Die Ausweitung der Klarifizierungszone: Alles Milk Punch oder was?!
Es ist der Drink der Stunde. Oder vielmehr: Es ist die Technik der Stunde. Keine Barkarte, so scheint es, kommt ohne Milk Punches aus. Von Gastschichten ganz zu schweigen. Das wirft zwei Fragen auf: Ist das Ende der Fahnenstange erreicht? Oder kommt die große Klarifizierungs-Welle und der breitere Milk Punch-Trend erst noch?
Danil Nevsky ist aktuell einer der populärsten Seismografen der internationalen Barszene, der er vor allem durch Social Media seinen Stempel aufdrückt. Ein Weg zum globalen Ruhm des aktuell in Barcelona residierenden Cocktailman waren und sind seine berühmt-berüchtigten, zehnteiligen Instagram-Slides, die er einem bestimmten Thema widmet. Sprich: Die er durch den Kakao zieht. Mitte Juni dieses Jahres war der Milk Punch dran. Da wird dieser beschrieben als »Crystal clear glass of ›That’s Nice!‹« oder »How to tell a bartender doesn’t want to shake drinks anymore« oder »Takes 18 years to prep & 10 seconds to serve. Just like premature ejaculation.«
Diese Ehre, verballhornt zu werden, hat natürlich mit Relevanz zu tun: Persiflage macht erst Sinn, wenn das Objekt so bekannt ist, dass sich die meisten etwas darunter vorstellen können, sowie idealerweise auch an einem Scheidweg steht. Das scheint aktuell der Fall zu sein: Der Milk Punch ist überall. Transparent im Look und geschmeidig in der Textur, lacht er von Barkarten und Social-Media-Accounts von Albuquerque bis Zürich. Für einige ist Milk Punch daher bereits ein Reizwort. Die Frage aber ist: Ist er nicht für viele mehr noch ein Fremdwort?
Kleine Glanzlichter, aber selten im Rampenlicht
Einer der eben erwähnten Slides von Nevsky lautete auch: »Nico de Soto Senpai, please notice me!« Das kommt nicht von ungefähr. Man wünschte, etwas anderes schreiben zu können, als dem demonstrativen Vielflieger Nico de Soto den Teppich auszurollen. Aber wer Milk Punch sagt, muss seriöserweise Nico de Soto sagen. Bekannt mag die Technik des Milk Punch seit dem Jahr 1711 sein, als die britische Hausfrau Mary Rockett sie erstmals niederschrieb, während Jerry Thomas 1862 in seinem Bartenders Companion den English Milk Punch aufführte oder nach dem Tod des Schriftstellers Charles Dickens über hundert Flaschen Milk Punch in dessen Keller gefunden wurden (besprochen in Drinking with Dickens seines Ur-Enkels Cedrick Dickens aus dem Jahr 1999, wo der Milk Punch einen gebührenden Platz einnimmt). Aber de Soto kann beanspruchen, den Milk Punch als Signature Move in die moderne Barkultur gehievt zu haben. Das war 2010. Mit seinem Drink Kota Ternate, entstanden im Experimental Cocktail Club in London, läutete er die Zehnerjahre ein, einem Drink aus Arrack van Oosten, Smith & Cross Rum, Plantation (jetzt Planteray, Anm.) Trinidad Overproof Rum, einer Spiced Tea-Mischung, Ananassaft und Milch.
Auch Dave Arnold bespricht die Klarifizierungstechnik durch die Kombination aus Säure und Milch in seinem wegweisenden Buch Liquid Intelligence aus dem Jahr 2014. Aber im Gegensatz etwa zum Klareis, dessen Verständnis durch dieses Werk in den erweiterten DIY-Fokus der Barszene rückt, bleibt der Milk Punch eine Kuriosität. Der Averell der Daltons-Brüder. Eine Technik, die bereits 1711 erwähnt wird, passt zwar in den Revival-Kanon, aber eigentlich widmet sich diese lieber dem Punch – ohne Milch. Es kommen die Zeiten von Smoking Gun, Zentrifuge und Rotovap. Der Milk Punch taucht mal hie im White Lyan auf, mal da in anderen Bars. Er setzt kleine, mediale Glanzlichter. Aber steht selten im Rampenlicht. Bei MIXOLOGY, wo seit Beginn 2003 jede erdenkliche Technik besprochen wurde, wird der Milk Punch erstmals 2015 online vorgestellt. Erst 2018 folgt ein Feature in der Print-Ausgabe.
