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Cocktail ABC | Mixology — Magazin für Barkultur

Braucht der Mensch mehr als 300 Drinks in seinem Leben?

Schon Harry McElhone meinte in seinem berühmten “ABC of Mixing Cocktails”: Nein, tut er nicht. Martin Stein mit einem Hybrid aus Buchbesprechung und Debattenbeitrag.

»Der moderne, szenekonforme Jungbarkeeper kann Espuma und Bartpflege und schaut auf den Whiskey Sour herab wie der Sternekoch auf die Leberkäsesemmel. Er unterhält sich angeregt über Sous Vide und Fat-washing und Neuerungen auf dem Zentrifugenmarkt, spart auf eine ei-gene Smoking Gun samt Gürtelholster und hat sich schon für die nächste Masterclass Flair-Tonkabohnen-in-irgendwas-reinschmeißen angemeldet.«

Als Spross einer Mangelgeneration, die sich oft genug nicht mal echtes Nutella leisten konnte, sondern mit der Nuss-Nougat-Creme von Aldi auskommen musste, kann man da nur missbilligend den Kopf schütteln. Verzogenes Pack, verzogenes.

Braucht’s das, frage ich? Braucht es das? Ein lange schwelender Streit, ein Kulturkampf direkt, den ich hiermit ein für allemal entscheiden werde.

Der Kulturkampf schwelt zwischen den Konservativen und den Reformern

Selbstverständlich braucht’s das nicht. Nutzlos wie ein Kropf.

Das ist natürlich nicht meine persönliche Meinung, oder jedenfalls nicht nur, ich kann das nämlich beweisen. Ich hab das schriftlich. Das endgültige Urteil, auf das ich mich berufe, wurde schon vor etwa 90 Jahren gefällt, und zwar von keinem geringeren als von Harry McElhone, dem legendären Gründer von Harry’s New York Bar in Paris.

In seinem „ABC of Mixing Cocktails“ schreibt er im Kapitel „Tipps für Bar-Tender“: „Erfinden Sie keine neuen Drinks (bei denen es sich häufig um nichts anderes als umgearbeitete alte handelt), falls Sie nicht wirklich etwas von einer ganz eigenen Bedeutung entdeckt haben. In dieser Zeit des großen Fortschritts und der mannigfaltigen Drinks scheint es sich so ziemlich jeder Stümper zur Aufgabe gemacht zu haben, einen Drink für so ziemlich jeden anderen Stümper zu kreieren (…). Man kann sicherlich behaupten, dass nicht einer unter 100000 Gästen neben den puren Sachen noch 50 moderne Drinks aufzählen könnte, selbst wenn ein großer Lotteriegewinn davon abhängen würde (…). Dieses kleine Büchlein enthält alle Drinks, die Sie jemals zu nutzen die Gelegenheit haben werden.“

»Dieses kleine Büchlein enthält alle Drinks, die Sie jemals zu nutzen die Gelegenheit haben werden.«

ABC of Mixing Cocktails: McElhone sammelt, was zu sammeln sich lohnt

Na also. Da habt ihr’s.

Alle Drinks, die man jemals nutzen wird, lassen sich demzufolge mit etwa 300 Stück quantifizieren, wie sie in diesem Büchlein angeboten werden, das tatsächlich für den praktischen Einsatz konzipiert wurde, inklusive Ratschlägen zu Einrichtung, Organisation, Sauberkeit und Personalführung: auf lackiertem, wasserabweisendem Papier, die Drinks fein säuberlich durch ein Register geordnet, vom Absinthe-Cocktail bis zum Zazarac.

Nicht nur orthographisch war der Herr, der sich nicht einmal besonders darum zu scheren schien, ob er eigentlich ein „Mac“ oder ein „Mc“ war, ein wenig eigenwillig; die Variante des letzteren beinhaltet neben Canadian Club auch Bacardi. Oder der „Dacqueri Cocktail“, der in einer Version mit Grenadine präsentiert wird.

Das Büchlein ABC of Mixing Cocktails lässt aber tatsächlich wenig zu wünschen übrig: McElhone kennt sein Metier, die Arbeit seiner Kollegen und Vorgänger und bietet das volle Programm. Seine legendäre White Lady ist ebenso dabei wie der Monkey’s Gland, aber auch die Rezepte vieler anderer, deren Urheberschaft er brav vermerkt (und dabei Harry Johnson in New Orleans verortet).

