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Bars ohne Bartender: Ist der Brexit das Ende der Bar-Hochburg London?

Es gibt kaum noch Briten, die in den hochdekorierten Bars von London arbeiten. Der Brexit könnte zur Folge haben, dass viele Bars ohne Bartender dastehen. Martin Stein mit einer Betrachtung der Folgen, die der Brexit für die britische Barszene im Gesamten und ihre Bartender im Einzelnen haben könnte.

Irgendwann fährt man nach London, natürlich hauptsächlich, um zu trinken. Das liegt zum einen daran, dass die bezahlbaren Hotelzimmer bestenfalls dazu taugen, um den Regen abzuhalten, zum anderen aber auch daran, dass es da ziemlich viel Gutes zu trinken gibt.

Weshalb also nicht die Vorkriegsmatratzeninsomnie mit hochwertigen Cocktails bekämpfen. Aufgabe: Sie dürfen nur konsumieren, was Ihnen von Nicht-Briten bereitet oder serviert wird. Schwierig? Keineswegs. Wahrscheinlich kann man sich tagelang kreuz und quer durch London trinken, ohne ein einziges Mal einem Inländer hinter dem Tresen zu begegnen. Es gibt sie natürlich, aber sie sind definitiv in der Minderheit. Besonders die international renommierte Gastronomie glänzt ganz überwiegend mit international renommierten Angestellten. Und die Briten? Fremd in den eigenen Bars.

Niemand weiß, was der Brexit bedeuten wird

Viele der Nichtbriten stammen aus der europäischen Nachbarschaft, und keiner von ihnen weiß, was der Brexit für sie bedeuten wird – was sie nun tatsächlich mit den Einheimischen gemein haben. Es gibt keine verlässlichen Zahlen darüber, wie viele EU-Bürger in den Bars der Hauptstadt arbeiten. Weil man auch nicht wirklich weiß, wie viele EU-Bürger denn allgemein in London arbeiten. Man weiß das auch nicht von Manchester oder Glasgow. Was daran liegt, dass man eigentlich nicht einmal weiß, wieviele EU-Bürger sich überhaupt in England aufhalten, in Wales oder Schottland, in Großbritannien eben. Geschätzt werden 3,5 Millionen. Oder 3,7. Können aber auch drei sein. Oder vier.

Dafür, dass der Brexit einen ganz erheblichen Einschnitt in die Landesgeschichte bedeuten wird, weiß man erschreckend wenig. Klar ist, dass die Barszene in London einen weltweit einzigartigen Ruf genießt, und auch wenn die Sorge der Briten verständlicherweise zuvorderst den abwandernden Krankenschwestern gilt, so ist die Bedrohung, derer sich ein nicht unwesentlicher Geschäftszweig durch den Brexit gegenüber sieht, eine ganz massive.

Viele Aushängeschilder des Gewerbes sind EU-Migranten: Marian Beke im Gibson. Remy Savage im Artesian. Agostino Perrone im Connaught. Maxim Schulte in der American Bar des Savoy. Und wie der Herr, so’s Gescherr: Perrone arbeitet tatsächlich mit einem rein italienischen Mitarbeiterstab, und auch in den anderen Bars gehört zum perfekten Englisch gerne ein kleiner, sorgfältig gepflegter Akzent.

Brexit: Fällt die Bar-Hochburg London?

Das EU-Personal in den Bars wirkt zu einem sehr großen Teil wie aus den feuchten Träumen deutscher Personaler blaugepaust: jung, ehrgeizig, flexibel, frustrationstolerant, fleißig, wissbegierig, kompetent, belastbar. Und: ortsungebunden. Was sich nun ganz fix zum Bumerang entwickeln könnte: Wenn die Bar-Hochburg London fällt, dann werden die unzähligen, hochqualifizierten Bartender einfach ihre Siebensachen packen und weiterziehen. Mit dem „London“ im Lebenslauf und den verbundenen Qualifikationen können die, die das Land nicht mehr haben will, gemütlich die weltweiten Stellenangebote sichten; man wird sich um sie reißen.

