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Inventur am 17. November 2019

Inventur am 11. April 2021 – Modellversuch in Hotel & Die Rebellion der Verlotterung

Zu Beginn des Jahres galt eine Schließung der Bars bis Ostern als Worst-Case-Scenario. Ostern liegt nun hinter uns, und noch immer ist die Gastronomie geschlossen. Und was noch schlimmer wiegt: Das Vertrauen in eine sinnvolle Strategie seitens der Politik scheint auf dem Nullpunkt.

Bars und Restaurants haben seit dem Ausbruch der Pandemie immer wieder Vorschläge gemacht, die von der Politik vielfach nicht gehört wurden. Was aber nicht heißt, dass man es nicht weiter probieren kann. In Wien hat die Kleinod-Gruppe nun einen Versuch gestartet, der Schanigärten mit Corona-Teststraßen kombinieren soll. Gemeinsam mit einer nahe gelegenen Apotheke werden die Bars der Gruppe – dazu zählen das Kleinod, das Prunkstück und der Stadtgarten – zu Schnelltestzentren. Getränke am Tresen gibt es dann natürlich nach wie vor nicht, aber es soll zumindest schon mal darauf hinlenken. Langfristig möchte man ein Beispiel schaffen, wie die Gastronomie mit sehr hohen Sicherheitsstandards wieder öffnen kann. „Die Menschen haben seit fünf Monaten keine Bars mehr von innen gesehen. Und wir Gastronominnen und Gastronomen keine Gäste mehr. Der Covid-19-Test in den Kleinod‘-Bars wird noch zur heilsamen Bar-Therapie“, so Kleinod-Mitbetreiber Oliver Horvath. „Derzeit sind die Antigen-Tests unsere einzige Chance, Gäste zu begrüßen und mit unserem Stammpublikum in Kontakt zu bleiben.“ Wer mehr wissen will, hier geht es zur Website des Kleinod.

Booze Bar: müde, aber kampfhaft

Immer wieder ein Mann klarer Worte ist Lutz Rau von der Booze Bar. Der Berliner ist auch keiner, der bei Versicherungen klein beigibt, eine Tatsache, die er auch bewiesen hat, als etwa 2016 sein Lokal abgebrannt war. Auch durch diese Erfahrung habe er eine umfassende Multi-Risk-Versicherung abgeschlossen, trotzdem weigert sich die Versicherung – wie so vielfach zu hören – wegen der pandemiebedingten Schließung zu bezahlen, da das neuartige Coronavirus bei Vertragsabschluss noch nicht bekannt gewesen sei. Das sagt der Barbetreiber aus Berlin-Friedrichshain in einem Porträt dem Berliner Tagesspiegel und erklärt weiter, warum er nicht wirklich an die digitale Vermarktung der Bar glaube und warum die aktuelle Situation nur noch ermüdend sei, etwa weil das Arbeitsamt jeden Monat dieselben Fragen stelle und Nachweise verlange. Ein wenig bizarr mag die Bezeichnung der Booze Bar als „Treffpunkt für Tinder-Bekanntschaften“ klingen, aber geschenkt: Wenn Bars bloß wieder für alle Tinder-Dates dieser Welt öffnen könnten!

Ein Versuch von relativer Nähe

Dr. Clemens Ritter von Kempski, Eigentümer und Geschäftsführer der Ritter von Kempski Privathotels, ist sowohl Betriebswirt wie auch Mediziner. Bereits im Laufe des vergangenen Jahres hatte er für seine Hotels in Sachsen-Anhalt ein Hygiene-, Infrastruktur- und Verhaltenskonzept entwickelt, nun wurde ihm genehmigt, per 16. April 2021 für zunächst vier Wochen einen Modellversuch für touristische Übernachtungen anbieten zu dürfen, wie das Portal Tageskarte berichtet und Ritter von Kempski zitiert: „Mit großem Respekt höre ich die Warnrufe von RKI und den Fachkollegen auf den Intensivstationen. Deshalb ist unser Ansatz eben auch keine Lockerung in der Fläche, sondern eine differenzierte und kontrollierte Bewirtschaftungsalternative für den Existenzerhalt von Betrieben. Wir brauchen dringend Konzepte zum Leben mit dem Virus. Denn niemand weiß, welchen Weg die Mutanten gehen, wie lange welche Immunität hält, mit welchen Vakzinen wir nachschärfen müssen und wie deren Verfügbarkeit im Falle des Bedarfs aussieht – und länger kann die Branche nicht geschlossen bleiben“, so der Mediziner.

Gastronomie in den USA nimmt Impfung selbst in die Hand

In den USA ist man mit Öffnungen der Gastronomie schon weiter als hierzulande; zum Teil liegt das an der erfolgreichen Impfstrategie der frisch gewählten US-Regierung, die erste Früchte trägt, teilweise liegt es an regionalen und bundesstaatlichen Alleingängen, die durchaus befremdlich anmuten. Im Bundesstaat Texas etwa werden Impfungen bereits ab 16 Jahre zugänglich gemacht, die Maskenpflicht ist wie alle anderen Einschränkungen völlig abgeschafft. In einem lesenswerten Dossier widmet sich die New York Times der Frage, was diese Situation für Beschäftigte in der Gastronomie bedeutet, die vielerorts selbst noch keinen Zugang zu Impfungen gehabt haben. Und zeigt auf, wie Gastronomiebetreiber die Dinge vielerorts selbst in die Hand nehmen, um ihre Bediensteten impfen zu lassen.

Neues Biedermeier statt Neue Goldene Zwanziger

Viele haben für diese Dekade ab 2020 die neuen Goldenen Zwanziger Jahre prophezeit, die an- oder ausbrechen sollen, und nach wie vor hält sich die Meinung, dass diese Zeit – und damit ist ihre Form der Ausschweifung gemeint – „nach“ der Coronapandemie auch umso heftiger eintreten wird, wann immer das auch sein wird. Die Wahrheit aber ist, dass wir mit dem Gegenteil konfrontiert sind und vielmehr in einem neuen Biedermeier leben, schreibt der Autor Paul Jandl für die Neue Zürcher Zeitung. Und das nicht erst, seit uns Corona in die eigenen vier Wände drängt. Vielmehr verortet er die Ursachen in der steigenden Selbstoptimierung und dem Argwohn, der der Ausschweifung entgegen gebracht wird. Und plädiert für eine neue Form der „Verlotterung“, einst auch eine Form der Rebellion. „Die Dichter und Denker haben ihre Selbstverwüstung vor den Augen aller Öffentlichkeit vorangetrieben, aber heute würden dabei selbst Pop-Stars an den Pranger der Scham gestellt. Alles ist sauber. Auch die Rolling Stones sehen auf einmal sehr gesund aus. Rebellion und ihr Scheitern hat es immer gegeben. Als der aufsässige Schriftsteller Nathaniel Lee 1684 ins Irrenhaus gebracht wurde, quittierte er das mit dem Satz: «Sie sagten, ich sei verrückt, und ich sagte, sie seien verrückt, und verdammt noch mal, sie haben mich überstimmt.“ Ein kurzer Text, deswegen aber nicht weniger wahr.

Credits

Foto: Everett Collection – shutterstock.com

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