Während der Pandemie haben viele den Glauben an die American Bar verloren. Die Mirabeau Bar hat ihn gefunden.
Die Mirabeau Bar ist eine Cocktailperle in Freiburg. Und das Werk der beiden Überzeugungstäter Jenny und Andreas Berg. Die beiden haben während der Pandemie ihre Liebe zur klassischen American Bar entdeckt und gehen diesen Weg seither kompromisslos. Immer zu zweit – sie mixt, er serviert. Armin Zimmermann hat sie zum Interview getroffen.
Über Umwegen in die Gastronomie und über einen noch weiteren Umweg in die American Bar: So könnte man den Weg von Jenny und Andreas Berg in ihre Mirabeau Bar beschreiben. Kennengelernt haben sich die beiden, als sie als Artisten tätig waren, ein Beruf, dessen Credo auch heute noch mitschwingt. „Damals haben wir mit dem Publikum gespielt, als Gastgeber gehen wir jeden Abend aufs Neue individuell auf unsere Gäste ein. Dabei darf unsere persönliche Tagesform keine Rolle spielen, das haben wir im Zirkus gelernt: Jeder Gast hat zu jeder Zeit Anrecht auf dieselbe professionelle Inszenierung“, sagen sie über ihre Herangehensweise. Besonders das penible Austarieren alter Cocktails steht im Mittelpunkt ihres Konzepts, das sich in Freiburg herumgesprochen hat. Im Interview sprechen sie über ihren Werdegang, ihre Liebe zu Frankreich und wie es kam, dass sie während der Covid-Pandemie erst recht an ihren gastronomischen Traum glaubten.
MIXOLOGY: Liebe Jenny, lieber Andreas: Jenny, du mixt die Drinks präzise à la Minute, während du, Andreas, die Gäste umsorgst und anekdotisch die Hintergründe eines Getränks erläuterst. Man merkt, dass ihr mit Herz und Verstand in eurem Element seid, dass ihr nicht nur einen Beruf ausübt, sondern eurer Berufung folgt. Wie entstand eigentlich eure Leidenschaft für die Bar?
Jenny: Privat hatten wir beide schon immer ein Faible für alkoholische Mischgetränke. Ich war während meiner Ausbildung an der Staatlichen Artistenschule Berlin um die Jahrtausendwende mit Vorliebe in den Bars der Hauptstadt unterwegs …
Andreas: … und ich habe zu Studienzeiten eine Hausbar in der Provinz gepflegt und gerne Gastgeber gespielt. Ende 2002 führte uns das Schicksal zusammen. Unsere erste gemeinsame Aktivität bestand darin, das Barbuch von Charles Schumann von vorne bis hinten durchzumixen. Später haben wir Nachbarn zum Cocktailtrinken eingeladen. Irgendwann verbreitete sich dann, nicht zuletzt über einen Zeitungsartikel, das Gerücht, in unserem Wohnhaus gäbe es eine geheime Bar, zu der nur Auserwählte Zugang hätten. (Lacht) So kamen wir damals ganz ungeplant zu unserem ersten Speakeasy.
»Bis zum Tag unserer Eröffnung am 14. Mai 2014 hatte keiner von uns zuvor auch nur eine Schicht in einem Café, einem Restaurant oder in einer Eckkneipe, geschweige denn in einer Bar übernommen.«
— Jenny Berg
MIXOLOGY: Das klingt nach einer guten Zeit und viel Spaß. Doch wie habt Ihr euer Hobby zum Beruf gemacht?
Jenny: Nach recht erfolgreichen gemeinsamen Jahren im Gesundheitsmanagement entschieden wir uns im Dezember 2013 für das Abenteuer Gastronomie und einen eigenen Betrieb, als sich über Nacht die Chance dafür bot. Wichtig war uns von Anfang an, keine Personalverantwortung mehr tragen zu müssen, sondern das Tagesgeschäft allein zu zweit stemmen zu können. Bis zum Tag unserer Eröffnung am 14. Mai 2014 hatte keiner von uns zuvor auch nur eine Schicht in einem Café, einem Restaurant oder in einer Eckkneipe, geschweige denn in einer Bar übernommen.
