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Flavor Tripping: Funkstille auf dem sauren Kanal

Der Mensch unterscheidet fünf Geschmäcker. Beim Flavor Tripping-Selbstversuch blockiert unser Autor Robert Schröter seinen Sauerrezeptor.
Als Folge funktionieren Sours ohne Zuckersirup – zumindest für kurze Zeit. Ein Experiment zwischen Mirakulin und Aspartam. Und einer simplen Einsicht zum Schluss.

Kaum hat man die Existenz von umami akzeptiert und seine gemeine Weltsicht von vier auf fünf Geschmäcker ausgeweitet, drohen auch schon, Nummer sechs und sieben dazu zu stoßen: Scheinbar haben wir auch Rezeptoren für Fett und Stärke! Doch noch bevor wir uns auf derlei Themen stürzen, soll es erst einmal um Reduktion statt Addition gehen: Wir blockieren einen unserer Geschmackssinne.

Aus Westafrika bis ins Labor

Um Flavor Tripping zu erklären, schauen wir zuerst nach Westafrika, die Heimat des Baumes Synsepalum dulcificum. Dieser Baum trägt kleine rote Beeren, welche lokal als “miracle berries” bekannt sind und die das sonst nicht in der Natur vorkommende Glykoprotein Mirakulin beinhalten.

Schon 1725 entdeckte der französische Ritter Reynaud des Marchais, der Westafrika kartografierte, dass Eingeborene diese Frucht vor gewissen Mahlzeiten einnahmen. Der Ursache der vermeintlich süßenden Kraft dieser kaffeebohnengroßen Beere kam man jedoch erst in den späten 1960ern in Japan auf die Spur. Denn der scheinbar süßende Wirkstoff Mirakulin konnte inzwischen isoliert und auf dessen Potenzial für diabetische Ernährung überprüft werden.

In den 1970ern wäre daraus auch fast ein Süßstoff geworden, hätte es da nicht in letzter Minute einen mysteriösen Gesinnungswandel der US-amerikanischen Gesundheitsbehörden gegeben. Verschwörungstheorien jedoch beiseite, können wir heutzutage fest halten, dass Mirakulin in Europa nicht verboten und in Japan sogar als “harmloser Essenszusatz” zugelassen ist. Es wird nach Wegen gesucht, es wirtschaftlich unter anderem aus Tomaten oder Blattsalat zu gewinnen und so preiswert dem Massenmarkt zugänglich zu machen.

Flavor Tripping 101

Doch warum all der Aufwand? Was ist die eigentliche Funktionsweise von Mirakulin? Und welchen Trip trippt der flavor?

Die oft wiederholte Wirkungsweise von Mirakulin beschreibt eine Blockierung der Sauerrezeptoren. Es heißt, man könnte nach dessen Einnahme alle Geschmäcker wahrnehmen, nur sauer wäre eliminiert. Mirakulin blockiert wohl für gewisse Zeit die Sauerrezeptoren auf der Zunge oder deren Kontakt zum Gehirn. Es gibt fabelhafte Geschichten über “frischen Zitronensaft, welcher wie Limoncello schmeckt”.

Taucht man jedoch von wissenschaftlich-biologischer Seite tiefer in die Materie ein (und vergleicht die Theorie fleißig mit diversen Selbstversuchen), bietet sich ein etwas komplexeres Bild. Denn scheinbar blockiert genannter Wirkstoff keineswegs die Sauerrezeptoren. Vielmehr verdrahtet er die Süßrezeptoren neu. Denn das an sich geschmacklose Mirakulin dockt an letzteren an und verbleibt dort inaktiv bei neutralem pH-Wert. Senkt oder hebt sich hingegen der pH-Wert deutlich, wird es aktiv, stimuliert die Süßrezeptoren und löst so das Signal “sehr süß!” aus. So ist also die erste Erkenntnis, dass nicht nur saure Speisen süß werden, auch überaus basische Speisen werden als süß wahrgenommen. Der reaktive Bereich von Mirakulin liegt zwischen einem pH-Wert von 3 und 12!

