Eselsbrücke und Platzhirsch: Die komplette Geschichte des Moscow Mule
Es ist ein wenig still geworden um den Moscow Mule. Nach zwei, drei Jahren eines immensen Hypes hat ihm der Gin & Tonic den Rang als Konsens-Highball abgelaufen. Das ändert nichts an der spannenden Historie dieses Drinks, der nach einem Maultier benannt ist und einen Vorläufer namens Hirsch hat. Tatsächlich reicht die Ahnenlinie aber wesentlich weiter in die Vergangenheit, wie unser Autor zeigt.
Die Geschichte des Moscow Mules beginnt beim Grog, einer Mischung aus Branntwein und Wasser. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde Sodawasser modern, und der Grog wurde auch damit zubereitet. Ende des 19. Jahrhunderts wurde solch eine Mischung aus Spirituose und Soda, später auch mit Ginger Ale, als Highball bezeichnet.
Joe Rickey, ein Lobbyist der US-Demokraten, trank Highballs, auch wenn sie zunächst noch nicht so genannt wurden. Im Jahr 1883 ging er in Washington D.C. in das Shoemaker’s. Er bestellte dort nicht wie sonst einen Bourbon & Soda auf Eis, sondern ließ diesen zur Abwechslung zusätzlich mit etwas Limettensaft zubereiten, denn er verspürte Lust auf so etwas wie einen Sour. Dieses Getränk wurde bekannt und beliebt, und man nannte es schließlich nach ihm einen »Rickey«, obwohl solch eine Mischung schon zuvor getrunken worden war. Dies erinnert an den englischen Parlamentarier Sir Francis Negus, der wie schon die antiken Griechen Wein mit Wasser vermischte. Dennoch wurde solch eine Mischung schließlich allgemein als »Negus« bekannt. Joe Rickey teilt sein Schicksal und beklagte sich: »Noch vor ein paar Jahren war ich Colonel Rickey aus Missouri, der Freund von Senatoren, Richtern und Staatsmännern und so etwas wie eine Autorität in politischen Angelegenheiten und politischen Bewegungen. Aber wird je aus diesen Gründen von mir gesprochen? Ich fürchte nicht. Nein, man kennt mich als den Urheber des ›Rickey‹, und damit muss ich mich zufriedengeben.« Später bereitete man den Rickey auch mit anderen Spirituosen zu, beispielsweise mit Gin – obwohl der Colonel diesen gar nicht mochte.
Mamie Taylor
Einem Rickey vergleichbar ist das Mischgetränk, das Bill Sterritt, ein Bartender aus Rochester im Staat New York, im Jahr 1899 für die Sopranistin Mamay Taylor zubereitete. Seine Abwandlung bestand darin, statt Sodawasser ein Ginger Ale zu verwenden und dieses ganz im Sinne eines Rickeys mit Scotch und Limettensaft zu vermischen. Mamay und einige ihrer Freunde genossen dieses Getränk, und als der Hotelier von Schaulustigen gefragt wurde, wie das Getränk hieße, antwortete er: »Mamie Taylor«. Es wurde im ganzen Land schnell bekannt und beliebt und war sogar auf dem Parteitag der Republikaner im Jahr 1900 das bevorzugte Getränk.
Durch die Zugabe des Zucker enthaltenden Ginger Ales entfernen wir uns vom Grog als dem Urahn von Highball und Rickey und nähern uns dem Toddy an, der aus einer Spirituose, Wasser und Zucker zuzubereiten ist. Auch Mamie Taylor wurde abgeändert, wie schon zuvor der Rickey, indem verschiedene Spirituosen verwendet wurden. Für gewöhnlich wurden solche Abwandlungen ebenfalls als »Taylor« bezeichnet. Gin ist für das Jahr 1911 belegt, und man nannte dieses Getränk »Mamie Taylor’s Sister«.
Vom Grog und Toddy zum Gin Buck
Doch bereits zuvor kam man auf die Idee, Gin zu verwenden. Man nannte dieses Mischgetränk jedoch nicht Taylor, sondern »Gin Buck«, der aus heutiger Sicht somit als der Urahn aller Bucks betrachtet werden muss. Wenn man ganz genau sein möchte, muss man jedoch sogar festhalten: Jeder Buck ist ein Taylor. Weshalb der Buck seinen Namen (»Hirsch«) erhielt, lässt sich indessen heute leider nicht mehr feststellen. Manche halten jedoch den »Horse’s Neck« für den Ursprung des Bucks. Jener ist sicherlich verwandt, gleichwohl ist ein Mamie Taylor naheliegender, genauso, wie ein Rickey als Ursprung für einen Mamie Taylor naheliegender ist.
