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Martini Cocktail

Martini Cocktail: Ein Klassiker ohne Anfang und Ende

Der Martini Cocktail ist einer der großen Klassiker. Gleichzeitig ist einer von sechs Drinks, die David A. Embury in seinem wegweisenden Buch als »Basic« bezeichnet hat. Gabriel Daun über ein Phänomen, das immer nur eine Momentaufnahme darstellt.

Mit seinem 1948 erschienenen Buch The Fine Art of Mixing Drinks schenkte uns David Augustus Embury eines der Standardwerke für die Bar. Der passionierte (und augenscheinlich auch überpassionierte) Trinker, der seine Brötchen als Rechtsanwalt verdiente und selbst niemals professionell hinter einem Tresen gestanden hat, sondern Drinks allenfalls zu Hause für seine Gäste mixte, definierte dort nämlich gleich mehrere Parameter für Cocktails, die bis heute eine gewisse Gültigkeit besitzen.

Selbstverständlich kann man über sie streiten, jedoch haben sie es immerhin ins 21. Jahrhundert geschafft, sich als durchaus probate Mittel zu Erfassung des Wesens eines Drinks erwiesen und sind oftmals hilfreich bei der ersten Annäherung an ein Rezept. Seiner Rezeptsammlung vorangestellt hat Embury sechs Cocktails, die in seinen Augen die »Basic Drinks« darstellen, die jeder kultivierte Gastgeber zuzubereiten imstande sein sollte. Es handelt sich dabei um die folgenden: Martini, Manhattan, Old Fashioned, Daiquiri, Side Car und Jack Rose. Jeweils einer dieser Drinks soll in den kommenden sechs Ausgaben dieses Jahres im Fokus stehen. Wir beginnen – natürlich, wie auch Embury! – mit dem Martini.

Das eine Rezept eines Martini gibt es nicht

Noch immer gilt er den meisten als der König der Cocktails und wahrscheinlich ist es in fast jeder Bar der Welt möglich einen zu bestellen. Wenigstens eine ungefähre Ahnung zu haben, worum es sich bei ihm handelt, gehört fast schon zur Allgemeinbildung. Aber was ist der Martini Cocktail genau? Schwer zu sagen, denn es gibt nicht das eine Rezept. Obwohl er aus denkbar wenigen Zutaten besteht, ist die Anzahl der Varianten schier unbegrenzt. Da Embury die Drinks, die hier besprochen werden sollen, vorgegeben hat, wollen wir mit seiner Definition eines Martini Cocktails beginnen. Es sei jedoch postuliert: Mit seiner Auffassung, wie ein Martini Cocktail zubereitet werden sollte, besetzt auch er lediglich eine Periode auf dem Zeitstrahl. Der Martini unterlag in seiner Geschichte ständiger Modulation und tut es bis heute. Embury beginnt seine Überlegungen zum Martini so:

»I have already referred to the Martini as the most perfect of aperitif cocktails. Unfortunately, however, the average Martini served either at home or over a bar is anything but perfect. This is due in part to poor-quality liquors and in part to the proportions used. The usual recipe book specifies one-third vermouth and two-thirds gin. In violent protest against this wishy-washy type of cocktail there have sprung up the VERMOUTH RINSE and VERMOUTH SPRAY. The first consists of rinsing the inside of the cocktail glass with vermouth, pouring it back in the bottle, and then filling the glass with iced gin. The second uses a special vermouth atomizer, although a perfume atomizer will do. The iced gin is poured into the cocktail glass and then given a light spray of vermouth. With good, imported gin, both are acceptable, but are they Martinis?«

Das von Embury geschmähte 2:1-Verhältnis

Die rhetorisch gemeinte Frage am Ende kritisiert den Martini, wie er bis heute beispielsweise im Londoner Duke Hotel, in dessen Bar das mit Wermut benetzte Glas am Tisch mit gefrostetem Gin aufgefüllt wird, oder in vielen Bars in Japan, die die Rinse-Prozedur praktizieren, serviert wird. Ich gebe ihm recht, dass diese übermäßig trockene Version eines Martinis in den meisten Fällen wenig Vergnügen bereitet. Zu harsch, zu wenig Finesse für meinen Geschmack.

Nicht falsch verstehen: Einen Martini im Duke sollte man als passionierter Barfly mal getrunken haben und man geht für keinen anderen Drink in das nahe dem Piccadilly Circus gelegene Hotel. Aber entre nous: Nach einem ist es dann eigentlich auch gut. Das von Embury geschmähte 2:1-Verhältnis wiederum, das in den Jahren nach der Prohibition wohl gängige Praxis gewesen ist, halte ich allerdings für alles andere als »wishy-washy«, es handelt sich in meinen Augen um eine durchaus praktikable Rezeptur.

