Rum ohne Alkohol nachbauen? „Schwierig, aber nicht unmöglich!“
Mit einem Schlag war die Range der 13 alkoholfreien Destillate von „Lyre’s“ plötzlich da. Zumindest aus Sicht der deutschsprachigen Bar, wo eine solche Vielfalt an Ersatzprodukten – wir reden von Amaretto- bis zum Bourbon-Surrogat – ungewohnt ist. Tatsächlich hat der aus Brisbane stammende Mark Livings bereits 2016 mit der Konzeption begonnen. Sein Wappenvogel „lyre bird“ gilt übrigens als größter Stimmenimitator der Tierwelt, und er taucht mit anderen tierischen Freunden auch auf den Etiketten der Range auf.
Dass Livings ursprünglich aus dem Marketing kommt und Kunden wie Pernod-Ricard, Constellation Brands oder Diageo betreut hat, sieht man den formschönen Flaschen an. Warum gerade seine drei Rum-ähnlichen Abfüllungen („non-alcoholic Cane Spirit“) wenig Zucker enthalten, erklärte der Australier im Zuge seiner Mission „alk-freies Rückbuffet“.
MIXOLOGY: Mark, bevor wir anfangen, müssen wir eine semantische Frage klären: Ihr schreibt „non-alcoholic spirit“, obwohl EU- und US-Definition für Spirituosen einen Mindestalkohol vorschreiben?
Mark Livings: Wir verwenden zwar mitunter auch Destillate, aber ich sehe das so, dass die Gesetzgebung sich einfach noch nicht an das angepasst hat, was seit einigen Jahren passiert. Und durch diese Fehlstelle hat sich der Konsument daher eigene Bezeichnungen gesucht. Was ich als Profi respektiere, ist aber Herkunft. Da steige ich niemand auf die Zehen! Wir schreiben also nicht „Bourbon“ oder „Rhum agricole“ auf unsere Flaschen.
Aber man sollte auch sehen, dass sich der Sprachgebrauch ändert. Ein Troll ist heute für die meisten Menschen kein mythisches Wesen mehr, das unter der Brücke wohnt, sondern etwas, das euch wahrscheinlich auch bei Mixology nervt. Eine Bezeichnung, die zwar lange eingeführt ist, aber immer einen schlechten Beigeschmack hat, ist „Mocktail“. Für meine persönliche Definition würde ich sagen, eine Spirituose ist eine hoch konzentrierte Flüssigkeit mit einem starken Eigengeschmack.
MIXOLOGY: Warum startet man mit einer ganzen Range und nicht mit einer alkoholfreien Kategorie – sagen wir: Gin – wie viele Mitbewerber?
Mark Livings: Unsere Zielsetzung war, eine Cocktailkarte zu ermöglichen, auf der alle gewohnten Drinks auch in einer alkoholfreien Version zu haben sind. Nebenbei kann man aber auch seinen Lieblings-Gin verlangen und im „Negroni“ nur die anderen beiden Komponenten ohne Promille wählen. Gerade die Entscheidung für einen Bourbon und Gin werden ja oft sehr persönlich gesehen und sind mit Emotionen verbunden. So kann aber jemand, der gerne einen Gin-Drink mag, zwei davon haben und doch mit dem Auto unterwegs sein. Natürlich gibt es auch Widerstand gegen das, was wir machen – das liegt wohl an der Identitätsstiftung, die mit manchen Getränken verbunden wird. Das sollte man als Konsument aber vielleicht überdenken.
Unser Ansatz war jedenfalls, dass die Welt das trinken will, was sie schon kennt. Fliegst du nach London, dann ist 30% des traditionellen Konsums in UK Gin, über dem Atlantik wieder in New York interessiert das kaum jemanden, da macht das vielleicht 5% aus. Und in Barcelona ist der Wermut ein massiver Trend. So sind auch unsere Beststeller wenig überraschend in den USA der „American Malt“ und in UK der „Dry London Spirit“.
»Wir haben praktisch mit einer weißen Leinwand begonnen und uns gefragt, was auf molekularer Ebene Rum ausmacht.«
— Mark Livings
MIXOLOGY: Lass uns über Rum reden – ohne Betriebsgeheimnisse zu verraten: Wie baut man den nach?
Mark Livings: Wir haben praktisch mit einer weißen Leinwand begonnen und uns gefragt, was auf molekularer Ebene Rum ausmacht. Das ist ein Mix von Methoden, für den wir sieben Verfahren für die ganze Range anwenden. Das kann ent-alkoholisiertes Trauben-Destillat sein, aber auch Melasse verwenden wir. Es ist immer eine komplexe Verbindung. Denn die menschliche Süße-Wahrnehmung beschränkt sich ja nicht auf Zucker oder ein Kohlehydrat, dass da im Rum schwimmt.
MIXOLOGY: Witzig allerdings ist der äußerst geringe Kaloriengehalt, der „Spiced Rum“-Ersatz hat gerade mal 25 Gramm Zucker am Liter – eigentlich konträr zum industrieüblichen Süßen?
Mark Livings: Es waren vor allem die damit verbundenen Geschmäcker wie Vanille oder Schokolade, die es uns ermöglichten, dass wir da mit sehr wenig Zucker auskommen. Das war zwar nicht unsere Ausgangsidee, aber der beste technische Weg zu einem Produkt, das uns zufrieden stellte. Es ist quasi umgekehrt wie bei manchen Destillaten, wo der Zucker den harschen Alkohol kaschieren soll: Hast Du nichts zum Kaschieren, braucht es auch keinen Zucker.
