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Jochen Hirschfeld im Interview über Geisterbars: Charity zwischen Hommage, Hilfe und Poesie

Ende 2020 hat der Münchener Fotograf und Barliebhaber Jochen Hirschfeld das einzigartige Projekt „Geisterbars“ lanciert: Eine kreative Open-Source-Initiative, bei der Menschen „ihre“ Bar und Bartender in der Krise aktiv unterstützen können und selbst einen bleibenden Wert erhalten. Wie so etwas entsteht und funktioniert, hat er MIXOLOGY im Gespräch erklärt.

MIXOLOGY: Jochen, die Inspiration zu „Geisterbars“: Kam die Dir allein oder gemeinsam mit anderen Menschen?

Jochen Hirschfeld: Das ist wohl auf meinem Mist gewachsen… An einem Abend im November stand ich im Pacific Times und habe den Jungs dort spontan von der Idee erzählt. Die fanden es toll, aber konnten sich die Bildwelten noch nicht so wirklich vorstellen. Ich habe dann schnell die ersten Fotos gemacht, dort im Pacific Times, im Zum Wolf, in der Goldenen Bar, im Jaded Monkey und im Patolli.

Der Auslöser waren für mich die leerstehenden „Schanigärten“, denn sie stehen für das Schicksal der Gastronomen seit dem Anfang der Krise, ganz besonders für die Bars: Sie passen sich an und fügen sich den Umständen, werden dann aber doch immer wieder aufs Neue zurückgepfiffen. Der Schanigarten war da für mich eine Inspiration: Bars haben solche Orte auf Parkplätzen errichtet, um irgendwie weitermachen zu können. Und als diese Orte fertig waren, wurde ihnen das auch wieder verboten, weil eben doch ein Lockdown kam. Und es wurden in meinen Augen Geisterstädte daraus

»Es braucht einen soliden Betrag, um wirklich etwas zu bewegen. Die 500 € vom jeweiligen Spender gehen auch direkt an die Bar.«

— Jochen Hirschfeld

MIXOLOGY: Das grundlegende Prinzip, auf dem Geisterbars als Charity-Projekt aufbaut, ist einfach: Ein Gönner oder eine Gönnerin kann für den Betrag von 500 € eine Bar seiner Wahl mit der Kreation eines Geisterdrinks beauftragen, dafür entwickelt die Bar ihm ein Cocktailrezept genau nach seinen Vorlieben. Soweit richtig?

Jochen Hirschfeld: Vollkommen, der Ansatz stimmt. Im Zentrum steht die Idee dessen, was man im Englischen mit dem gar nicht so leicht übersetzbaren Begriff bespoke meint: Ein maßgeschneiderter Drink nach den Vorlieben des Auftraggebers.

MIXOLOGY: Wobei man anmerken muss, dass 500 € durchaus ein stattlicher Spendenbetrag ist…

Jochen Hirschfeld: Im Grunde ist es gar keine Spende. Es handelt sich vielmehr um einen ganz außergewöhnlichen Auftrag, für den Bars und Fotografen dann auch etwas Wundervolles erschaffen. Das Besondere ist, dass Geisterbars den Geistern ermöglicht, für etwas nicht Greifbares bezahlt zu werden, nämlich für ihr Wissen und ihre Kreativität. Eine Fähigkeit, die die Bartender normalerweise jeden Abend nutzen, um ihre Gäste zu verwöhnen – da ist sie aber ganz flüchtig und mit ein paar Schlückchen verschwunden.

Die Kreationen der Geisterdrinks werden aber fortbestehen und auf ewig mit ihren Schöpfern verbunden bleiben. Und damit meine ich Gönner und Geister. Es braucht einen soliden Betrag, um wirklich etwas zu bewegen. Die 500 € vom jeweiligen Spender gehen auch direkt an die Bar, ich bzw. Geisterbars sind da ausschließlich die vermittelnde Plattform, wir sind nichtmal eine Zwischenstation für das Geld. Und das hatte schnell Erfolg. Einige Bars wurden im Dezember gleich mehrfach mit Geisterdrinks unterstützt, teilweise mit vier oder fünf, also mit bis zu 2.500 €. Und das ist dann eben schon eine Summe, die hilft, denn man kann damit arbeiten, kann die Miete sichern oder ähnliches.

Die Goldene Bar in München, fotografiert von Jochen Hirschfeld

»Unter normalen Umständen verschwindet so ein Drink. Unsere Geisterdrinks hingegen bekommen einen Namen, sie bekommen ein richtiges Foto, sie bekommen also Dinge, die bleiben. Das ist die Dualität des Projektes.«

— Jochen Hirschfeld

MIXOLOGY: Das heißt, Geisterbars ist kein Charity-Projekt mit dem klassischen Motto der einseitigen Spendenansammlung?

Jochen Hirschfeld: Ich habe lange daran gefeilt, wie man das Konzept kommuniziert. Denn das Engagement der Gönner soll, wie schon erwähnt, nicht als Spende verstanden werden, sondern eher als ideelle Geste, mit der man etwas in Auftrag gibt, was man eigentlich für Geld nicht kaufen kann. Dann begeben sich Bartender und Fotografen an die Arbeit und machen das, was sie am besten können.

