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Liköre in der Bar, Teil Eins: Geschichte und Grundlagen

Liköre in der Bar, Teil Eins: Geschichte und Grundlagen

Liköre sind seit Anbeginn der modernen Cocktailhistorie ein fester Bestandteil der Mixkultur. Dennoch wird auch unter Fachleuten kaum über sie gesprochen, Fachwissen ist oft ungenau und detaillierte, aktuelle Literatur gibt es nur randständig. Grund genug, sich in einer Grundlagen-Serie ausgiebig mit den zentralen Bar-Likören, ihrer Herkunft, ihrer Entstehung sowie der Funktion im Drink auseinanderzusetzen. Den Anfang macht ein genereller Rekurs zum Wesen allen, nicht immer edlen Likörs.

Der Löwenanteil aller Artikel, die das Thema behandeln, beginnt mit einem deshalb mittlerweile ziemlich abgegriffenen Zitat eines deutschen Dichters und Zeichners. Sinngemäß behauptet selbiges, dass einer Konvention folgend jeder, der von Beklemmung geplagt oder einer anders gearteten Unruhe anheimgefallen ist, schon immer auch über aromatische Spirituosen verfüge, die laut europäischer Spirituosenverordnung mindestens 100 Gramm Zucker pro Liter aufweisen müssen.

Ich habe mir die Wiedergabe dieses Zitats im Wortlaut an dieser Stelle aus hauptsächlich zwei Gründen verkniffen. Erstens habe ich es dem Chefredakteur dieser Zeitschrift versprochen, da wir beide finden, dass sich dieser Artikel im Geiste des Qualitätsjournalismus bereits durch seine Einleitung von all den anderen abheben sollte, zweitens will ich den geneigten Rezipienten nicht vom Weiterlesen abhalten, indem ich ihn mit schlecht abgehangenen Schoten verbräme.

Wie also anfangen? Vielleicht mit einem Geständnis. Ich gebe zu: Das Thema holt mich ein wenig aus meiner Komfortzone heraus. Nicht zuletzt deshalb, weil es außer ein paar Artikeln, die – wie bereits erwähnt – mit dem Zweizeiler des Max und Moritz-Schöpfers einleiten, eigentlich kaum nennenswerte Literatur zur Materie gibt. Die Quellenlage ist dürftig, wenn es um Likör geht. Und auch sein Leumund ist eher, sagen wir mal, so mittelgut.

Likör: die Geißel der Amateurtrinker?

Auch wenn man keine nennenswerte Affinität der Bar gegenüber sein Eigen nennen kann, wird man zumindest ein ungefähres Bild von Likören haben – oftmals, so fürchte ich, nicht das allerbeste. Je nach Anzahl der bisher überstandenen Lenze sind zum Beispiel folgende Assoziationen denkbar: Die dieser Tage oftmals als Boomer bezeichneten Semester fühlen sich womöglich ans Kaffeekränzchen mit Oma erinnert, bei dem nach einer Tasse dünnem Alibi-Kaffee zügig auf Eierlikör umgeschwenkt wurde (vorzugsweise aus einem essbaren Schokobecher geschlürft, die verbliebenen viskosen Reste des Emulsionslikörs durfte man als Enkelchen danach ausschlecken und als Bonus on top danach das Trinkgefäß verzehren. Gänsehaut pur, gehörte schon damals ei-ei-eigentlich verbooten!) Jüngere Jahrgänge sind sich möglicherweise noch der eigenen Sünden der nicht allzu fernen Jugend gewahr: Apfelkorn, Haselnusslikör oder der 1-Euro-Pfeffi-Shot, der den ganz Hartgesottenen als Ersatz für das Zähneputzen galt. Gemach! Mindestens ein adoleszentes Besäufnis ohne Plan und Verstand gehört vermutlich zu den formativen Jahren wie der erste Kuss und ist, sofern das dann irgendwann überwunden wird, auch irgendwie okay. Und wer bin ich, darüber urteilen zu dürfen!