MIXOLOGY: Das war sicherlich ein gewagter Schritt.
Andreas: Ja, es war ein Sprung ins kalte Wasser, der auch deshalb gelang, weil wir beide zuvor selbstständig agiert und vielfältige Business-Qualifikationen erworben hatten. Auch mein Studium der Literatur, Geschichte und Politik hat mir geholfen, denn dadurch habe ich gelernt, mich schnell und systematisch in mir bis dato unbekannte Themen einzuarbeiten, sie von allen Seiten zu beleuchten.
MIXOLOGY: Wie sah dann die Praxis aus?
Jenny: Wir haben vieles ausprobiert und genauso vieles wieder verworfen. Aber unser Ziel war es immer, Gastronomie so zu betreiben, dass wir selbst einkehren, uns willkommen und wohl fühlen, ja immer wieder verweilen würden. Doch erst nach einem langen Lernprozess mit der einen oder anderen Sackgasse haben wir im Frühjahr 2022 im komplexen Konzept der klassischen American Bar unsere eigentliche Passion und unser gastronomisches Zuhause gefunden. Das fühlte sich wie ein Ankommen an.
MIXOLOGY: Der Wandel hin zur American Bar fand ja inmitten der Corona-Pandemie statt. Sie blieb in der Gastronomie nicht ohne Auswirkungen und hat den Betrieb ungemein erschwert. Wie war die Situation für euch?
Andreas: Im Nachhinein hat die Corona-Pandemie eine entscheidende Rolle gespielt: Ungewollt hatte das Mirabeau damals insgesamt 13 Monate geschlossen. Wir haben diese Zeit zur Reflexion genutzt und inhaltlich an der Neuausrichtung unseres Lokals gearbeitet. Dazu zählte auch die theoretische und praktische Auseinandersetzung mit historischen Rezepten. Die Bücher von Harry McElhone und das Savoy Cocktail Book waren während dieser Phase besonders wichtig für uns. Seit dem Ende der Pandemie haben wir uns nun zu 100 Prozent auf das konzentriert, was uns an der Gastronomie immer am meisten begeisterte, worin wir unsere Stärke sehen und worin unsere Leidenschaft liegt: auf das Mixen aromatischer Drinks und auf alles, was eine klassische Bar ausmacht. Ohne die existentielle Erfahrung und die lange Auszeit durch Covid hätten wir diesen für uns so entscheidenden Schritt der Fokussierung vermutlich nicht gewagt.
Mirabeau Bar
MIXOLOGY: So betrachtet war die Pandemie für euch ja eine glückliche Fügung des Schicksals. Solch ein Wandel hat doch sicherlich auch Auswirkungen auf euer Publikum gehabt?
Jenny: Natürlich, denn das ging mit grundlegenden Veränderungen einher. Für die Außenwahrnehmung wäre es womöglich einfacher gewesen, hätten wir an einem anderen Standort mit dem heutigen Konzept nochmals neu gestartet, statt unseren etablierten Betrieb neu auszurichten. Denn so stehen noch immer Gäste, um eine Kleinigkeit zu essen, vor der Tür, und machen enttäuscht kehrt, weil es jetzt „nur noch Cocktails“ gibt. Andererseits finden gerade deswegen ständig neue Barflys hierher, meist gezielt oder auf Empfehlung, und erfreuen sich an der Qualität der Drinks und der besonderen Bar-Atmosphäre.
MIXOLOGY: In der Tat, mir gefällt die Atmosphäre, die ihr geschaffen habt, sehr. Man merkt, mit wieviel Liebe zum Detail ihr diesen Ort gestaltet habt.
Jenny: Genau, denn wir fühlen uns mit unserem Laden eng verbunden, ja lieben ihn. Er ist ideal für uns und eignet sich einfach perfekt für die Nutzung als Bar. Im Laufe der Jahre haben wir beständig an der Inneneinrichtung gefeilt. Erst im Frühjahr 2024 gesellte sich beispielsweise die speziell für die Rundwand im Eingangsbereich designte Hochbank nach langer Planung hinzu.
