd gekocht, und zwar noch ungesalzen. Nach dem Kochen wird die Brühe abgeseiht und durch ein feines Sieb passiert. Es folgt das beschriebene Klären mit Eiweiß (für einen Liter Brühe genügen meist schon zwei Eiweiße). Gesalzen wird im Idealfall erst jetzt, denn die Brühe müsste nach dem Klären ohnehin noch einmal abgeschmeckt werden.

Regeln und Freiheiten

Nach dem Erkalten der Brühe steht dem Vermixen im Bull Shot dann nichts mehr im Wege. Zwar legen die meisten Rezeptbücher nahe, mit den üblichen, oben erwähnten Bloody Mary-Gewürzen zu „tunen“ – aber im Falle einer wirklich gelungenen Consommé ist das tatsächlich so gut wie unnötig. Einzig der Spritzer Zitrone nimmt der ganzen Angelegenheit ein wenig von ihrer Schwere und bringt mit einem Hauch Säure zudem eine weitere Dimension ins Glas. Alles weitere Würzen bleibt dann dem persönlichen Geschmack vorbehalten. So sollte auch jeder Bartender den Gast fragen, wie gewürztechnisch nachgeholfen werden soll, z.B. mit Tabasco, Rettich, Pfeffer oder Kräutergarnituren. Übrigens kann ein Tropfen Aromatic Bitters dem ganzen Drink tatsächlich das Gewisse Etwas verleihen, obwohl das bislang noch nirgendwo steht. Wer hingegen Gin statt Vodka verwendet, wird überrascht sein, wie viel Leichtigkeit und Frische eine Brühe haben kann.

Der Bull Shot bleibt ein Drink für Furchtlose. Für alle Anderen ist die Vorstellung einer kalten Brühe allein wahrscheinlich schon zu viel. Richtig zubereitet aber ist er mehr als nur ein interessanter Spaß. Vor allem durch die Abwesenheit des Tomatensaftes ist der Drink in gewisser Weise trockener, erwachsener und geradliniger als die Königin Bloody Mary. Der Bull Shot wird zwar niemals deren Kronprinz sein. Aber als Bad Boy darf man diesen Charakterkopf auch nicht abstempeln. Sind sie schon auf dem Weg zum Metzger Ihres Vertrauens?

Credits

Foto: Brühe via Shutterstock

Comments (1)

  • Dr. Uwe J. Petersen

    Diese Beschreibung des Cocktails und seiner Herstellung ist seinem besonderen Charakter auf angenehme Weise artverwandt und genauso gut. Seine Exklusivität liegt in der Mühe der Herstellung der Grundsubstanz, deren Qualität allein über den Erfolg der Mixtur entscheidet. Die Mühe macht man sich nicht für jeden! Das Ausprobieren wert ist der Hinweis auf Gin. Auf Menorca haben sie einen eigenen Gin, den sie im großen kugeligen Gläsern mit viel Eis und Wacholderbeeren als Gin-Tonic servieren. Anregender Gedanke.

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