Wichtig ist uns dabei, dass ein Drink erschaffen wird auf Basis der Wünsche eines Menschen – also wie in einer Bar auch sonst. Der Unterschied: Unter normalen Umständen verschwindet so ein Drink. Unsere Geisterdrinks hingegen bekommen einen Namen, sie bekommen ein richtiges Foto, sie bekommen also Dinge, die bleiben. Das ist die Dualität des Projektes… Es zeigt Bargeister, die im Begriff sind sich aufzulösen, und gibt ihnen die Möglichkeit etwas Bleibendes für uns zu erschaffen. Seine Arbeit verrichten zu dürfen ist auch ein wichtiger Schritt präsent zu bleiben. Obwohl die Bars gerade Geister sind. Der Geisterdrink ist keine punktuelle Sache, keine Momentaufnahme, er ist etwas Zeitloses. Und dazu können im Prinzip überall Menschen beitragen. Geisterbars ist Open Source.

»Hier holen wir einerseits finanzielle Hilfe rein, und bringen aber auch die Gäste und die Barleute auf einer neuen Ebene zusammen. Das Projekt soll auch Gemeinschaft erzeugen. Die Bilder haben Poesie und Power und zeigen für mich die Bars auch von einer starken Seite.«

— Jochen Hirschfeld

MIXOLOGY: Ist auch der Kreis der Gönner offen und divers oder doch vornehmlich aus wohlhabenden Einzelpersonen bestehend, die gern einen Cocktail mit ihrem Namen möchten?

Jochen Hirschfeld: Der Kreis an Unterstützern ist sehr vielfältig. Das sind einerseits Menschen, die ihrer Stammbar den Auftrag für einen Drink erteilen, teilweise – wenn sie die finanziellen Möglichkeiten haben – auch mehrfach. Mir haben Bars berichtet, dass Gäste Ihnen einfach Geld geben wollte – das haben Sie abgelehnt, weil es sich einfach nicht richtig angefühlt hat. Beim Geisterbars-Projekt wiederum kann man ganz normal für die Unterstützung arbeiten.

Teilweise tun sich aber auch mehrere Leute für eine Spende zusammen, um ihrer Lieblingsbar zu helfen. Wieder andere spenden anonym und lassen dementsprechend „ihre“ Drinks nach Dingen aus Kunst, Musik oder Lyrik benennen und werden auch sonst nicht mit dem Drink in Verbindung gebracht. Es gibt sogar solch einen anonymen Gönner in Singapur, der zwei Münchener Bars unterstützt hat.

Selbstverständlich haben sich mittlerweile auch viele Spirituosenhersteller beteiligt, die direkt zehn, zwölf oder noch mehr Geisterdrinks gestiftet und an unterschiedliche Bars verteilt haben. Das ist eine echte Win-Win-Situation, bei der ein toller Drink samt schönem Foto und Social-Media-Content für die Marken entsteht. Bei professionellen Auftraggebern bekommt der Fotograf übrigens auch 200 €, sonst wäre es nicht fair.

Was mir an dem Projekt besonders Freude macht, ist, dass es wirklich etwas bewegt. Hier holen wir einerseits finanzielle Hilfe rein, und bringen aber auch die Gäste und die Barleute auf einer neuen Ebene zusammen. Das Projekt soll auch Gemeinschaft erzeugen. Die Bilder haben Poesie und Power und zeigen für mich die Bars auch von einer starken Seite.

The Chug Club in Hamburg, fotografiert von Swetlana Holz
Jigger & Spoon in Stuttgart, fotografiert von Wolfgang Simm

MIXOLOGY: Wie können Fotografen ein Teil von Geisterbars werden? Gibt es da irgendwelche Beschränkungen?

Jochen Hirschfeld: Nein, gibt es nicht! Das Tolle ist: Geisterbars ist tatsächlich in jede Richtung ein Open-Source-Projekt, fürs Bars, Gönner, Fotografen. Das heißt, dass jeder Fotograf mitmachen kann. Er kann auch aktiv Bars ansprechen, die er liebt, ob sie einfach ein Geisterfoto wollen, mit dem man wiederum potentielle Spender auf die Initiative aufmerksam macht. Und das kennt eigentlich keine Grenzen: Eigentlich geht das überall, wo Bars zu einem Geisterdasein verdammt sind. Es gibt sogar schon mehrere Bars aus den USA, die ihr Geisterfoto bekommen haben. Ich muss bei der Gelegenheit natürlich auch ganz deutlich sagen, wie sehr ich mich über die Beteiligung der der vielen anderen Fotografen freue, ohne die das Projekt in der Größe gar nicht möglich wäre. Oft sind diese Fotografen ja selbst passionierte Barliebhaber, wie Wolfgang Simm aus Stuttgart, oder sogar ehemalige, langjährige Bartender, wie z.B. Hauke G. Thüring aus Berlin.