Das Bleiberecht nach den bisherigen Plänen wird denjenigen gewährt, die zum Stichtag fünf Jahre im Land sind; ihnen entspricht der sogenannte „settled status“. Den muss man dann allerdings erst mal beweisen, und in einem Land ohne allgemeine Melderegister wird auch das, wie so vieles andere, zu einer Herausforderung werden. Überhaupt, fünf Jahre: In den fünf Jahren, die für den „settled status“ nötig sind, haben die meisten der betroffenen Bartender mehr Biographie angehäuft als der zuständige Sachbearbeiter im ganzen Leben.

Nun beinhaltet ja jede Migrationsdebatte der Welt einen gewissen Utilitarismus-Backstop: Wen wir brauchen können, der darf ruhig bleiben, die anderen müssen halt gehen. Fein gedacht, nur üblicherweise schwer umzusetzen. Ganz ordentlich wird bei den Briten das ein oder andere Qualifikationsschema ins Spiel gebracht, demgemäß objektiv ausgesiebt werden kann. MRPQ gibt’s, aber auch den NQR in Relation zum EQR, und das alles unter Berücksichtigung der Direktive 2005/36/EC; wenn’s aber nach RQF geht, würde das drei Viertel der bisherigen EU-Workforce ausschließen, und bestimmt braucht man zwischendurch mal einen Passierschein A38, aber hinfällig wird das alles, falls Europa bei einem ungeregelten Brexit tatsächlich 6.500 britische Berufe nicht mehr anerkennt, wonach die Briten dann ja Retour-Aberkennen müssten, weil das eben so läuft. Bis dahin gilt: die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ab auf die Fähre.

Bartender im Brexit ohne große Lobby

Nur – Bartender? Man muss nicht übermäßig schwarz sehen, um zu befürchten, dass dieser Berufszweig durchs Raster eines Bewertungssystems fallen könnte, das vordringlich dazu gedacht ist, Krankenschwestern und Aktienhändler im Land zu halten.

Kaum ein Beruf verlangt so viel und ist dabei so ungeregelt wie der des Bartenders. Es gibt reihenweise brillante Tresenkünstler mit einzigartigen Fähigkeiten, die aber mangels klassischer Ausbildung vor dem offiziellen Auge genauso ungelernt erscheinen wie Dittsche in Jogginghose und Bademantel. Und die wenigen Zertifizierungen, die es gibt, werden in der Branche sogar sehr misstrauisch beäugt, weil man ja weiß, dass das, was man in diesem Beruf braucht, grade nicht hinter der Schulbank erlernt werden kann.

Und so könnte das System tatsächlich die Unfähigen bevorzugen, und die anderen werden dem Wohl und Wehe von Sachbearbeitern unterworfen, die im Zweifel keinen Unterschied erkennen zwischen einem bloßen Bierzapfknecht und jemandem, der nicht mal nachdenken muss, wenn der Gast grad gerne einen Twist auf einen Boulevardier hätte. Außerdem darf man auch folgenden Aspekt nicht außer acht lassen: auch die Europäer, die bleiben dürfen, werden einen schlechteren Status haben als vorher. Es gibt den Downgrade vom EU-Bürger zur Duldung. Und das macht schon was aus, auch das wird den ein oder anderen zusätzlich vertreiben.

„We just don’t like to work anymore.“

Und dann wird’s geräumig werden hinter den Tresen der Stadt. Nehmen wir einmal an, dass die Stars der Branche genug wichtige Freunde haben, um im Land bleiben zu können – es ist zweifelhaft, dass sie das auch für ihr Personal erreichen können. Und so sehr die Namen der Stars auch glänzen, es gilt die alte Regel: Cäsar hat zwar die Gallier besiegt, aber so ganz alleine war er dabei ja auch nicht. Und wenn Giovanni nicht mehr am Brett arbeiten darf, dann lässt er sich nicht so ohne Weiteres durch den nächstbesten John ersetzen. Es gibt schlicht nicht genug fähige Johns. So sehr London als Mekka der Profession Bewerber aus aller Welt anzieht, so wenig scheint diese Anziehung inländisch zu wirken. Laut Marian Beke ist nur einer von hundert Bewerbern für eine Position im Gibson Brite. Ein Prozent. Als hätte man den Vatikan vor der Haustür, und keiner der Nachbarn will Pfarrer werden.