MIXOLOGY: So ewig gibt es euch also noch nicht als klassische Bar. Wie gut wurde sie angenommen?
Andreas: Noch gilt die Bar selbst in Freiburg als Geheimtipp. Nach und nach kommen auch häufiger Kolleginnen und Kollegen zu uns. Mit Vergnügen tauschen wir uns aus und geben unsere Erfahrungen und erarbeiteten Rezepte an junge, interessierte Bartenderinnen und Bartender weiter. Ganz allmählich lernen so auch wir die Barszene besser kennen.
Armin: Dass dies eine Bereicherung für alle Beteiligten ist, durfte ich gestern Nacht live miterleben. Was mich auch interessiert, ist der Name: Was hat es mit der Bezeichnung Mirabeau auf sich?
Jenny: Mirabeau steht für ein Dorf mit schöner Aussicht im Luberon, für ein provenzalisches Adelsgeschlecht und für das Modell eines alten Trinkglases. Wir haben uns bewusst für den wohlklingenden französischen Namen, hinter dem sich Historisches verbirgt, entschieden. Die Wahl drückt unsere emotionale Verbundenheit zum Nachbarland aus und ist auch als Verbeugung vor der französischen Gastronomiekultur mit ihrer langen Tradition zu verstehen.
MIXOLOGY: Ihr habt also eine besondere Beziehung zu Frankreich. Andreas, du erwähntest einmal, dass du in Deiner Kindheit oft dort warst …
Andreas: Das ist richtig, bevor ich 1980 in die Schule kam, haben wir jeden Sommerurlaub in Bandol an der Côte d’Azur verbracht. Dort gab es eine Dorfbar, die bereits vormittags gut besucht war. Ich mochte dieses Stimmengewirr, den Anisgeruch in der Luft und vor allem den Wirt: Francis. Nach unserem täglichen Gang über den Markt genehmigten sich meine Eltern gerne ein Glas Champagner. Und meiner Schwester und mir gab Francis bei jedem Besuch Orangensaft aus. Die einfache Bar und ihr liebenswerter Wirt hatten Stil. Natürlich verkläre und romantisiere ich diesen Ort in der Rückschau. Aber durch das Einkehren bei Francis wuchs in mir der Wunsch, irgendwann einmal ebenso zufrieden und selbstverständlich wie dieser Bilderbuchwirt in meinem eigenen Laden zu stehen, sympathische Gäste um mich herum, gute Getränke, inspirierende Gespräche … In dieses Bild habe ich mich sehnsüchtig während meiner aufreibenden Tätigkeit im Gesundheitswesen geflüchtet. Meine Eltern haben mit meiner Schwester und mir auch Flohmärkte und Trödler besucht und wie besessen alte Gläser, Geschirr und Lampen erworben, hauptsächlich aus den Zeiten des französischen Jugendstils und des Art décos. Sehr viel später bin ich mit Jenny an eben diese Orte zurückgekehrt und wir haben Jagd auf ganz ähnliche Schätze gemacht.
Jenny: Als wir das Mirabeau eröffnet haben, konnten wir daher auf einen großen Fundus an Gläsern und ausrangierten Accessoires aus der französischen Gastronomie zurückgreifen. Wir hatten endlich einen Ort, wo wir die geliebten Sammelstücke wieder zum Einsatz bringen konnten. Es ist ein schönes Gefühl, mit den alten Gebrauchsgegenständen arbeiten und leben zu dürfen; sie sind nicht nur ästhetisch und dabei häufig sogar besonders funktional, sondern sie erzählen auch Geschichten, haben Seele.
»Unsere Bar soll keine Paris-Kopie sein. Aber wir versuchen, etwas von diesem ganz speziellen Spirit in unsere kleine Bar zu tragen, und wir nehmen uns ein Beispiel an der Professionalität und Freundlichkeit unserer Kollegen aus Montparnasse«
— Andreas Berg
MIXOLOGY: Mir sind insbesondere eure Gläser aufgefallen. Sie sind ausgesprochen schön und passen hervorragend zu eurem Konzept. Sind sie sehr empfindlich?
