Nachtleben in Beirut: Es war einmal und kommt nie wieder
Beirut war einmal die Stadt mit dem vielleicht irrsten Nachtleben der Welt. Nun ist damit Schluss – da eine gewaltige Explosion praktisch die gesamte Innenstadt zerstört hat. Unser Autor mit einem Nachruf auf eine Stadt, die sich und ihre Nachtkultur erst in vielen Jahren wiederfinden wird, womöglich auch nie wiederfindet.
Anmerkung der Redaktion: Der folgende Artikel erschien ursprünglich am 1. Oktober 2020 in der MIXOLOGY-Ausgabe 5/20. Obwohl er auf Fakten Bezug nimmt, die mittlerweile von neuen Erkenntnissen rund um die Corona-Pandemie abgelöst wurden, haben wir uns dazu entschieden, ihn unverändert zu lassen.
Das hier ist schon das dritte Heft, das in der größten Krise der Branche veröffentlicht wird. Mitten in einer zweiten Welle, die der ersten nur gering nachsteht, wütet ein Virus, das viele nicht wahrhaben wollen, das aber sein Wahrsein täglich mit Infektions- und Todeszahlen beweist. Und jetzt trifft es auch jüngere Menschen.
Es gibt auch Positives. Das Virus verändert sich und wird – so auch die Meinung führender deutscher Virologen – ein klein wenig schwächer. Ganz sicher kann man sich aber nicht sein. Und: Ein Impfstoff und auch Medikamente stehen vor den Zulassungen, die aus ökonomischen Gründen eher früher als später erfolgen werden. Wie viele Clubs oder Bars den Zeitraum bis dahin überleben, ist fraglich. Aber bestenfalls gibt es im Frühjahr 2021, also in sechs Monaten, eine neue Gründerwelle. Und sicher auch: Das Nachtleben Deutschlands wird wiederauferstehen.
In Beirut wird das Nachtleben viel länger tot bleiben
Diese Prognosen gelten nicht für den Libanon, nicht für Beirut. Die Hauptstadt des Libanon und Nachtleben-Hauptstadt des Nahen Ostens (mit Ausnahme Tel-Avivs) hat mit den Folgen einer Explosion zu kämpfen, die den Hafen und nahezu die gesamte Waterfront Beiruts in einer Sekunde zerstörte. Dort, am Wasser, in der Mitte, waren nahezu alle guten Clubs und Bars beheimatet, die Beiruts Nachtleben ausmachten: die Skybar, das Volume, das Gärten, das Electric Bing Sutt, das Exist, das Heart, das Whisky-Mist, das Discotek, das Decks on the Beach, das Projekt, das AHM, das Iris, das Fabrk, die Vivid-Bar, das B018, das Yukunkun, das Sydney’s, die Three-Sixty-Bar, das 10NE und viele andere mehr. Die meisten haben jetzt zu, sind zerstört, manche, nicht ganz zerstörte, halten einen Notbetrieb aufrecht. Aber alles Unkaputtbare ist kaputt. Und eben nicht nur Materielles. Kaputt, eventuell für immer, denn jetzt werden die Karten neu gemischt. Im Libanon.
She dreams of nineteen sixty-nine
Before the soldiers came
The life was cheap on bread and wine
And sharing meant no shame
»The Life was cheap of Bread and Wine« sangen Human League 1986 in ihrem Dancefloor-Politpop-Song The Lebanon (Nachsatz: »And sharing mant no shame«) und beschrieben damit, was den Libanon und vor allem Beirut ausmachte: Ein kleines Land zu sein, in dem man für wenig Geld Essen, Trinken, Meer, Sonne und Freiheit bekam. Bis die Interessens- und Religionsgruppen Mitte der Siebzigerjahre aufeinander loszugehen begannen – was auch ein UNO-Einsatz nicht stoppen konnte. Beirut war die erste Stadt der Welt, in der Snipers, Scharfschützen, – wie später nur in Sarajewo – Zivilisten abknallten. Bis zum Einmarsch der Syrer, 1990, waren der Libanon und vor allem Beirut ein Tor zur Hölle.
Die nächtliche Zwischenwelt inmitten des Krisenherds
Die Syrer bleiben bis 2005. Bis auf ein paar von Islamisten provozierte Scharmützel mit Israel konnte die Ruhe in der Region halbwegs aufrechterhalten werden. Das ist – sehr, sehr verkürzt – die Geschichte eines von den Siegermächten beider Weltkriege konstruierten, aber immens lebenswerten Landes, das wohl keine Zukunft hat. So wie es war nicht. Und auch so wie es sein könnte nicht.
Wir wollen hier nicht über die komplizierte Politik des Libanon reden, über dieses mehrfach explodierte Versuchslabor, über das komplizierte Austarieren der lokalen Mächte, der Clans und Sippen, die wieder ihre Religionen (maronitische Christen, Drusen, sunnitische Baath-Muslime, schiitische Hizbullah) vorschieben – denn dieses Chaos durchblicken selbst Nahost-Experten kaum. Wir wollen hier über ein ausuferndes Nachtleben sprechen, das in diesem Irrsinn Freiheit nicht nur vorgaukelte, sondern Freiheit herstellte, wo sie Luxus war.