Der erste Gin Buck entstand im Jahr 1903 in Kansas City und war das Modegetränk des Sommers. Viele amerikanische Zeitungen berichteten darüber, und so wurde der Buck im ganzen Land bekannt und beliebt. Obwohl genau genommen Mamie Taylor dessen Vorgänger ist, berichten die Zeitungen, dass man den Gin Buck als eine Abwandlung des Gin Rickeys betrachte. Der Gin Buck wurde später auch als »London Buck«, »Leap Frog«, oder »Fog Horn« bezeichnet. Jedoch unterscheidet sich der London Buck dadurch, dass Zitronensaft verwendet werden soll, und so ist es auch beim Leap Frog. Für den Fog Horn ist es nicht so eindeutig. Anfänglich soll Limette, später auch Zitrone eingesetzt werden, und statt Ginger Ale auch Ginger Beer – also bereits vor Erfindung des Moscow Mules.
Heute herrscht jedoch Einverständnis darüber, dass ein Buck mit einer Spirituose, Ginger Ale und Limettensaft zuzubereiten ist. Wenn man nun auf die Idee käme, Vodka zu verwenden, so hätte man einen Vodka-Buck. Doch was, wenn man Ginger Beer einsetzte? Dann ist es kein Buck mehr, sondern es wird zum »Mule«. Der erste Mule war der »Moscow Mule«. Zwar gab es auch schon vorher und somit ältere Mischgetränke, die die Bezeichnung »Mule« trugen, beispielsweise der »Mississippi Mule«. Doch trotz seines Namens gehört dieser nicht in die Familie der Mules, da er ein anderes funktionales Grundgerüst aufweist.
Es wird scharf: Der Moscow Mule betritt die Bar
Den Moscow Mule muss man aufgrund seines zeitlichen Auftretens als Abwandlung eines Bucks betrachten. Ein Mule unterscheidet sich von einem Buck durch den Einsatz von Ginger Beer anstelle des Ginger Ales. Im Falle des Moscow Mules wird das Ginger Beer mit Vodka und Limettensaft kombiniert.
Die Entstehung des Moscow Mules ist eng mit der Geschichte von Smirnoff Vodka verbunden. Diese Destillerie wurde am Ende des 19. Jahrhunderts in Moskau gegründet und war die erste, die Vodka mit Holzkohle filterte. Dadurch wurde der Vodka besonders mild und klar und besaß wenig Eigengeschmack. Die Eigentümerfamilie musste aus Russland fliehen und eröffnete zunächst in Istanbul und dann in Paris eine neue Produktionsstätte. Die amerikanischen und kanadischen Rechte wurden an Rudolph Kunett verkauft. Dieser ging bankrott, und John Gilbert Martin, Inhaber der G. F. Heublein Brothers Inc., erwarb diese Rechte sowie schlussendlich auch die französische Firma Smirnoff, um die internationalen Rechte zu erhalten.