Jenny: Manche dieser von Hand gefertigten Gläser haben bereits über 150 Jahre auf dem Buckel und versehen im Mirabeau noch immer allabendlich ihren Dienst. Obwohl sie nicht selten filigran wirken, sind sie stabiler als moderne Gastrogläser und gehen deutlich seltener zu Bruch.
MIXOLOGY: Wonach wählt ihr die Gläser aus? Nehmt ihr einfach, was gerade da ist?
Jenny: (lacht) Nein. Wenn wir uns einen historischen Drink erarbeitet haben, überlegen wir abschließend, welches alte Glas optisch, aber auch in seiner Funktionalität zu ihm passt. Manchmal kommt kein Gefäß aus unserem Bestand in Betracht. Dann ziehen wir in Freiburg los und sind überrascht, dass wir fast immer in einem der lokalen Antikläden fündig werden.
MIXOLOGY: Auch eure Möblierung ist ganz im alten Stil gehalten. Wo habt ihr sie aufgetrieben?
Andreas: Für die Stühle mussten wir uns in Frankreich umsehen. Sie sollten im Art déco-Stil gestaltet und möglichst in der Zeit zwischen 1920 und 1940 gefertigt worden sein. Ganze fünf Jahre hat es gedauert, bis wir eine ausreichende Stückzahl aus den unterschiedlichsten Landesteilen zusammengetragen haben. Anders als die Gläser konnten wir die Stühle nicht sofort einsetzen. Viele waren in erbärmlichem Zustand, alle mussten restauriert werden. Zum Glück kennen wir hervorragende Schreiner und Polsterer, die ihr Handwerk verstehen. Und wenn wir etwas partout nicht gebraucht finden sollten, wie Tische, bauen sie es uns, nach unseren Vorstellungen neu.
MIXOLOGY: Mich beeindrucken die alten Gläser, die Möblierung und auch die Art déco-Gestaltung der Wände. Es ist ein sehr stimmiges Bild, und nimmt mich mit auf eine Zeitreise. Wo habt ihr die Inspiration dazu gefunden?
Andreas: Im Jahr unserer Eröffnung waren Jenny und ich erstmals unterwegs im Quartier Montparnasse, dem Pariser Künstlerviertel der Goldenen Zwanziger. Es klingt unglaublich, aber hier haben wir Gastronomie erlebt, wie sie vor 100 Jahren gewesen sein muss. Diese Art der Gastronomie hat uns bei unseren Besuchen in der französischen Hauptstadt immer wieder aufs Neue beeindruckt. Unsere Bar ist natürlich eine völlig andere Nummer und soll auch keine Paris-Kopie sein. Aber wir versuchen dennoch, etwas von diesem ganz speziellen Spirit in unsere kleine Bar zu tragen, und wir nehmen uns ein Beispiel an der Professionalität und Freundlichkeit unserer Kollegen aus Montparnasse. Es erfüllt uns auch mit Stolz, wenn sich gebürtige Pariser bei uns Zuhause wähnen und ein Stück Heimat im MIRABEAU wiederfinden.
MIXOLOGY: Ich habe im hinteren Teil der Bar ein großes Zirkusplakat entdeckt, und ihr habt erzählt, dass ihr auch in der Zirkuswelt unterwegs ward. Haben die Erfahrungen, die ihr dort gesammelt habt, auch einen Einfluss darauf, wie Ihr das Mirabeau betreibt?
