Gn Chan: Design, Performance und der Zufall
Wäre Gn Chan nicht pleite gewesen, wäre er womöglich nicht hinter dem Tresen gelandet. Jetzt ist er Head-Bartender im New Yorker Angel’s Share. Mit dem “Venceremos”, seinem Twist auf die Piña Colada, gewann der gebürtige Taiwanese die Bacardi Legacy Global Cocktail Competition 2016. Nicht zuletzt deswegen, weil der ausgebildete Industrie-Designer gerne Zeitschriften kopfüber betrachtet.
Ich sitze mit Chia-An „Gn“ Chan in der Presselounge des Bar Convent Berlin. Um uns herum klirren Kaffeetassen. Clipboards klicken, Programmhefte flattern, Stimmen wirren. Mein Aufnahmegerät ist bis zum Anschlag aufgedreht.
Ob er sich des Risikos bewusst gewesen sei, mit seinem Venceremos Cocktail eine Variation auf die Piña Colada bei Bacardi Legacy 2016 vorzustellen, möchte ich wissen. Schließlich, erläutere ich weiter, gebe es ja die Tendenz in der Branche, die sogenannten Achtziger-Drinks zu belächeln und als kitschig und allzu massenkompatibel abzutun. Wer auf Nummer sicher gehen will, der hält sich doch sicher besser in der Nähe der Klassiker auf?
Wie sehr ich mit meiner Frage in meinem apfelschorligen kulturellen Kontext verhaftet bin, merke ich sofort. „Nein“, erwidert Gn Chan, „daran habe ich überhaupt nicht gedacht. Es war einfach der erste Drink aus dem Cocktail-Kanon, den ich wirklich gern getrunken habe. Ich vertrage Alkohol eigentlich nicht. Wenn ich mal trinke, dann etwas leichtes, frisches wie die Piña Colada.“
PLEITE UND PERFORMANCE
Chan stammt aus dem südlichen Taiwan. Dank des tropischen Klimas gedeihen exotische Früchte dort so wohlig wie in unseren Breitengraden Birnen oder Äpfel. Kokosnuss und Ananas gehören schlicht zu den gängigen Zutaten an der Bar, so Chan. Und ich lerne: Manchmal verstellt der allzu reflektierte Blick die Sicht auf die Tatsachen.
Gn (sprich Dschi-inn) Chan arbeitet seit 2011 als Bartender in New Yorker, seit vier Jahren im Angel’s Share. Seinen Weg dorthin haben viele Zufälle bestimmt. Aber auch eine mutige, gezielt getroffene Entscheidung. Nach seinem Studium des Industriedesigns in Taiwan habe er eine kleine eigene Firma gegründet, erzählt Gn. „Nichts großes, das war eigentlich nur ich selbst, mit meinem Computer, einem Facebook-Profil und ein paar Aufträgen.“ Als sein Rechner kaputt geht, investiert er notgedrungen in einen neuen, doch der Online-Händler zieht ihn über den Tisch. Das Gerät kommt nie an. „Ich hatte alles Geld ausgegeben, was ich besaß. Ich musste mir also schnell etwas anderes überlegen.”