Vodka war damals im Westen noch weitgehend unbekannt, und so war es erforderlich, ihn zu bewerben. John Gilbert Martin hat ausführlich die Entstehungsgeschichte des Moscow Mule beschrieben. Lassen wir ihn deshalb zu Wort kommen:
»Wenn Smirnoff eine Chance haben sollte, mit Whiskey in Amerika zu konkurrieren, dann nur als Mixer, und deshalb ging ich mit Rudolph Kunett nach Kalifornien und lernte durch ihn einen Mann namens Jack Morgan kennen. Jack Morgan besaß das Cock’n Bull Restaurant in Los Angeles. Deshalb ließ er Cock’n Bull Ginger Beer für sich in Los Angeles herstellen und konnte es natürlich nicht verkaufen, weil die Amerikaner kein Ginger Beer mochten, sie mochten Ginger Ale. Morgan hatte eine Freundin. Eine große, schöne, dralle Frau namens Oseline Schmidt, die von ihrem Vater eine Kupferfabrik geerbt hatte, die aber leider keinen Absatz für ihre Produkte fand. Und so trafen sich Kunett, Morgan, Oseline Schmidt und ich eines Abends an der Bar des Cock’n Bull Restaurants und versuchten, uns einen Drink für Smirnoff-Vodka mit Ginger Beer auszudenken. Wir kamen schließlich auf den Namen Moscow Mule. Wie er entstanden ist, weiß ich nicht, aber ich kann mir vorstellen, dass es mit dem Kick zu tun hat. Der Moscow Mule entwickelte sich schließlich zu einem Zwei-Unzen-Getränk aus Smirnoff-Vodka, der in einen Kupferbecher von Oseline gefüllt und dann mit Ingwerbier aus Morgans Cock’n Bull-Ingwerbierflasche und einem Spritzer Limette gemischt wurde. Wir entwickelten den Moscow Mule im Jahr 1940 und ließen ihn dann fallen, weil der Zweite Weltkrieg kam und kein Smirnoff mehr hergestellt wurde. 1946 oder so haben wir wieder angefangen und das Ingwerbier von Cock’n Bull konzessioniert und den Moscow Mule beworben. Die große Schwierigkeit war natürlich, einen Barkeeper dazu zu bringen, ihn überhaupt zu probieren. Er würde sagen: ›Was, das Zeug trinken? Russisches Dynamit und tot umfallen? Nein, Sir.‹ Also entwickelte ich einen Plan, um ihn dazu zu bringen, es zu versuchen. Polaroid war gerade mit einer Kamera auf den Markt gekommen, die sofort ein Bild machte. Ich kaufte eine und ging in eine Bar mit einem Moscow-Mule-Becher, einer Flasche Smirnoff, einer Flasche Cock’n Bull Ginger Beer und bot dem Barkeeper an, ihm einen Drink umsonst zu machen, wenn er es nur versuchen würde. Und ich sagte: ›Wissen Sie, wenn Sie ihn probieren, gebe ich Ihnen ein Bild von Ihnen, wie Sie ihn trinken, das Sie gleich mit nach Hause zu Ihrer Frau nehmen können.‹ Er sagte: ›Wie wollen Sie das machen?‹ Und ich sagte: ›Nun, das ist meine Sache. Probieren Sie einfach diesen Drink und ich zeige es Ihnen.‹ Also nippte er widerwillig an einem kleinen Moscow Mule und sagte, er schmecke ziemlich gut. Ich machte ein Polaroid-Foto von ihm. Genau genommen machte ich sogar zwei. Eines, das er seiner Frau mit nach Hause nehmen konnte, und eines, das ich in der Bar auf der anderen Straßenseite verwenden würde. Das wirkte Wunder, und natürlich wurde die Presse darauf aufmerksam, was zu jener Zeit für enorme Schlagzeilen sorgte. Zweifelsohne war es der entscheidende Einfluss, der den Moscow Mule in ganz Amerika berühmt machte.«
Es gibt jedoch noch andere Entstehungsgeschichten, und auch andere Personen wollen daran beteiligt gewesen sein. In Kürze dargestellt lauten sie wie folgt: Der Moscow Mule soll 1941 in Manhattan, im Hotel Chatham entstanden sein, als John A. Morgan, John Martin und Rudolph Kunnet dort weilten. Die Kupferbecher sollen von Sophie Berezinski beigesteuert worden sein, als sie Martin und Morgan im Cock‘n Bull traf. Der Bartender des Cock‘n Bull, Wes Price, will den Moscow Mule erfunden haben, als er beim Eintritt der USA in den Zweiten Weltkriegs, also um 1941, den Keller ausmistete und unverkauftes Ginger Beer und Vodka loswerden musste. Welcher der Beteiligten Recht hat, lässt sich heute nicht mehr feststellen. Jedenfalls erschienen bereits 1942 die ersten Zeitungsanzeigen, und der Moscow Mule wurde als ein neues Getränk beschrieben, das in Hollywood der Renner sei.
Das Rätsel des Maultiers
Ungeklärt ist bisher die Frage, wieso der Moscow Mule als »Maultier aus Moskau« genannt wurde. Hier hilft jedoch ein Blick in alte Schriften. Begeben wir uns also auf eine Spurensuche. John G. Martin meinte, es könnte etwas mit dem »Kick« zu tun haben. Smirnoff wurde beworben mit dem Slogan Smirnoff Weißer Whiskey. Kein Geschmack. Kein Geruch. Diese Geschmacksneutralität war der Schlüssel zu seinem Erfolg, denn Whisk(e)y war zwar die am stärksten verbreitete Spirituose in den USA, doch letztlich mochten viele Trinker seinen Geschmack eigentlich nicht.