Jenny: Da liegst Du ganz richtig, uns beide verbindet auch die Liebe zum Zirkus und zum Varieté. Wir kennen diese Welt nicht nur aus der Publikumsperspektive, sondern auch aus der Sicht des Artisten. Als sich unsere Wege vor über zwanzig Jahren kreuzten, bin ich mit einer eigenen Handstandnummer aufgetreten. Andreas war zu dieser Zeit viel mit einem Universalartisten alter Schule vor allem in der Schweiz und in Frankreich unterwegs, assistierte ihm bei seinen verschiedenen Darbietungen und stand zum Beispiel am Messerbrett. Diese Erfahrungen haben uns geprägt. Wir sehen durchaus Parallelen zu unserer heutigen Tätigkeit. Im traditionellen Zirkus unserer Kindheit und Jugend wurden die Zuschauer stets mit folgenden Worten begrüßt: „Vergessen Sie den grauen Alltag, tauchen Sie mit uns ein in die bunte Zauberwelt …“
Andreas: Und im Mirabeau verkaufen wir nicht nur Drinks, sondern servieren auch Emotionen. Ausgelöst über intensive Geschmackserlebnisse, verstärkt durch den nach außen blickdicht abgegrenzten, minimal beleuchteten Raum und die mit Bedacht gewählte Hintergrundmusik – bevorzugt lassen wir in Vergessenheit geratene Jazz- und Unterhaltungsorchester aus den 1920er bis 1940er Jahren laufen. Im besten Fall entführen wir unser Publikum, unsere Gäste, an ferne Orte, in andere Zeiten. Wenn wir abends die Tür aufschließen, das Licht dimmen, die Boxen zum Erklingen bringen und sich der Vorhang öffnet, beginnt unsere Vorstellung.
Jenny: Als Artisten spielten wir mit dem Publikum, als Gastgeber gehen wir jeden Abend aufs Neue individuell auf unsere Gäste ein. Dabei darf unsere persönliche Tagesform keine Rolle spielen, das haben wir im Zirkus gelernt: Jeder Gast hat zu jeder Zeit Anrecht auf dieselbe professionelle Inszenierung. Und wenn er schließlich unsere kleine Welt mit einem Lächeln wieder verlässt, fühlen wir uns in der geleisteten Arbeit bestätigt.
Andreas: Übrigens war in der goldenen Zeit der American Bar Mitte des 19. Jahrhunderts die Bar eng mit Malerei, der Musik und dem Showbusiness verbunden. David Wondrich zufolge waren beispielsweise auch der damalige Star-Bartender Jerry Thomas und der Begründer der modernen Unterhaltungsindustrie, P.T. Barnum, im Austausch und beeinflussten sich möglicherweise gegenseitig.
»Häufig benötigen wir für die Erarbeitung eines Klassikers mehrere Wochen oder sogar Monate – und die von uns präferierte Fassung bleibt auch nur eine Momentaufnahme. Denn unabhängig davon, ob sich ein Drink bei unseren Gästen bewährt hat, hinterfragen wir unsere Interpretation immer wieder aufs Neue«
— Andreas Berg
MIXOLOGY: Eure Bar-Professionalisierung hat offenbar fernab der Bar-Community stattgefunden. Das unterscheidet euch von anderen, denn wer eine Bar mit Anspruch eröffnet, hat sein Handwerk in der Regel in klassischen Bars oder modernen Konzeptbars erlernt. Auch wenn ihr als Quereinsteiger autodidaktisch die Grundlagen selbst erarbeiten musstet, interessiert mich, ob ihr trotzdem so etwas wie Lehrer hattet. Wer waren sie?
Andreas: Unsere Lehrer fanden wir in den alten Meistern, wie Harry Johnson, Hugo Ensslin, Jacques Straub, Robert Vermeire oder Frank Meier. Techniken und Methoden entwickeln wir durch fortwährendes Ausprobieren, Hinterfragen und Optimieren. Das betrifft den Umgang mit Eis genauso wie das Pressen von Zitrusfrüchten. Wir befassen uns täglich nicht nur praktisch, sondern auch theoretisch und inhaltlich mit alkoholischen Mischgetränken und dem Thema Bar.
MIXOLOGY: Kannst du das ein wenig ausführen?