Einverstanden bin ich mit der Ansicht, ein Martini müsse immer mit trockenem Wermut zubereitet werden. Die bis vor einigen Jahren bei manchem Bartender noch gängige Idee, man könne den Martini sowohl dry als auch perfect (trockener und süßer Wermut) oder gar sweet zubereiten, halte ich für gelinde gesagt schwierig. Einigen wir uns für 2020 darauf: Wird Gin mit süßem Wermut vermählt, handelt es sich um einen »Gin & It« (das »It« steht dabei für »Italian Vermouth«) – ein toller Drink, aber ein Martini ist es nicht! Und die Verwendung zweier Wermutsorten habe ich im Martini (und auch im Manhattan) noch nie verstanden. Im Leben geht es nun einmal darum, Entscheidungen zu treffen! Entsprechend launig bemerkt auch Embury zum Perfect Martini: »I say that whoever named the ›Perfect‹ cocktail was a mighty poor judge of perfection.« Wie lautet denn nun aber sein Rezept, wenn ihm jene der Zeitgenossen nicht taugen mochten?

»My advice is to forget them all and, in your own home, serve one of the following:

MARTINI DE LUXE or 1 part Lillet Vermouth
GIBSON DE LUXE 7 parts imported English Gin

Stir well in a bar glass or Martini pitcher with large cubes of ice and pour into chilled cocktail glasses. Twist lemon peel over the top. The distinction between the Martini and the Gibson is simple. The Martini is served with an olive, the Gibson with a small pickled cocktail onion.«

Auffallend ist, dass die Verwendung einer Zeste als Aromengeber bei Embury obligatorisch ist, also nicht zwischen Zitrone oder Olive gewählt werden muss (so viel zum Thema Entscheidungen treffen …). Das 7:1-Verhältnis ist freilich eher etwas für Hartgesottene. Kein Drink, von dem man fünf bestellen kann oder sollte. Dennoch ist genau diese Idee eines echten Dry Martinis jene, nach der in den darauffolgenden 30 Jahren der Martini größtenteils zubereitet werden sollte – und bestimmt nicht die allerschlechteste.

Am Anfang war es »wet«

Ärgerlich, es zugeben zu müssen: Obwohl der Martini so berühmt ist, haben wir bemerkenswert große Defizite, was die Bestimmung seiner Herkunft und frühen Geschichte anbetrifft. Verlassen wir die späten 40er-Jahre einen Moment und gehen zurück zu seinen Anfängen, soweit diese lokalisierbar sind und auf die auch Embury in seinem Buch Bezug nimmt. Der Martini taucht ab den 1880er-Jahren in der Barliteratur auf, als Dry Gin allmählich an Popularität gewann. Dort findet er Erwähnung bei Harry Johnson. Die Gewichtung der Zutaten zielt allerdings auf einen wesentlich weniger trockenen Drink als Emburys Version ab und gibt damit Zeugnis der deutlich süßeren Trinkgewohnheiten des 19. Jahrhunderts:

2 or 3 dashes of gum syrup (be careful in not using too much);
2 or 3 dashes of bitters (Boker’s genuine only);
1 dash of curaçao or absinthe, if required;
½ wine-glass of old Tom gin;
½ wine-glass of vermouth.
Stir up well with a spoon; strain it into a fancy cocktail glass; put in a cherry or a medium-sized olive, if required; and squeeze a piece of lemon peel on top, and serve.

Zucker im Martini?

Um die später einsetzenden Transformationen des Martini Cocktails zu verstehen, ist dieses Rezept hilfreich. Johnson rührt den Drink 1:1 mit Old Tom Gin und Wermut (man beachte, dass er keine genauen Angaben zur Art des zu verwendenden Wermuts macht – es ist durchaus wahrscheinlich, dass es sich hier noch um die süße Variante handelt) und fügt darüber hinaus eine zusätzliche Spur Zucker hinzu. Tatsächlich denke ich, dass diese Idee gar nicht mal schlecht ist. Ein Tropfen Zucker ist in der Lage, auch einem Dry Martini etwas mehr Breite zu geben. Ja ja: Zucker im Dry Martini? Dünnes, dünnstes Eis! Nervenkitzel pur, das zu schreiben. Puh, erst mal sacken lassen … Damit wir uns richtig verstehen: Ich sage nicht, man solle seine Martinis fortan zuckern, mir geht es in dieser Fußnote eher darum, dass sich der Drink hervorragend dazu eignet, einen möglichen Einsatz von Zucker in Drinks zu demonstrieren und zu verstehen: das Hinzufügen von mehr Substanz, ähnlich der Verwendung von Fett in der Küche, ohne dass der Drink dabei notwendigerweise merklich süßer wird. Wem danach ist, der verfolge diesen Gedanken selbst weiter, zurück zum Thema!