Drittes denkbares Einsatzgebiet, mit dem wir endgültig das Kabinett des Grauens betreten: 20 Milliliter-Miniaturen aus Pappboxen à 25 Stück oder – Level 2 – am umschnallbaren, neonfarbenen Patronengurt befestigt. Die Geschmacksrichtungen lauten z.B. „American Popcorn“, „Bubble Gum“, „Coco Biscuit“, „Erdnuss Flips“ oder „Luxus Lakritzq“. Schmecken vermutlich wie schon einmal getrunken und erfreuen sich größerer Beliebtheit auf Junggesell:innenabschieden ruraler Prägung, durchaus aber auch in urbanen Zonen, beispielsweise auf Fastnachtsumzügen und sonstigen aus dem Ruder laufenden Festivitäten jeder Couleur; verbreiten allerorts Angst und Schrecken und vermögen am kommenden Tag einen Jahrhundertkater zu verschulden. Werden konsumiert, obwohl die Namen der Scheußlichkeiten eigentlich Abschreckung genug sein müssten. Ein paar Kostproben gefällig? Gerne: Froschkotze, Blauer Lümmel, Rosa Flittchen, Glühficken, Kleiner Lokus, Zündkerze (mit Energy-Geschmack), Kleiner Flutscher, Wilder Willi, AbSACKer, Schöne Möpse, Chicki-Micki Eier Wodka Lemon oder Teufelszeug. Habe ich mir nicht ausgedacht, ich schwöre!

Alle diese Produkte werden im Internet tatsächlich als „alkoholische Spaßmacher“ bzw. „Fun-Spirituosen“ vermarktet. Platte und platteste Pseudo-Erotik-Implikationen inklusive: Haselnusslikör in PET-Penisflaschen und mein persönliches Highlight: ein Vanille-Karamel-Cream-Likör, der auf das Findigste mit folgenden Marketing-Punchlines angepriesen wird:
„In der originellen Flasche aus PET in Form einer Riesenspermie einfach einzigartig: frech, ohne anzüglich zu sein! Präsentierst Du ihn in der Originalflasche, ist Begeisterung angesagt.“

Aua. Ein veritabler Anteil dieser Entgleisungen haben – o Wunder! – ziemlich viele E-Stoffe in der Zutatenliste und erlangen ihren Geschmack durch künstliche Aromen.

Oder doch: Tool für Profis?

Um Liköre dieser Ausprägungen soll es in dieser Serie aber selbstverständlich nicht gehen. Ich erwähnte Obiges lediglich zur Abgrenzung und – ich gebe es zu – ein wenig auch zur Unterhaltung) Kaum zu glauben, wohin einen eine kurze Online-Recherche manchmal führt. Gerade dieser Tage gut zu wissen. Kostet praktisch nichts und bringt einen wenigstens zum Glucksen. Merken.

Aber genug des Frohsinns, jetzt ans Eingemachte! In den kommenden Beiträgen werden wir uns mit Likören auseinandersetzen, die entweder historisch bereits einen wichtigen Stellenwert an der Bar innehatten oder aber solche, die es verdienen, dass ihnen in Zukunft mehr Beachtung geschenkt wird. Zunächst aber betrachten wir die Entstehung der Gattung Likör, umreißen grob deren Einsatzgebiete im Kosmos gemischter Getränke und werfen einen kurzen Blick auf das funky Thema Gesetzgebung, um auch die rechtliche Definition zu kennen.