MIXOLOGY: Wie bleibt so etwas, zu dem strukturell jeder beitragen kann, prägnant und wiedererkennbar?

Jochen Hirschfeld: Der Look ist dabei die große Klammer. Jedes Foto ist, technisch gesehen, eine Langzeitbelichtung einer Bar in Schwarzweiß, auf dem die Menschen teils nur schemenhaft oder gar nicht zu erkennen sind – die Barleute lösen sich allmählich auf und werden zu Geistern. Ich habe da selbst zu Beginn ein wenig experimentiert, wie das Bild angelegt ist, welcher Ausschnitt des jeweiligen Ortes gezeigt wird. Dabei habe ich recht schnell eine Sprache gefunden. Trotzdem sind die Fotos natürlich bei jedem Fotografen wieder leicht unterschiedlich, und das muss ja auch so sein, das ist nötig. Zentral ist für mich allerdings, dass die Bars nicht als „tote“ Orte gezeigt werden, sondern auch Kraft und Selbstbewusstsein haben. Vor Geistern hat man halt schon auch Respekt! Damit alles zusammenpasst und das Projekt eine klare Wiedererkennbarkeit bekommt, bearbeite ich alle Bilder mit einem analogen Look, mit Staub, Kratzern und Unschärfen, als wären sie aus einem Geisterlabor, so dass der klare visuelle Rahmen trotz der jeweiligen Individualität erhalten bleibt.

»Inhaltlich-gestalterisch hat es zwar eine feste Form, aber es ist dennoch kein Korsett, das jemanden ausschließt. Jeder kann mitmachen, jederzeit. Wie in einer Bar eigentlich.«

— Jochen Hirschfeld

MIXOLOGY: Welchen Spendenbetrag konnte Geisterbars seit seinem Launch bereits sammeln?

Jochen Hirschfeld: Wir bewegen uns gerade auf 100 Geisterdrinks zu, die schon verkauft wurden – also knapp 50.000 €, die direkt in die Bars fließen. Einfach großartig!

MIXOLOGY: Ziehst Du die Leitung bzw. die Steuerung des Projekts denn jetzt trotz dieser Dimensionen noch immer allein durch?

Jochen Hirschfeld: Marco Beier, der Mitbetreiber des Patolli in München, hat mir irgendwann freundlicherweise seine Hilfe angeboten, als es Anfang 2021 richtig anlief. Seitdem hat er fast die komplette Kommunikation und Korrespondenz sowie viele logistische Themen von mir übernommen und ich schaue nun verstärkt wieder auf die kreativen Aspekte. Aber außer uns zweien ist an der Steuerung des Projekts so gesehen niemand beteiligt.

„Blume von Hawaii“ in Nürnberg, fotografiert von Thomas Langer

MIXOLOGY: Was meinst Du, wie wird sich Geisterbars entwickeln – einerseits im restlichen Zeitraum der Pandemie, aber andererseits auch danach?

Jochen Hirschfeld: Das werde ich natürlich öfter gefragt. Das Schöne an dem Projekt ist ja, dass die Bilder und die Geisterbars an sich einfach die erwähnte poetische Kraft haben, die auch für sich spricht. Das kann auch nach einer Pandemie leben, das ist nicht ausschließlich an Trauriges oder Bedrückendes gekoppelt. Dieses ganze Konzept vom Geisterhaften ist in Bezug auf Bars ja sehr reizvoll, man kann das weiter ausarbeiten und pflegen. Man kann die Bars inszenieren, würdigen, man kann sie feiern. Auch ein ganzes Geistermenü mit den Drinks kann nach der Krise weiterleben.

Ganz am Ende könnte ich mir auch gut vorstellen, dass man alle Geisterbars und Geisterdrinks irgendwann als Buch herausgibt, also als großen Bildband, der alles zusammenstellt und in einen gemeinsamen Kontext setzt. Auch als ein Rückspiegel in diese Zeit, der einen zum Nachdenken und zur Erinnerung anregt, aber auch dort ebenfalls als Spotlight auf Positives: auf den Zusammenhalt, auf die Leidenschaft, auf das Handwerk und die Kreativität. Deshalb ist mir das oben genannte Grundkonzept der Darstellung auch wichtig: Wir wollen keine Bilder machen, die sozusagen rein „pandemisch“ sind und sonst nichts mitteilen. Das soll bei Geisterbars nicht sein, denn die Bilder müssen dauerhaft funktionieren.

Letztlich bin ich froh, mich als Macher gar nicht um das finanzielle kümmern zu müssen, sondern mich ganz auf den kreativen Part konzentrieren zu können. Ich kann einfach weitermachen, wie und in welchem Umfang ich möchte. Inhaltlich-gestalterisch hat es zwar eine feste Form, aber es ist dennoch kein Korsett, das jemanden ausschließt. Jeder kann mitmachen, jederzeit. Wie in einer Bar eigentlich.

MIXOLOGY: Lieber Jochen, wir danken Dir ganz herzlich für das Gespräch!

Jochen Hirschfeld
Credits

Foto: Jochen Hirschfeld

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