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Das soll zusammenpassen? Der Naked & Famous ist der perfekte Stilbruch

Der Naked & Famous ist erst wenig mehr als zehn Jahre alt und hat das Zeug zum Neo-Klassiker. Warum diese sonderbare Mischung aus zu je gleichen Teilen Mezcal, Chartreuse jaune, Aperol und Limette auf so wundersame Weise funktioniert, erklärt unser Autor Martin Stein – ein erklärter Fan des Drinks.

(Dieser Beitrag erschien ursprünglich 2020 während der Zeit der Corona-Lockdowns. Manche Passagen im Text beziehen sich darauf, Anm. d. Red.)

Naked & Famous

Zutaten

2,5 cl Mezcal
2,5 cl Aperol
2,5 cl Chartreuse gelb
2,5 cl frischer Limettensaft

Von den vielen Wortmeldungen aus der Branche, deren Seelenzustand zunehmend durch ein Bermudadreieck aus Wut, Verzweiflung und Zynismus mäandert, hat mich der Appell eines Bartenders zum Lächeln gebracht, der seine Gäste aufforderte, in diesen Zeiten doch fleißig zuhause weiterzutrinken; wenn jetzt nämlich alle abstinent blieben und dann bei Wiedereröffnung der Bars nach dem zweiten Drink geschlossen hackedicht seien – diesen potenzierten Junggesellenabschied wolle er sich bitteschön nicht antun.

Nun mag diese Angst unter den vielen Ängsten momentan keinen vorderen Platz einnehmen, aber als Dystopie zeigt sie uns zumindest eine Zukunft, in der wir uns wieder über Gäste aufregen dürfen, die sich daneben benehmen. Anstatt einfach keine Gäste zu haben.

Naked & Famous: Das soll zusammenpassen?

Bleibt natürlich trotzdem die Frage, was man selbst zuhause trinken soll. Erstens: auf jeden Fall nicht nichts. Abstinenz ist ein Luxus aus dem Überfluss, den man sich in Zeiten der Not nicht erlauben kann. Zweitens: nichts Schwächliches. Argumentation entsprechend zu Punkt Eins.

Meine Empfehlung: Der Naked & Famous Cocktail, ein Drink mit dem Zeug zum Neo-Klassiker, vor nicht einmal zehn Jahren von Joaquín Simó in New York erfunden. Der Heimvorteil des Cocktails: Man muss mal ausnahmsweise nicht lange vorher irgendwas infusionieren, mazerieren oder colddrippen, wie es für alkoholische Mischgetränke dieses Jahrzehnts ja beinahe schon obligatorisch geworden ist – auch wenn man jetzt auch privat vielleicht die Zeit für derlei Sperenzchen hätte, so ist es doch auch ganz praktisch, wenn man sie nicht benötigt.

Was im Naked & Famous an Zutaten verlangt ist, dürfte in etlichen, halbwegs gut sortierten Schnapskabinetten schon vorhanden sein. Er besteht zu gleichen Teilen aus Mezcal, Aperol, gelber Chartreuse und frisch gepresstem Limettensaft. Limetten hat man natürlich immer da, Chartreuse steht doch bestimmt nicht nur bei mir in jedem Zimmer ein Fläschchen (wobei natürlich eher die grüne, aber in der Not, was soll schon passieren …), und vermutlich ist bei manchen Kollegen eher der Mezcal als der Aperol zu finden, aber im Grunde ist doch das alles in Griffweite für unsereinen, der wir unser Zuhause als eine Art Backbarerweiterung begreifen.

Das Rezept ist schon eine Ansage, und man reibt sich vielleicht beim ersten Mal ein wenig verblüfft die Augen. Das alles soll zusammenpassen? Hört sich an wie der Bastard eines Negroni-Twists mit einem Last Word, gezeugt am Tag der Toten auf einem Friedhof in Mexiko. Der Naked & Famous hat schon etwas Ungehobeltes, Grobschlächtiges, aber dennoch – da ist er dem Last Word nicht unähnlich –, entsteht im Glas eine so unerwartete wie bizarre Harmonie, eine Harmonie wie bei einem Käfigmatch zwischen einem Lucha-Libre-Wrestler, einem französischen Kampfmönch, einem italienischen Assassino und einem brasilianischen Capoeirista, die sich in vollendeter Ästhetik gegenseitig so lange aufs Maul hauen, bis am Ende ein respektvoller Waffenstillstand herausgekommen ist, bei dem sich alle blutig lächelnd in den Armen liegen.