Als zweite Erkenntnis meldet uns unsere Zunge also theoretisch den vollen Geschmacksumfang des Eingenommenen, plus starke Süße. Diese biochemische Erklärung deckt sich auch deutlich besser mit unseren eigenen Erfahrungen.

Mirakulin und der Selbstversuch im Flavor Tripping

Die Erwartungen waren natürlich anfangs hoch. Barabende, an welchen man Sours, Gimlets oder Manhattans unter Einnahme dieser Beeren ganz neu und sich verändernd wahrnimmt, erschienen wundervoll vor dem inneren Auge. Staunende Gäste an unserem Tresen schienen uns garantiert!

Doch sind im ersten Schritt die Beeren in der westlichen Welt scheinbar gar nicht erhältlich, und nur nach mehrjährigem Suchen entdeckten wir endlich in Tabletten gepresstes Mirakulin. Also schnell mehrere Packungen aus Österreich bestellt und in verschiedene Münder verteilt. Dabei heraus kam ein überraschend schnell einsetzender Effekt: Gewissenhaft Pillen lutschend stellt sich schon nach drei Minuten ein merklich süßerer Geschmack beim Genuss von reiner Zitrone ein. Schon nach sieben Minuten ist die Tablette aufgelutscht und Säure nicht mehr identifizierbar.

Flugs werden Zitronenhälften angeleckt, Essige degustiert und Tabasco getrunken. Und das einhellige Urteil ist sofort gefällt: Wir schmecken alle kein sauer mehr! Scharf wird gemindert und dessen würzige, süßliche und gemüsige Seiten treten viel klarer zu Tage. Zitronen und Limetten schmecken süß, Sours benötigen keinerlei Zuckersirup mehr.

Gleichzeitig waren alle Tester in unterschiedlichen Situationen nicht sonderlich glücklich mit dem geschmacklichen Resultat. Denn wir finden nun weder einen ausgewogenen Geschmack, noch etwas angenehm Wohlschmeckendes vor. Alles wirkt irgendwie umami, intensiv und aufgedreht. Die passenden Worte werden schwer gefunden; als wäre alles salzig, ohne salzig zu schmecken.

Zwar klingt diese fast schon chemische, an Aspartam erinnernde Süße innerhalb von 60 Minuten ab, was sich mit den offiziellen Angaben deckt. Doch haben einige unserer Tester noch nach fünf Stunden eine verschobene Süß-Sauer-Balance empfunden. Gleichzeitig wurde eine verminderte Wirkung unter Einnahme von Alkohol bei unseren Versuchen offenbar. Sie ließ unter gleichzeitigem Genuss von diversen Cocktails schon nach 40 Minuten wieder nach. Doch wurde dies allerseits eher als Glück empfunden, denn alles Gekostete ließ Raffinesse, Balance und Wohlgeschmack vermissen. Primär fühlten sich alle Speisen und Getränke “auf allen Kanälen aufgedreht” an und animierten nicht zu Nachschlägen.

Flavor Tripping und Mirakulin im Fazit

Abgesehen also von den bedenklichen Folgen des Konsums sehr saurer oder basischer Speisen und Getränken ist Flavor Tripping ein schönes Gedankenexperiment. Und somit ein weiteres Puzzleteil, seine eigene Geschmackswelt zu erweitern und zu verstehen. Doch erscheint es nicht als dauerhafter Mehrwert der Getränkewelt. Gästen sollte diese un-bittere Pille also am Besten zum letzten Getränk angeboten werden und nicht zum ersten. Sonst schlägt die erhoffte Geschmacksvielfalt schnell in monotone, amerikanische Einheitssüße um.

 

Anm: Robert Schröter arbeitet in der versteckten Minibar Kupfer in Berlin-Kreuzberg.

Credits

Foto: Foto via Claudiah/Shutterstock

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