Die Zugabe von Bitters in einen Martini (Johnson verlangt wie so oft nach Boker’s) war damals common sense, sie verschwanden irgendwann während oder kurz nach der Prohibition. Die Option, Curaçao oder Absinth als kleine Extra-Nuancen hinzuzufügen, ist im Bartenders‘ Manual häufiger zu finden und überrascht daher nicht. Schließlich noch die Garnitur, bei der optional statt einer Olive eine Kirsche in den Drink gegeben werden kann – auf den ersten Blick einigermaßen kurios aus heutiger Sicht, allerdings plausibel, zieht man in Betracht, dass der Drink von seiner DNA her auffallend dem Rezept ähnelt, das Johnson für den Manhattan ausgibt. Auch Johnson verlangt schließlich in jedem Falle nach den Ölen aus einer Zitronenzeste.

Martini Cocktail

Zutaten

6 cl Dry Gin
1-2 cl trockener Wermut (nach Geschmack)
Orange Bitters (optional)

Come fly with me!

Zwischen den 1960er- und 90er-Jahren wurde der Martini leider viel zu oft viel zu schlecht zubereitet und dadurch, wie so manch anderer Drink auch, ein wenig das Opfer seines eigenen zeitweiligen Erfolgs. Das Bemerkenswerte am Martini ist, wie scheinbar einfach er zuzubereiten ist – und wie verblüffend selten das Endergebnis im Glas dann wirklich glücklich zu machen weiß.

Große weite Welt, gute alte Zeit und ein bisschen nach Freiheit

Dennoch hat sogar ein schlechter Martini irgendwie zumindest manchmal seine Berechtigung. Ich erinnere mich an einen Martini, den ich am Flughafen in Boston getrunken habe. Dort wanderte eine unappetitlich große Portion Gin in ein Shaker-Tin und wurde mit etwas Noilly Prat Dry (mit dem Schraubverschluss der Flasche abgemessen) auf zu wenig Eis mit einem dieser 90er-Jahre-Löffel mit rotem Knopf am Ende verrührt und in einem ungekühlten Spitzglas serviert. Garniert wurde mit drei gräulichen Oliven.

Niemals würde man sich einen solchen Drink nach Flughafen-Rezept zu Hause zubereiten, es sei denn, man hat nichts, aber auch wirklich gar nichts für sich selbst übrig. Schmeckt wie Knüppel aufn Kopp und zwei davon machen ohne Umwege dumm. »Pfui!«, ruft der gebildete Leser nun. Aber ganz ehrlich: Es machte irgendwie Spaß ihn zu trinken! Dieser Flughafen-Martini erfüllte einen bestimmten Zweck. Als Jetlag-Medizin, als Verkürzer der Wartezeit, ein Drink, für den niemand einen verurteilen kann, auch mittags um 12 nicht, und der allen Einwänden, die man hätte haben können, zum Trotz von mir ausgetrunken wurde, denn er schmeckte nach großer weiter Welt, guter alter Zeit und ein bisschen nach Freiheit. Kein anderer Drink schien mir in diesem Moment passender zu sein. Denn Martinis zu trinken ist immer auch ein kleines bisschen unvernünftig – und genau das macht ihn vielleicht so reizvoll.

Das Jetzt und die Zukunft

»I think it’s fading«, gab David Wondrich vor einigen Jahren zu Protokoll, als er zum Martini befragt wurde. Er schwindet? Wirklich? Ausgerechnet er, der große, ikonische Drink, nach dem Leuchtreklamen für Bars und das Logo dieses Magazins entworfen wurden? Der Ewige? Das pars pro toto schlechthin, wenn es um gemischte Drinks geht? Wondrich hat nicht ganz unrecht: Gefühlt werden dieser Tage deutlich mehr Manhattans und Old Fashioneds als Martinis gerührt. Und bestimmt werden deutlich mehr der innovativeren, experimentellen Drinks aus der Karte bestellt als der Drink, der in keiner Karte stehen muss und trotzdem in einer Bar, die diese Bezeichnung verdient, auf Anfrage in jedem Falle gereicht werden kann und wird. Trotz des Gin-Hypes der vergangenen Jahre findet sich der Martini, das behaupte ich einfach mal, in kaum einer Bar unter den Top Ten der verkauften Drinks.