Der Naked & Famous ist der perfekte Stilbruch

Im Grunde ist die Zusammenstellung aus Spirituose, Bitter, Kräuter plus Zucker und Säure zwar so besonders auch wieder nicht, allerdings ist es schon überraschend, wie gut das hier funzt. Wie der Raum einer Galerie, an dessen vier Wänden sich Gemälde aus vier verschiedenen Epochen gegenüber hängen, von Spätbarock bis Kubismus – und sich tatsächlich komplementieren. Der perfekte Stilbruch. Ein Getränk für Kunstliebhaber. Anstatt des Aperol eignet sich beispielsweise auch Quinquina ganz hervorragend, allerdings auf Kosten des tiefen und ungemein ansprechenden, lachsorangenen Farbtons. Für den Heimtrinker zu vernachlässigen, aber für die künftige Rückkehr in die Zivilisation zu beachten.

Die große Variable dabei ist freilich der Mezcal; die geschmackliche Bandbreite des ruppigen Verwandten des Tequila ist gewaltig. Insofern kann man sich den Charakter seines Naked & Famous ganz nach Bedarf auf den Leib schneidern, von fast schon elegant-dezent bis Hells-Angels-Vereinsheim. Joaquín Simó selbst empfiehlt eine eher kräftige Variante, da ja eigentlich der Spirituosenanteil im Drink recht gering sei.

Eine diskutable Meinung. Das Originalrezept sieht je eine Dreiviertel Unze pro Zutat vor, die wir großzügig auf 2,5 cl aufrunden, aber grade beim Mezcal hat man ja gerne Trinkstärken gut jenseits der 37,5 Volumenprozent, und auch die schwächere, gelbe Chartreuse wurde mittlerweile auf 43% angehoben – da machen auch Aperol und Limette kein Autofahrergetränk mehr draus.

Der Naked & Famous sorgt für Allmachtsphantasien

I met a DJ who lived in seclusion / Reality and sobriety were only delusions“. Das mit der Nüchternheit hat mancher wohl schon vorher geahnt, und die Realität franst zunehmend an den Rändern aus. Zeit also, nicht nur in der Badewanne Kapitän zu sein, sondern sich in der Isolation seines Quarantäne-Königreichs zum Herrscher zu krönen. Also, flugs aus den Kleidern gehüpft, eine Glööckler-Unterhose über den Kopf gezogen und ans Fenster getreten, um sich vom nachbarschaftlichen Plebs zu huldigen zu lassen. „Everybody wants to be – naked and famous“. Natürlich machen das eher die Alleinstehenden unter uns; verantwortungsvolle Partner unterdrücken in der Regel die Allmachtsphantasien ihrer Gesponse erfolgreich.

Wir entdecken aber auch hier den vielleicht letzten großen Wert dieses Drinks: Mit dem Fall der Kontaktbeschränkungen werden ausgehungerte Isolationisten völlig wahllos übereinander herfallen, und auch geschulte Gaumen werden in die Gefahr geraten, Sex on the Beach als valides Getränke- wie Erotikkonzept zu akzeptieren. Und so, da machen wir uns mal nichts vor, werden die Grundlagen für die desaströsen PISA-Studien in 15 Jahren gelegt.

Zusammen nackt sein

Ein Naked & Famous jedoch ist als Getränk ein derartiger Ziegel, dass sich daraus schon was Tragfähiges bauen lassen könnte. Auch wenn der Ruhm am Ende der Krise vielleicht die warholsche Viertelstunde nicht überdauert hat, kann man danach zumindest noch eine Weile zusammen nackt sein.

Dieser Beitrag erschien erstmals 2020 auf MIXOLOGY Online und wird seither regelmäßig aktualisiert. 

Credits

Foto: Sarah Swantje Fischer

Comments (4)

  • Gerhard Mohr

    Lieber Martin Stein,

    dieser Artikel ist so geil geschrieben, ich kann es kaum erwarten heute Abend nach Hause zu kommen um diesen Drink zu mixen. Ob ich danach auch den Akt vor dem geöffneten Fenster oder gar auf dem Balkon vollziehen werde, entscheide ich dann spontan …

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    • Martin Stein

      Lieber Gerhard Mohr, das freut mich enorm! Viel Spaß bei Drink und dessen Folgen; und falls Sie partout das Bedürfnis haben sollten, einen daraus entstandenen Sprössling nach mir benennen zu wollen – ach, was soll’s. Von mir aus gerne.
      Liebe Grüße!
      Martin Stein

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  • Nikolas H.

    meine Empfehlung: Vida Mezcal, der schafft es sich schön kräftig durchzuboxen.

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  • ulkamann

    Naked & Famous ist mega. Noch megarer kommt bei mir statt Limette frischer Osaft und guter Zimt drübergestäubt, Eiswürfel. Das ganze zum Akt vor dem offenen Fenster…

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