Milk Punch im Trend: ein Corona-Gewinner
2018 ist auch das Jahr, in dem Tarek Nix seinen ersten Milk Punch ansetzt. Damals noch im Berliner Provocateur, ist er heute eine Hälfte der Milk Punch Boys. Das Duo, das er mit Andreas Andricopoulos bildet, entstand 2020, aus »Jux und Tollerei«, wie Nix erklärt – aber vor allem als Antwort auf das große Corona-Loch. Als in dem Jahr, dessen Ereignisse uns heute so lange zurückliegen zu scheinen, alle Räder stillstehen, setzen die beiden die Filterhauben auf und produzieren Milk Punches. Ausschließlich. »Wir haben jeden einzelnen Schritt der Herstellung auf Social Media gestellt. Auf die ersten Stories haben wir so viele Reaktionen bekommen, dass wir erkannt haben: Die Leute interessieren sich dafür. Dann kamen Brands auf uns zu, mit denen wir kooperiert haben. So haben wir am Ende jeder Episode gratis 80 Drinks verschickt, die innerhalb von einer Stunde vergriffen waren«, erinnert er sich. »In jener Zeit ist der Milk Punch auch stärker in den Bars angekommen. Davor habe ich das nicht so stark wahrgenommen.«
Der Milk Punch also: ein Corona-Gewinner! Nachdem die Pandemie nach zwei traumatischen Jahren für beendet erklärt wird, explodiert die Reisewut der eingepferchten Bar-Community. Gastschichten sind seither das Gebot der Stunde. Überall im Gepäck: vorgebatchte Beutel und Flaschen. So wie es heute keinen deutschen Film ohne Lars Eidinger zu geben scheint, gibt es keine Karte oder Gastschicht ohne Milk Punch. Hand in Hand mit seinem Cousin, der Karbonisierung, infiziert die Klarifizierung die Bar-Welt. Denn plötzlich passt das ganze Paket: die Haltbarkeit, die Planbarkeit, die Transparenz, die Farbenfrohheit. Grün, blau, gelb, rot schimmern die geklärten Drinks im Glas – die Cocktails der 2020er sind längst so bunt wie die der 1970er-Jahre. Nur eben in transparent-bunt.
Neue Standardausstattung…
Als günstige Klarifizierungsmethode passt der Milk Punch auch in jede geografische Nische. Im nicht gerade für seine Barkultur bekannten Baden-Baden hat Arman Krayt Gülenay immer vier bis fünf Milk Punches auf der Karte seines Armando’s. »Wenn ich meinen Gästen die Karte aushändige, erkläre ich direkt die Signatures und klassischen Cocktails, aber eben auch, was mit Milch geklärte Drinks sind. Der Wow-Effekt ist groß, die Leute sind begeistert und erstaunt über den Aufwand, der dahintersteckt«, beschreibt der Einzelkämpfer. »Da wir damit ein absolutes Nischenprodukt haben und auch die einzigen hier in der Stadt sind, die Milk Punches anbieten, ist es für viele Leute mittlerweile ein Begriff.«
Auch die Einsatzmöglichkeiten sind mannigfaltig. Sigi Schot (Hammond Bar, Wien) hat ihren ersten Milk Punch ebenfalls zu Coronazeiten gemacht, inspiriert von ihrem damaligen Mitarbeiter Dominik Oswald. Seither gehören Milk Punches zum festen Repertoire der Wiener Bar, wo alle zwei Monate die Karte gewechselt wird. Der Ansatz ist jedoch, nie den kompletten Drink zu klären, sondern nur die Kombination aus Milchquelle, Säure, Saft und Zucker. Man klarifiziert also die nicht-alkoholischen Komponenten, um diese dann wie eine Cocktail-Zutat zu verwenden. »Durch die ›Molligkeit‹ der Milch – oder welche Alternative man auch verwendet – wird dieses texturelle Loch vieler alkoholfreier Drinks überbrückt, man bekommt großartige Geschmäcker und verhaut sich nicht den Wareneinsatz«, so Schot. Der Nachteil in ihrem Fall – die vergleichsweise kürzere Aufbewahrungsdauer durch die Abwesenheit alkoholischer Komponenten – macht genaue Planung wieder wett.
Für Thang Vieth Trinh wiederum, Barchef der neuen Bar 1705 im Kempinski Dresden, gehört der Milk Punch auch längst zur Grundausbildung. »Für unser Barpersonal ist der Milk Punch ein Teil des Basis-Trainings und der Einarbeitung. Da bei uns jeder sowohl im Service als auch hinter der Bar arbeiten muss, wird jeder in dem Thema geschult«, so Viet Trinh.
…oder doch Babykotze?