Die Zutaten

Starten wir mit dem öden Part, dann haben wir es hinter uns! Grob umrissen besteht Likör grundsätzlich aus Alkohol, Wasser, Zucker und mindestens einer aromagebenden Zutat. In der Europäischen Union gelten Liköre als „Spirituosen“. Sie müssen daher einen Mindestalkoholgehalt von 15% Vol. aufweisen (eine Ausnahme bildet Sloe Gin, dessen Mindestalkoholgehalt 25 % vol. beträgt) und fallen somit unter das Branntweingesetz. Wie eingangs bereits erwähnt, liegt der gesetzliche Mindestzuckergehalt (ausgedrückt als Invertzucker) bei 100 g pro Liter. Ausnahmen bilden Kirschliköre, die ihre alkoholische Basis ausschließlich aus Kirschbrand beziehen (70 g/l) sowie Enzianlikör, sofern Enzian der einzige verwendete Aromastoff ist (80 g/l). Die süßeren „Crèmes“ wiederum sind Liköre mit einem Zuckermindestgehalt von 250 g/l, wobei eine „Crème de Cassis“ sogar über mindestens 400 g/l (!) verfügen muss. Eine weitere für unsere Betrachtungen relevante Ausnahme bildet Maraschino, der wie eine Crème über mindestens 250 g Zucker verfügen, dabei aber mindestens 24 % Vol. aufzuweisen hat. Das soll für eine erste grobe Übersicht genügen. Bei etwaigem Interesse lassen sich weitere Informationen leicht recherchieren, etwa auf der Seite des Bundesverbands der deutschen Spirituosen-Industrie oder man findet mit zwei Klicks per Google-Suche die EU-Verordnung 110/2008.

You’ve come a long way, baby!

Die Mazeration von Aromastoffen in Getränken ist eine jahrtausendealte Praktik. Gewürze, Kräuter, Blüten und Früchte einzulegen und sich dadurch deren Geschmack und Wirkung zunutze zu machen, ist somit bei weitem nichts Neues. Bereits im antiken Mesopotamien wurden Gewürze und Myrrhe in Wein eingelegt. In der griechischen und römischen Antike waren Wermutkraut, Anis und Pfeffer beliebte Zugaben zum Rebensaft. Allerdings handelte es sich dabei längst noch nicht um Liköre. Etwa im 9. Jahrhundert verfügte zumindest die arabische Welt über eingehendere Kenntnisse der Destillation. Dieses Wissen gelangte jedoch erst im 13. Jh. über die Kreuzzüge nach Westeuropa. Seine Anwendung war dort zunächst Mönchen, Apothekern und Alchemisten vorbehalten, die das Verfahren vor allem praktizierten, um Essenzen aus Heilkräutern zu gewinnen. Die so gewonnenen Auszüge waren in erster Linie Medizin – und zwar eine zumeist ziemlich bittere. Durch die Zugabe von Honig sollte deren Einnahme erträglicher gemacht werden. Liköre waren zunächst also keine Genussmittel, sondern lediglich tendenziell pharmazeutische Elixiere.

Erst im 17. Jahrhundert, mit der Entdeckung des Seewegs nach Indien durch die Portugiesen und die Eroberung Amerikas durch Spanien, nahm die Sache weiter Fahrt auf. Durch die neuen Handelswege erschloss sich den europäischen Kolonialmächten eine ungeheure Vielfalt bis dahin unbekannter Gewürze, Wurzeln, Pflanzen und Samen, die sich in Alkohol mazerieren ließen. Die größten Fortschritte für die Entwicklung des Likörs erbrachten die imperialen Bestrebungen der Niederlande. Sie handelten innerhalb Europas mit Weinen, die sie zum Zweck der Konservierung mit Alkohol verstärkten, führten aus dem Orient, Indien und Indonesien Gewürze ein und waren die ersten, die auf den Antillen Zuckerrohrplantagen anlegten und damit über den Rohstoff verfügten, der die bitteren Elixiere auch ohne teuren Honig zu genießbaren Getränken machte. Mit dem günstigeren Rohrzucker aus der Karibik wurde der Likör im 18. Jahrhundert allmählich erschwinglicher und war fortan nicht mehr nur Adeligen und reichen Bürgern vorbehalten. Verbesserte Methoden der Fermentation und Destillation leiteten den endgültigen Siegeszug des Likörs zu Beginn des 18. Jahrhunderts ein, doch erst hundert Jahre später wurde Likör wirklich in größerem Umfang hergestellt und als Markenprodukt zunächst vor allem in Frankreich präsent. Mit der Idee des liqueur plaisir entstand dort sogar der Beruf des Liquoriste, der sich ganz auf die Herstellung von schmackhaften Likören konzentrierte. Dies führte im 19. Jahrhundert schließlich zur Entstehung großer Marken wie Bénédictine, Cointreau oder Grand Marnier, die bis heute nach den zu dieser Zeit entwickelten Rezepten hergestellt werden. Und hier haben wir historisch endlich auch jenen Punkt erreicht, an dem uns Likör als Zutat zu interessieren beginnt.