Zunächst dachte Chan nicht im Traum daran, dass der Beruf des Bartenders für ihn einmal so erfüllend werden würde. Ein Barjob war bloß das Naheliegendste. Aber es sollte ein echter Glücksgriff werden. Denn nach kurzer Zeit merkte er, dass er an der Bar genau die beiden Aspekte vereint fand, die ihn bisher in seinem Leben geprägt hatten: Design und Performance. „Design habe ich ja studiert, und auch für Entertainment und Performance hatte ich schon immer ein Interesse. Zu Schulzeiten bin ich manchmal, nur zum Spaß, als Straßenkünstler aufgetreten und habe kleine Zaubertricks vorgeführt. Es machte mir Freude und kam auch bei den Leuten gut an. Mein Traum war es, als Straßenzauberer um die Welt zu reisen.“
Mit dem Bartending hatte sich buchstäblich ein neuer Horizont für Chan aufgetan. „Es war fast wie Liebe auf den ersten Blick. Ich entschied mich, die Welt per Cocktail zu bereisen, die Welt auf diese Weise herauszufordern.“ Zu diesem Zeitpunkt arbeitete Chan in einer Bar in Taiwan – und schlief sogar dort, da er sich eine eigene Wohnung nicht mehr leisten konnte. Bereit für eine große Veränderung, fragte er eine angesehene Bartenderin aus Hongkong um Rat: „Ich wollte an den einen Ort, der mich als Bartender am meisten fordern würde, ich wollte mir alles abverlangen.“
DREI JOBS, EINE BESTIMMUNG
Seine Freundin riet ihm – wie hätte es anders sein können – nach New York zu gehen. Aufgrund familiärer Verbindungen in die USA hatte er auch keine Probleme, ein Visum zu bekommen. Aber natürlich kam er nicht sofort ins Angel’s Share. „Am Anfang hatte ich drei Jobs gleichzeitig: in einem indischen, einem französischen und einem italienischen Restaurant. Sie hatten alle auch ein gehobenes Cocktail-Programm. In einem machte ich die Mittagsschicht, im nächsten die Abendschicht, und ins dritte ging ich dann um Mitternacht. Es war natürlich anstrengend, aber ich bin auch froh, in so kurzer Zeit viele neue Aromen und Zubereitungsarten kennen zu lernen.“ Es sei ihm wichtig, sagt er, sich in seiner Arbeit nicht auf eine Stilrichtung festzulegen. Er möchte für alles offen bleiben.
Ich möchte genauer wissen, wie ein Kreativkopf à la Gn Chan den Bartender-Beruf für sich auslegt. „Mein Design-Studium und meine Performance-Erfahrung haben meinen Blick auf den Beruf vorgegeben“, erklärt er, „für mich beginnt sowohl Kreativität als auch die Show, die Performance, bei den Fingern. Ich liebe es, die Leute mit meinen Tricks zu unterhalten.“ Jede noch so kleine Bewegung an der Bar ist für ihn Teil der Performance. „Wie ich den Jigger halte, wie ich schüttele, wie ich einschenke, wie ich mich zwischen den einzelnen Arbeitsschritten bewege – diese ganzen Abläufe versuche ich immer weiter zu perfektionieren. Die Bar ist die Bühne, auf der ich abliefern muss.“
GN CHAN, DAS BEDEUTET AUCH: FORM FOLLOWS FANTASY
Dabei ist Chan darauf bedacht, sein handwerkliches Können nicht überzubewerten. „Das alles hat keine tiefere Bedeutung. Es ist ein einfach ein wirksames Stilmittel, die Leute zu fesseln. Und deshalb macht es mir Spaß.“ Überhaupt fürchtet er sich – ganz im Gegensatz zu mir – nicht vor einem vermeintlichen Mangel an Tiefgang. „Das ist so ein Witz von meinen Kollegen, dass ich ja so oberflächlich sei. Ich bin ein sehr visueller Mensch. Das Sehen war immer mein Zugang zum Industriedesign, und so entwickele ich auch viele meiner Cocktails. Ich weiß zuerst, wie ein Drink aussehen soll – erst dann versuche ich, eine Funktionalität zu finden.“
Spontane Blickwinkel des Alltags sind für Chan eine ständige Inspiration. „Meine direkte Umgebung, die Form eines Baumes, überall kann man spannende Entdeckungen machen. Wenn ich eine Zeitschrift fertig gelesen habe, drehe ich sie auch mal auf den Kopf und gucke sie mir wieder von vorne an. Da ergeben sich ganz neue Formen. Das inspiriert mich.“
Da ist es, denke ich. Der Kern, der diese Branche ausmacht, und um den das ganze Geklapper und Gerede um mich herum sich eigentlich dreht. Zum Glück ist da mit Gn Chan jemand, der diese Leichtigkeit hat, die Dinge ganz selbstverständlich neu zu denken, und andere mit seinen Ideen anzustecken.
Credits
Foto: Birte Filmer