Wenn man also im Mischgetränk die Spirituose nicht herausschmeckt und auch nicht riecht, merkt man erst bei zunehmendem Alkoholeinfluss, am »Kick«, dass man Alkohol getrunken hat. So gesehen hat John G. Martin recht. Aber die Bezeichnung ist tiefgründiger. Als »White Mule«, weißes Maultier, bezeichnete man einen Roh-Whiskey, der frisch aus der Destillerie kommt. Wenn Smirnoff nun als »White Whiskey« beworben wurde, liegt es nahe, dass auf diesem Weg das Maultier seinen Weg zum Moscow Mule fand. Auch ein Vodka kommt direkt aus der Brennblase. Der White Mule wurde während Prohibitionszeiten ausgiebigst genossen, auch in Kombination mit Ginger Ale, und es fanden damit rauschende Feste statt, an denen auch unbescholtene Bürger und ehemalige Befürworter der Prohibition teilnahmen.
White Mule statt White Dog
Doch wieso nannte man diesen Roh-Whiskey »White Mule«? Diese Bezeichnung soll aus dem Nordwesten von Arkansas stammen, doch wenn man genauer prüft, stammte ursprünglich nur der Whiskey von dort, genauer gesagt aus den Ozark-Bergen. Der Brand wurde auf dem Gebiet des Indianerterritoriums, das von den Cherokee bewohnt wurde, getrunken. So bezeugt es ein Bericht des Jahres 1891: „»Das mörderischste Element im Territorium ist der Arkansas-Moonshine-Whisky, der in den Ozark Mountains gebraut wird und ›white mule‹ genannt wird, weil er von weißen Männern hergestellt wird und mit den zerstörerischen Kräften des westlichen Maultiers ausgestattet ist.« Ein weiterer Bericht wird genauer und schreibt, dass diese Bezeichnung von den dort ansässigen Indianern, also den Cherokee, die sich selber als Tsalagi bezeichnen, stamme. Über das Westliche Maultier wird berichtet: »Die frühen Maultiere der östlichen Staaten waren klein, … waren aber von großer Kraft in der Arbeit, Ausdauer und Langlebigkeit; aber das westliche Maultier hat es in Größe, Gewicht und Anpassung an die schwerere Arbeit, die von ihm verlangt wird, weit übertroffen.«
Hier schließt sich der Kreis, und wir kommen zurück zu John G. Martins Vermutung. Die Bezeichnung des Getränks als Moscow Mule ist in der Tat sehr schlüssig. Vodka ist so etwas wie ein Whiskey aus Moskau, direkt aus der Brennblase kommend, einem White Mule verwandt, und durch seinen fehlenden Eigengeschmack auch der potentere Alkohol, jedenfalls was seine versteckte Wirkung angeht – und damit einem Westlichen Maultier vergleichbar.
Bitte unbedingt einmal probieren: Fernet Mule
Ich persönlich bin kein großer Freund des Moscow Mules, denn der Vodka trägt nichts zur Geschmacksbildung bei, nur zur Wirkung. Ich bevorzuge daher Mules mit anderen Basisspirituosen, und einen möchte ich besonders empfehlen: Den »Fernet Buck«, der sich zwar Buck nennt, aber trotzdem ein Mule ist. Er stammt von Max Toste aus dem (aufgrund der Corona-Pandemie geschlossenen) Deep Ellum nahe Boston und entstand im Jahr 2010. Der Grund dafür, dass er als Buck und nicht als Mule bezeichnet wird, ist, dass Toste der Ansicht war, dies höre sich besser an.
Er ist jedoch ein waschechter Mule, und das kräftige Ingwerbier erhält darin einen gleichwertigen Gegenspieler, der es gut mit den satten Ingwer-Aromen aufnehmen kann: Fernet. Ich empfehle einen kräftigen Fernet zu verwenden, wie beispielsweise den Fernet Angelico. Den Zweiflern sei gesagt: So schmeckt es sogar meinem Mann, der sonst dem Fernet wenig zugetan ist, daher also zum Schluss noch seine Rezeptur: 6 cl Fernet Angelico, 3 cl Limettensaft, 9 cl Fever Tree Ginger Beer, im Glas mit Eis serviert. Denn ein Fernet Buck geht immer.
Credits
Foto: Aufmacher: Editienne; Fotos: Jule Frommelt
Peter Schütte
Gewagte These. Dennoch wie immer großartig recherchiert.
Danke dafür