Von Jerry Thomas zu Dick Bradsell

Die intensive Verwendung von Likören als Zutat gemischter Getränke begann somit tatsächlich erst im Lauf des 19. Jahrhunderts. Dann allerdings auch entschieden: Sowohl bei Jerry Thomas als auch bei Harry Johnson sind bemerkenswert viele Rezepte mit einer Spur Likör versehen. Sogar ein Manhattan Cocktail kommt bei beiden nicht ohne einen Spritzer Orangenlikör oder Maraschino aus – womit wir direkt bei den beiden wichtigsten, zentralen Likören der klassischen Cocktail-Literatur wären. Nicht zuletzt deshalb werden wir uns beiden Produkten in späteren Folgen gesondert widmen.

Auch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts riss die Begeisterung für Liköre nicht ab. Im Gegenteil: Der Sidecar, der Pendennis Cocktail, der Pegu Club, der Last Word, der Chrysanthemum Cocktail, die Margarita, der Blood and Sand, der Negroni, der Singapore Sling und der 20th Century Cocktail entstanden allesamt zwischen 1910 und 1950. Herrlich, wenn Drinks dieses Kalibers so an einem vorbeirattern! Nach 1950 wuchs die Palette an Likören dann noch einmal drastisch an. Die 1980er Jahre übertrieben es dann, vorsichtig ausgedrückt, ein wenig: zu bunt, zu süß, zu viel Likör! Amaretto Sours, Fuzzy Navels, Grasshoppers, Long Island Iced Tea, Sex on the Beach und ziemlich viel Blue Curaçao. Und auch wenn es uns an dieser Stelle glücklicherweise nicht mehr sonderlich interessieren muss: Die 1980er waren auch das Jahrzehnt, in dem die damals noch sehr junge Marke Bailey‘s endgültig durch die Decke ging. B-52s und Slippery Nipples (da sind sie schon wieder, die einschlägigen Anspielungen) trugen dem Rechnung, spielen heute jedoch zurecht nur noch in an Autobahnkreuzen gelegenen Großraumdiskotheken eine Rolle. Ernstzunehmende Drinks mit Likör aus dieser Zeit, die uns auch heute noch geläufig sind, wären z.B. der Cosmopolitan oder Dick Bradsells Bramble sowie dessen Espresso Martini.

Der Likör als Flavouring Agent

Halten wir als Abschluss dieser heutigen Einleitung fest: Liköre bieten die Möglichkeit, einem Drink Geschmack, Länge, Körper und Süße zu geben. Traditionell werden sie, wenn sie verstanden sind und sinnvolle Anwendung finden, an der Bar meistens als flavouring agents eingesetzt. Deshalb funktionieren in den allermeisten Rezepten nicht als Basis eines Drinks. Ein Likör kann die Aufgabe des Süßens in einem Drink übernehmen, gleichzeitig aber Geschmack beisteuern. Wie das im Einzelnen funktioniert: beim nächsten Mal mehr. Darüber ein wenig zu räsonieren wird bestimmt spannend. Da mache ich mir keine … na was wohl? Sorgen!

Credits

Foto: Editienne

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