Apropos: sogar der Ramos Gin Fizz ist vorhanden, hier noch als New Orleans Gin Fizz betitelt. Man kann mit dem Gebotenen also schon einiges anfangen, auch drei Generationen später, und was kam denn auch schon groß nach 1930? Ein Weltkrieg, Vodka und der Gin Basil Smash. Was soll’s.

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Von Absinth-Cocktail bis Zazarac

Harry McElhone war eine Berühmtheit. Sein Cocktail-ABC verzeichnete etliche Auflagen und profitierte von der rasant steigenden Beliebt-heit der Pariser New York Bar, und mit der ganzen Autorität seines Ruhms sagt er, was Sache ist: Man sollte niemals billige Bartender einstellen; ein billiger Bartender taugt nur für eine billige Bar; der Alfonso Cocktail wurde 1922 in Deauville sehr gerne getrunken; Bacardi Rum kommt aus Kuba (hat damals ja auch noch gestimmt); By-rrh ist sowas wie Dubonnet, aber trockener; verwenden Sie beim Ar-beiten einen „Gigger“.

Das Foto McElhones vorne im Buch unterstreicht diese Autorität: stolz steht er da, die Wampe des Genussmenschen ehrfurchtgebietend vorgereckt, das bartfreie Gesicht unter dem Betonscheitel ein Sinn-bild rundlicher Kompetenz. So muss das sein! So hat ein ordentli-cher Bartender auszusehen! Und mir vorzuwerfen, dass diese Ansicht hauptsächlich darauf gründet, dass ich selbst ein übergewichtiger Stammesbruder ohne Haare im Gesicht bin, wäre natürlich eine äu-ßerst unredliche Unterstellung.

Überhaupt, diese Unterstellungen: eine ebensolche, besonders infa-me, ist die des Kollegen Sven Goller aus Bamberg, der mir gegenüber zum Thema meinte, dass der Großteil der alten Säcke, die heute ge-gen Neuerungen wettern, noch vor zehn Jahren den Zitronensaft aus einer gelben Plastikfrucht herausgequetscht haben. Bösartiger Tropf, der Herr. Und auch unnötig zu erwähnen, dass er ziemlich bärtig ist.

Blue Blazer nur ein optisches Feuerwerk

Nun hat er möglicher- sowie ausnahmsweise gar nicht völlig, komplett, zu 100 Prozent Unrecht. Die Qualitätsdiskussion mal außer Acht gelassen, muss man schon zugeben, dass der Bartenderberuf auch immer zwischen Akrobatik und Illusionismus angesiedelt war. Die Besten der ersten Generation beherrschten Techniken, einen Drink zu werfen, die heute verschollen sind und trotz zahlreicher Reproduktionsversuche Rätsel aufgeben.

Und nicht zufällig ist die Abbildung von Jerry Thomas’ Blue Blazer das wahrscheinlich am häufigsten verwendete und kopierte Motiv der Cocktailgeschichte. Whisky anzünden, heißes Wasser, brennend von Becher zu Becher schütten, etwas Zucker, Zitronenzeste. Das kann auch aus den Händen des Professors nur nach Arsch und Friedrich geschmeckt haben, aber es hat hübsch ausgesehen, und klugerweise hat man den Drink auch nach dem Aussehen und nicht nach dem Geschmack benannt. Wäre ansonsten bestimmt kein besonderer Verkaufsschlager geworden.

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Erstmal lieber das Cocktail-ABC beherrschen

Nun soll damit natürlich keinesfalls angedeutet werden, dass die modernen Techniken sinnfreies Deko-Brimborium wären. Ganz gewiss nicht. Oder nur ein bisschen. Manchmal. Die 300 Drinks des Harry McElhone jedenfalls lösen bei mir mehr Grundspannung aus als das begeisterte Leuchten in den Augen eines Keepers, der mir von einem neuen, selbstentwickelten Schäumchen erzählt. Und andersherum nehme ich es klaglos hin, das gleiche Augenrollen zu kassieren wie jener prototypische Un-Gast, der sich den umsatzschwächsten Tag der Woche aussucht, um einem vier Stunden lang erzählen zu können, dass AC/DC nur mit Bon Scott was getaugt hat.

Kulinarisch gesehen ist es ja auch nicht besonders erfüllend, nach wie vor ständig nur die Rezepte von Henriette Davidis nachzukochen. Wer sich allerdings noch daran erinnert, aus wie wenig die eigene Oma wie viel machen konnte, der tut gut daran, sich mal mit den alten Schwarten zu beschäftigen, bevor er sich einen Thermomix anschafft.

Credits

Foto: Editienne

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