Andreas: Klar, gerne. Unser Ausgangspunkt ist immer ein historisches Rezept. Ich vergleiche das gerne mit Noten oder einer Partitur aus der klassischen Musik: Es gibt so viele gute Interpretationen von Bachs Goldberg-Variationen. Einige Pianisten haben sich ihre gesamte Karriere über mit diesem großen Werk beschäftigt und setzen je nach Lebensphase unterschiedliche Akzente. Voraussetzung dafür ist stets eine eingehende Auseinandersetzung mit dem Schöpfer und seiner Zeit. Am Ende geht es darum, das Wesen eines Musikstücks zu erfassen und sich über die Noten individuell auszudrücken. So ähnlich erlebe ich den Umgang mit Rezepten. Häufig benötigen wir für die Erarbeitung eines Klassikers mehrere Wochen oder sogar Monate – und die von uns schließlich präferierte Fassung bleibt auch nur eine Momentaufnahme. Denn unabhängig davon, ob sich ein Drink bei unseren Gästen bewährt hat, hinterfragen wir unsere Interpretation immer wieder aufs Neue. Dabei ist auch eine Expertise zur Cocktailgeschichte wichtig. Wenn uns etwa die Frage nach einer historischen Zutat umtreibt, läuft ja, wie du am besten weißt (lacht), die Telefonleitung zwischen uns beiden heiß; um der ursprünglichen Stilistik auf die Spur zu kommen, diskutieren du und ich manche Quellen ja auch mal über Stunden. Sofern wir zu überzeugenden neuen Erkenntnissen gelangen, suchen wir anschließend nach der praktischen Lösung für die Umsetzung im Glas. Dieses gemeinsame Herangehen bringt uns qualitativ ungemein voran.
MIXOLOGY: Das kann ich nur bestätigen. Auch ich habe dadurch viel gelernt und bin durch euch zu zahlreichen Recherchen inspiriert worden. Mir gefällt auch, dass ihr immer hinterfragt und euch auf der ewigen Suche nach dem idealen Geschmack, nach aromatischen und zugleich authentischen Zutaten befindet.
Jenny: Genau. Freiheit und Unabhängigkeit sind unser höchstes Gut. Wenn ein Produkt ehrlich ist und uns begeistert, müssen wir es haben und damit mixen. Mit steigendem Anspruch wird die Suche allerdings immer schwieriger und die Produzenten bzw. Destillerien, deren Spirituosen uns überzeugen, immer kleiner. Manchmal finden wir für ein Rezept nicht die richtige Zutat. Lässt sich diese selbst herstellen, nehmen wir wohl oder übel den Aufwand in Kauf.
Andreas: Gelegentlich müssen wir uns aber auch von der Idee eines Drinks verabschieden. Die Qualität aller Zutaten muss stimmen. Denn am Ende ist die Kette immer nur so stark wie ihr schwächstes Glied. Erst wenn wir beide zu 100 Prozent mit einem Drink zufrieden sind, können wir uns darauf verlassen, dass er gut ist. Nur dann nehmen wir ihn auf in unser Repertoire. Alles Weitere hat mit individuellen Geschmacksvorlieben zu tun und erfordert eingehende Beratung.
MIXOLOGY: Habt ihr vor diesem Hintergrund ein Vorbild in der Bar-Community, das euch inspiriert?
Andreas: Ja. Besonders gut gefällt es uns im Becketts Kopf in Berlin. Wir haben nicht nur großen Respekt vor Oliver Eberts Arbeitsweise, mögen die äußerst kreativen, aber klassisch gebauten Drinks, sondern schätzen ebenso seine Kompromisslosigkeit. Genau das möchten wir als Gäste einer Bar schmecken.
Jenny: Auch Torsten und Katharina Spuhn aus Erfurt haben einen nachhaltigen Eindruck bei uns hinterlassen. Die beiden stehen seit über zwanzig Jahren Abend für Abend in ihrer Bar – bei ihnen ist alles unglaublich perfektioniert, wirklich jeder Handgriff sitzt und trotzdem sind sie leidenschaftlich und vor allem neugierig geblieben.
MIXOLOGY: Eine letzte Frage darf nicht fehlen: Habt ihr Pläne für die Zukunft?
Andreas: Das Mirabeau in seiner jetzigen Ausrichtung als Bar Américaine ist unsere Berufung, wir können uns keinen schöneren Arbeitsplatz vorstellen.
Jenny: Wenn wir gesund bleiben, möchten wir gerne bis ins Alter genauso weitermachen.
MIXOLOGY: Ich hoffe, dass sich herumspricht, was für einen besonderen Ort ihr geschaffen habt. Für mich leuchtet ihr als noch unentdeckter Stern am Bar-Himmel und ich kann einen Besuch nur empfehlen. Danke für das Gespräch.
Credits
Foto: Mirabeau Bar