MIXOLOGY: Einer der Hauptkritikpunkte bei alkoholfreien Destillaten ist ja ihr wässriges Mundgefühl – beim Rum speziell.
Mark Livings: Das Fehlen eines Lösungsmittels und der Ethanole war das Problem. Alkohol zieht ja auch Speichel an und erhöht so die Geschmackseindrücke. Dazu bringt er Blut in den Gaumen, weil das Nervensystem auf die Schärfe des Alkohols reagiert. Simulieren kann man aber nur das „fette“ Mundgefühl und da gäbe es einige Wege, Agar-Agar, Gummi Arabicum oder Glyzerin. Hier entsteht nur ein anderes Problem, dass das bei Überdosierung nämlich schnell einmal „schleimig“ wirkt.
»Schwieriger – und da sind wir beim Rum – ist alles, was Noten der Fasslagerung aufweisen soll. Da ist die Frage: Was macht das Fass eigentlich in diesem langen Zeitraum von, sagen wir, 12 Jahren? Die genauen Komponenten zu isolieren ist schwierig, aber nicht unmöglich.«
— Mark Livings
MIXOLOGY: Ihr seid trotzdem gleich mit drei „Rums“ gestartet. Warum das?
Mark Livings: Wenn wir die gesamte Back-Bar ersetzen wollen, dann müssen wir uns natürlich auch mit den Säulen der Cocktailkultur auseinandersetzen. Tiki ist da eine der mächtigsten davon und da braucht es nicht nur einen Spiced-Rum-Ersatz, sondern auch eine Alternative zum Weißen und Dunklen Rum.
MIXOLOGY: Fehlt nur noch der Overproof ohne Promille …
Mark Livings: Ha, ha, da tun wir uns in der Tat schwer. Aber die Rums wurden zusammen entwickelt und funktionieren gut. Die erste Kategorie, die wir „knackten“, war aber der Wermut und es war ein fast magischer Moment, als wir wussten: Jetzt haben wir den Geschmack! Schwieriger – und da sind wir beim Rum – ist alles, was Noten der Fasslagerung aufweisen soll. Da ist die Frage: Was macht das Fass eigentlich in diesem langen Zeitraum von, sagen wir, 12 Jahren? Die genauen Komponenten zu isolieren ist schwierig, aber nicht unmöglich. Sehr schwer hinzubekommen sind Rauch-Noten, denn die werden immer irgendwie „schinken-artig“, da hast du schnell ein Produkt, das wie „Speck-Wasser“ schmeckt.
MIXOLOGY: Klingt nach einem langen Vorlauf!
Mark Livings: In der Tat. Wir haben 2016 mit der ersten Rezeptentwicklung begonnen und wollten von Anfang an mit mehreren Produkten auf den Markt kommen. Allein für unsere „Cane Spirits“ hatten wir sicher jeweils 70 bis 80 verschiedene Versionen, bis es gepasst hat. Die Vorgabe war aber auch immer, dass wir keine synthetischen Aromen nehmen. Trüffelöl ist z. B. auch erst billig, seit es mit künstlichem Aroma hergestellt wird – und genau deshalb lehnen es einige ab. Wir haben praktisch eine neue Aufgabe für die Sommeliers und Sensoriker erfunden. Nicht im kritischen Sinne zu sagen, „da ist dieses zu viel oder jenes zu wenig“, sondern zu schauen, wie bekomme ich etwa die tropenfruchtigen Ester aus der Destillation mit anderen Mitteln hin.
»Die drei „Cane Spirits“ sind auch bereits die zweite Fassung. Ich borge mir einiges bei der Technologie-Szene aus. Das i-Phone 9 ist auch besser als die Vorgängerversion und doch ein i-Phone.«
— Mark Livings
MIXOLOGY: Wenn wir schon bei Trendkategorie sind – ein Agavenbrand fehlt Lyre’s eigentlich noch?
Mark Livings: Wir werden sicher noch mehr machen, aber manche Kategorien dauern länger, weil ich mit dem Ergebnis nicht zufrieden bin. Im Übrigen verbessern wir auch laufend die bestehenden Produkte. Der „American Malt Spirit“ (Lyre’s Bourbon-Ersatz, Anm. d. Red.) ist bereits die dritte Version, seit wir auf dem Markt sind. Die drei „Cane Spirits“ sind auch bereits die zweite Fassung. Ich borge mir einiges bei der Technologie-Szene aus. Das i-Phone 9 ist auch besser als die Vorgängerversion und doch ein i-Phone. Schließlich sind wir nicht mit 200 Jahren Tradition verheiratet.
Dafür haben wir auch einen Ersatz für Absinth. Der war mir persönlich wichtig und machte auch Spaß beim Entwickeln: Es hat ja irgendwie auch etwas vom Schlachten einer heiligen Kuh, wenn du gerade in der kantigsten Kategorie der Bar eine Alternative anzubieten hast. Nicht, dass sich das ganz groß verkauft, aber die Botschaft ist klar: Keiner ist sicher vor der nicht-alkoholischen Bewegung!
Credits
Foto: Lyre's