Weshalb ist das so? Ein Bauunternehmer in Paddington gibt die Antwort: „We just don’t like to work anymore.“ Sein Team besteht hauptsächlich aus Kosovaren. Was kann noch alles an Üblem passieren? Nun, wenn England nicht mehr so leicht erreichbar ist, werden weniger Touristen kommen. Sprich: Kunden. Wenn der Wirtschaftsstandort England leidet, etwa in Form des Londoner Finanzdistrikts, dann werden dort weniger Menschen leben und arbeiten. Sprich: finanzkräftige Kunden. Und andersrum wird zum Beispiel London, das bislang als einer der beliebtesten Arbeitsplätze der Welt gilt, an Attraktivität einbüßen, wenn die Barkultur als weicher, um nicht zu sagen flüssiger Standortfaktor leidet. Wegen des tollen Wetters kommt keiner.

Keep calm and carry on

Was bleibt zu tun? Nichts. Eigentlich hängt das Thema allen zum Hals raus, und mehr als abwarten kann man eh nicht. Keep calm and carry on, auch das haben die Nicht-Engländer mittlerweile besser drauf als ihre Gastherren. Und natürlich bleibt einem immer noch der britische Humor: Der Independent hat ausgerechnet, dass die Bearbeitung sämtlicher 85-seitiger Anträge der in Frage kommenden EU-Bürger etwa 140 Jahre dauern würde.

Schade, dass man das online erledigen kann. Aber bestimmt wird jemand umrechnen, wie lange andernfalls die Schlange der Antragsteller wäre. Ein wahrlich britischer Rekord. Aufgestellt von lauter Ausländern.

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Foto: Shutterstock

Comments (2)

  • JJ

    Leider wird es so nicht kommen, fuer viele ist die Heimat (Italien, Ungarn etc.) schlimmer ekonomisch – man kann vom bartending in London ok leben. Die Qualitaet des Personals leidet aber jetzt schon enorm am Brexit, nur gute Betriebe konnen auch das geschulte Personal halten.

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    • @phsflo

      Ich selbst war auf der European Bartender School in London und kann nicht bestätigen, dass die Qualität des Personals bereits jetzt leidet.
      Man bekommt bereits während seinen Kurses dort laufend Jobangebote in diversen angesagten Bars. Geschultes Personal geht nicht aus, allein die EBS bildet monatlich 20-40 Bartender aus.

      In meinem Kurs von 22 Leuten waren tatsächlich nur vier Briten. Italiener, Ungaren und andere Osteuropäer trifft man zu Haufe.
      Ich habe in London drei Straßenmusiker kennengelernt. Drei Italiener: Ein Beatboxer und eine Zwei-Mann-Band. Sie verdienen mehr Geld durch tägliches Musizieren auf der Straße, als in einem normalen Beruf ihrer Heimat.

      Wie dem auch sei – immer noch kommen sehr viele EBS-Absolventen (aber sogar Nicht-Absolventen) nach ihrem Kurs zurück nach London, um dort als Bartender tätig zu sein.
      Vor knapp einem Monat war ich erneut zu Besuch, hab mich lange mit meinen alten Lehrern unterhalten sowie mit einigen befreundeten Bartendern und Bar Managern von Bars wie The Gibson, Roadhouse (Der Tempel des Flair Bartending der WFA), Blame Gloria, London Cocktail Club.
      Alle waren der Meinung, dass keine Krise der Londoner Barkultur bevorsteht.

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