Trotzdem: In einigen Top-Bars wird der Martini immer noch oft serviert. Auch wenn er sich dafür wieder einmal gehäutet hat: Das Dante in New York serviert einen 50:50-Martini mit etwas Salzlösung, Verjus und Lemon Bitters, bereits auf Trinkstärke eingestellt, prebottled und im Froster gelagert, auf Anfrage direkt am Tisch. Das Londoner Tayēr + Elementary macht ihn zugänglicher, indem er dort als »One Sip Martini« im Vaso Cruz (dem traditionellen Mezcal-Gefäß), als kleine Portion ausgeschenkt wird und samt einer mit Blauschimmelkäse gefüllten Olive kommt. Und Marian Beke hat den Gibson, den wir hier einmal großzügig als den Bruder des Martinis dazuzählen wollen, in seiner gleichnamigen Bar in neue Höhen gehoben. Die Geschichte geht weiter.

Der Martini hat keinen Anfang und kein Ende

Er nennt eine bewegte Vergangenheit sein Eigen. Den Test der Zeit hat er dabei bestanden, auch wenn – oder gerade: weil – er immer wieder dem Wandel unterlegen gewesen ist. Wer nicht mit der Zeit geht, geht mit der Zeit! Und ein paar Dekaden lang war er irgendwie sogar der einzige echte Cocktail, der noch getrunken wurde, während allerorts Saft, Sirup und Liköre zusammengemischt wurden. Sein Name wurde in den Neunzigern missbraucht, im neuen Jahrtausend geriet er dann ein wenig in Vergessenheit und verlor an Bedeutung.

Mag sein! Dennoch gilt für den Martini wahrscheinlich das, was Robert Altman einmal über den Jazz sagte: Er hat die Zeiten überdauert, weil er keinen Anfang und kein Ende hat. Er ist ein Moment.

Dieser Text erschien ursprünglich erstmals in der Ausgabe 1/2020 von MIXOLOGY – Magazin für Barkultur. Er ist der Auftakt einer sechsteiligen Serie, in der sich Gabriel Daun dem Werk von David A. Embury widmet.

Credits

Foto: Hannes Häfner

Comments (3)

  • Johannes van Zwoll

    Endlich mal wieder ein interessanter Artikel über meinen, seit den 80er Jahren, Lieblings-Cocktail.
    Ich bevorzuge seit einiger Zeit die Gin’s Fords, Martin Miller’s (45,2%) und No. 3 (Berry Bros.) dabei. Für mich gehören auch immer einige Dash Bitters dazu (wovon ich stets 10 – 15 verschiedene Anbieter aus der ganzen Welt in meiner Martini-Home-Bar vorrätig habe).
    Kurios finde ich immer, wenn ich in einer vermeintlichen Bar einen Martini bestelle und die Bedienung oder der vermeintliche Bartender zwar alle Cocktails aus dem Hut zaubern können, aber beim (eigentlich simpelen) Martini einen fragenden Gesichtsausdruck bekommen.

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  • JGatsby

    Soo gern stimme ich Johannes zu!
    Vor ca. 5 Jahren begann ich wieder zu mixen und bei ausbalancierten alten Drinks mit Noilly Prat oder Lillet griff ich erstmals zu Bitters und war begeistert. Mein erster Gedanke war, dass sie Cocktails auf eine neue Stufe heben, tatsächlich jedoch gehören sie zur DNA der amerikanischen Coktail-Kultur. Eigentlich definieren diese Tinkturen das Wesen eines Cocktails.

    Der Martini ist einfach das Paradebeispiel von Finesse! Es geht darum aus einem Rezept die Idee zu begreifen, ein paar wenige und dennoch erstklassige Zutaten stets zu variieren und dem Drink immer wieder Charme zu verleihen. Und die Bitters Sammlung ist nie groß genug!

    Genauso wenig verstehe ich allerdings die begrifflichen Spielereien darum, was ein Dry Martini ist, da schlichtweg gemeint ist einen Dry zu verwenden, also trockenen Vermouth, der eine großartige Varianz hat… Wer unbedingt ein Glas kalten Schnaps haben will mit den üblichen verschlissenen Sprüchen, die Winston Churchill zugeschrienen werden, der kann das haben. Aber es bleibt unverständlich, warum er das als einen Martini Cocktail deklariert.

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  • Michael Erdmann

    Shaked, not stirred, der „alte“ James Bond Spruch ist für mich nach wie vor bedeutsam.
    Ian Fleming, der ein Connisseur war,
    wenn es um James und Martinis ging, hat in einem seiner Bücher die favorisierten Zutaten benannt:
    Lillet trocken und Wolfschmidt Wodka.
    Shaked, not stirred!
    Zur Not tut es auch ein guter Gin.

    Cheers!
    Michael E.

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