She is awakened by the screams
Of rockets flying from nearby
And scared she clings onto her dreams
To beat the fear that she might die
Viele der Clubs bespielten Dachterrassen, einige auch die ebene Erde, quasi in der Waterfront eingegraben, viele waren auch nur kleine Klitschen. Aber es hatte eine Vielfalt, die weder Tel-Aviv, London noch Berlin toppen konnten. Natürlich standen hinter all diesen Etablissements handfeste wirtschaftliche Interessen, es wurde an einer Feier-Community verdient, die aus dem gesamten Nahen-Osten einflog, die hier viel Geld ausgab, auch für Drogen, wofür man sie in ihren Ländern aufgehängt oder enthauptet hätte. Die Dealer, übrigens, waren meist Gefolgsleute der iranisch-unterstützten Hizbullah – mehr muss man über das Bigotte Beiruts nicht sagen.
Die lässige Tür der Beiruter Clubs
Doch während es in Tel-Aviv, aus bekannten Gründen, eine extrem strenge Tür gibt, waren die Beiruter Clubs in Angelegenheiten der Kontrolle einigermaßen lässig. Es war so wie in Sizilien zur Hochphase der Cosa-Nostra, wo man vor allem in den schönen Bars Palermos und Catanias sicher war, weil sie der Mafia gehörten. Wer das Nachtleben Beiruts störte, störte auch eine der letzten sicheren Geldquellen der Stadt.
Und darüber, über Mucke, Alkohol, Sex und Drogen, konnten auch radikalislamische Brigaden hinwegsehen, finanzierte das alles doch ihr Leben. Auch eine Tatsache: Viele der streng religiös lebenden, teilweise gewaltbereiten, jungen Muslime nahmen sich in diesen Bars eine Auszeit, die sogar von ihren Scheichs und Kommandanten gestattet wurde – handelte es sich doch um die im Koran gestattete Scheinexistenz, die zum Endsieg des Islam beitragen soll. So wusste man in den Clubs, dass hier auch mitunter die größten Feinde dieser Lebensart abtanzten. Man machte seinen Frieden mit, in einem Frieden, der dann doch mehr als 15 Jahre anhielt, einen Frieden, den ausgerechnet Assads Truppen garantierten, die auch nach ihrem Abzug Präsenz hatten – bis der arabische Frühling kam.
Before he leaves the camp he stops
He scans the world outside
And where there used to be some shops
Is where the snipers sometimes hide
Dass ausgerechnet diese riesige Bewegung die fragile interkonfessionelle Ruhe des Libanon nicht zu zerstören vermochte, lag am Ausgeblutetsein von Land und Stadt, wo man keine Energie fand, wieder in einen neuen Bürgerkrieg zu ziehen – obwohl das Brodeln nie ein Ende fand, auch jetzt nicht findet. Frieden, echten Frieden zwischen allen, gab es nur in den Clubs, die selbstredend meist von jener christlich-drusischen Schicht aufgesucht wurde, die das nötige Kleingeld hatte. Muslime blieben also nicht nur aus ethischen Gründen die Minderheit, es sein denn, es handelte sich um Baath-Muslime, die den im Libanon eher aufgeschlossenen Sunniten angehören. Auch hier gab es Töchter und Söhne mit dicken Brieftaschen.
Das vergangene Nachtleben in Beirut kann unter heutigen Bedingungen nicht nochmal entstehen
Das ist alles vorbei. Denn die Schäden sind enorm und erwischen den Libanon und Beirut in einer nie dagewesenen Wirtschaftskrise. Das Land schlitterte schon die Monate zuvor auf einen gefährlichen Abgrund zu – mehr denn je wurde gefeiert. Man ahnte, dass ein Ende bevorstand, doch man ahnte nicht, dass ausgerechnet diese irre Explosion zum Ende führen würde.
And who will have won
When the soldiers have gone?
From the Lebanon, the Lebanon
Warum soll das jetzt alles vorbei sein? Warum kein Wiederaufbau? Warum nicht wieder die alten, bigotten Verhältnisse und das Auferstehen des wahrscheinlich geilsten Nachtlebens der Welt? Weil diese Zeit vorbei ist, weil im Libanon nur die Moralisten an die Macht kommen, und es im Libanon Moralisten in allen Konfessionen gibt – auch bei den Christen und Drusen. Denn es war mitnichten so, dass nur die Muslime das Treiben mit Argwohn beobachteten, zumal es ein Treiben war, das viel mehr Wumms hatte als das Treiben vor dem Bürgerkrieg, das Treiben in den Sechziger- und Siebzigerjahren, das sich auf Pop und Rock und auf ein paar Joints beschränkte. Damals betrank sich die Jugend vor allem mit den hervorragenden Weinen der libanesischen Winzer – blaue Pillen und weißen Schnee gab es nicht.
Der Libanon und Beirut, die immer noch nach Konfessionen geteilte Stadt, brauchen eine neue Lösung, ein Ende der alten, untauglichen Regierungsform, die alle Konfessionen zwanghaft einbettete und so auch der Korruption Tür und Tor öffnete. Doch wie will das im Pulverfass Naher Osten gehen, so lange Familien und Sippen das politische Geschehen bestimmen? Die Ausweglosigkeit, das Trümmerfeld im Hafen, das alles nimmt den Libanesen nun den letzten Mut. Mag sein, dass viele Clubs auch wieder aufsperren. Aber der Tanz auf dem Vulkan, der das Beiruter Nachtleben fast 20 Jahre lang ausmachten, ist vorbei.
Es war einmal.
Credits
Foto: Electric Bing Sutt
Zaungast
Ein sehr lesenswerter, differenzierter Artikel.