Dass der Milk Punch von den medienstarken Ranking-Bars der Metropolen bis in die Filterkaffee-Bastionen der Kleinstadt rauf- und runtergespielt wird, gefällt aber nicht jedem. Erste Ermüdungserscheinungen treten ein. Unser Autor Martin Stein schrieb im Juli in seiner Kolumne auf MIXOLOGY Online einen Text mit der Bitte, endlich damit aufzuhören. Irgendwann gehe einem dieses »spezielle kleine Geschmäcklein nicht mehr aus der Nase; es setzt sich fest, fast schon in der Kleidung, und es geht dann auch ganz schwer wieder weg … das Säuerliche, der Hauch von Milch … es ist schlicht nicht zu ignorieren. Eine, wenn nicht die prägende Charakteristik beim Genuss, ist definitiv ›Anklang von Babykotze‹«.
Die Stärke des Milk Punch ist eben gleichzeitig seine Schwäche. Er erlaubt jeder Person zu sehen, was sie will, wie bei Trickbildern, wo manche ein Kamel erkennen und andere einen nackten Körper. In ihrem Wesen ist die Klarifizierungsmethode entstanden, um Mischungen haltbar zu machen, vor allem aber auch, um wuchtigen Fusel weitaus wuchtigerer Zeiten abzumildern. Also um Ecken und Kanten abzupolieren und mit einem feinen, molkigen Mäntelchen zu überziehen. Aber diese Ecken und Kanten braucht eben auch mancher Drink. Aber nicht bei jeder Rezeptur macht ein Milk Punch Sinn: »Wir wenden Milk Punches vor allem an, wenn wir einen Drink mit einer neutralen Spirituosen-Basis aromatisch verstärken und mit anderen intensiven, alkoholfreien Zutaten harmonisieren«, beschreibt Viet Trinh. »Es gibt aber auch Spirituosen mit besonders markantem Aromaprofil, die nach der Klärung noch deutlich wahrzunehmen sind, wie zum Beispiel Mezcal oder ein junger, aber kräftig torfiger Whisky. So lassen sich kräftige Spirituosen mit feineren, nuancierten Zutaten zusammenbringen, ohne dass eine Seite untergeht.«
Vorne klar, hinten trüb
Der Milk Punch scheint ein Musterbeispiel des Spagats zu sein, den die Bar stets zwischen sich selbst und dem Gast machen muss. Während vorne in der Spitze der Avantgarde das erste Gähnen ausbricht, ist der Begriff hinten im Feld, beim Endkonsumenten, noch ein großes Fragezeichen. Ein Cocktail mit Milch? WTF?! Und diese Lücke zu füllen ist schließlich eine der Hauptaufgaben der Bar. »Ich differenziere zwischen Gast und Bartender«, so Viet Trinh. »Natürlich ist ein Milk Punch kein neues Kunststück mehr und der anfängliche Hype ist vorbei. Aber für die meisten Gäste ist es eine tolle, neue Erfahrung.«
Eine spontane Umfrage für diesen Beitrag auf unserem Instagram-Kanal unterstützt dieses Bild. Eine einzige Story mag keine akkurat in Auftrag gegebene Analyse sein, aber wir vertrauen unserer Crowd, die 196 Antworten ausgespuckt hat. Auf die Frage, wo der Milk Punch steht, haben 32 Prozent mit »Der Peak ist erreicht« geantwortet, während 59 Prozent der Meinung waren: »Da geht noch einiges.« 9 Prozent wussten nicht, was ein Milk Punch ist (angeblich!).
Weiter Klartext sprechen
Auch Tarek Nix ist überzeugt, dass wir den Klarifizierungs-Peak noch lange nicht erreicht haben. Mittlerweile beliefern die Milk Punch Boys Restaurants mit ihren Kreationen, 30 Varianten haben sie mittlerweile im Angebot. Auch Caterings rücken ins Zentrum. »Meiner Meinung sind Milk Punches kreativ, weil es alles Signatures sind. Mit Zutaten, die nicht in einem Standard-Portfolio eines Standard-Caterers sind«, meint er. »Sie sind auch im Casual Fine Dining oder Sterne-Restaurants ein Thema. Dort wird mittlerweile nicht nur Wein angeboten, sondern auch alkoholfreie Begleitung und alkoholische Cocktail-Begleitung. Und nicht immer gibt es das Barpersonal dafür.«
Soeben kam Nix auch von einem Treffen mit einer Kinokette zurück, die interessiert ist an der Thematik. Wer weiß: Vielleicht gibt es dann ja bald einen Milk Punch zum dritten Teil von Dune.
Dann trifft Sanddorn auf Sandworm, gewissermaßen.
Dieser Beitrag erschien erstmals in der Print-Ausgabe MIXOLOGY 4-2024. Für diese Wiederveröffentlichung wurde er formal adaptiert und mit Links versehen, aber inhaltlich nicht verändert. Informationen zu einem Abonnement findet sich hier, Bestellungen zu einer Einzelausgabe hier. (Via Meininger-Verlagsseite)
Credits
Foto: Jule Frommelt