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Cups and their Customs

Buch und Bar, Teil 1: Cups And Their Customs

Die Weisheit der Schwarte. Oder: Mit Borretsch gegen die Barbaren. Das Buch „Cups And Their Customs“ von 1863 war eine britische Antwort auf Jerry Thomas. In den Entwicklungen der Trinkkultur der ehemaligen Kolonien sah man nichts als Barbarei, falsche Vergnügungssucht und Prahlerei. Unser neuer Autor Martin Stein eröffnet seine Reihe über alte Barbücher mit einer Einführung in das Werk.
Man kann sich den Cocktail als bedrohte Spezies denken. Nicht wie den Panda oder das Dreibindengürteltier, sondern eher wie die Wandertaube: Milliarden davon kackten einst in sonnenverfinsternden Schwärmen auf das darunterliegende Nordamerika, aber geholfen hat’s ihr auch nicht. Ausgerottet.
Der Cocktail hat bereits zwei große Naturkatastrophen überlebt – einmal die Prohibition, deretwegen die meisten Bar-Profis aus den USA vertrieben wurden und der Rest die nicht totzukriegende Sitte pflegte, schlechten Schnaps so lange mit Zucker und Saft zu verdünnen, bis man den schlechten Schnaps nicht mehr so schmeckte. Das war die erste Katastrophe. Später kamen die 1970er und 1980er, deren Batida-Kirsch-Windwurf noch lange in den einst so starken Mischwäldern der Cocktailkultur herumlag und die Käfer anzog.
Beide Male erholte sich die zivilisiert trinkende Welt durch das Wissen, das in den Zeitkapseln alter Bücher bewahrt worden war: zuallererst natürlich bei Jerry Thomas, dessen Ausgabe von 1862 den Beginn der nachweisbaren Cocktail-Buchkultur markiert.

Cups And Their Customs: Die Antwort des Empire auf den „Professor“

Viel wurde schon über den „Professor“, sein epochales Buch und dessen Wirkung geschrieben. Viel weniger bekannt ist, dass sein Bar-Tenders Guide of How to Mix Drinks kaum auf dem Markt war, als es auch schon eine Antwort gab – und zwar von jenseits des großen Teichs. Cups and their Customs erschien 1863 in London, wobei es unwahrscheinlich ist, dass es sich um eine direkte Reaktion auf Thomas’ Buch handelt. Sehr wohl handelt es sich aber um eine Reaktion auf die amerikanischen Trinksitten, und sehr wahrscheinlich sogar auf Jerry Thomas selbst, der wenige Jahre zuvor in London gewesen war und dort mit seiner schillernden, diamantverzierten Persönlichkeit samt seiner paartausenddollarteuren Barbesteck-Sonderanfertigung als Gegenentwurf zum britischen Understatement bestimmt für ebenso viel Aufsehen wie Missfallen gesorgt hatte.
Diese Amerikaner! Dabei war doch völlig klar gewesen, dass sie mit ihrem Abschied von England auch gleichzeitig jeglicher Kultur Lebewohl gesagt hatten. Amerikaner galten in Großbritannien grundsätzlich als ungehobelte Gesellen, die mit ihren Karabinern auf Büffel und Indianer ballerten und Fusel soffen. Und die sollten nun plötzlich auf dem Gebiet des gehobenen Trinkens etwas zu sagen haben? Most definitely not! England beanspruchte die Deutungshoheit über sämtlichen Alkoholkonsum der Welt für sich, von der Champagne bis zu den ceylonesischen Arrak-Palmen, und man hatte sich dieses Privileg ja auch redlich ersoffen.
Cups and Their Customs_Martin Stein

Die Drinks der Barbaren erfreuten das Empire

Es ließ sich aber nicht leugnen, dass die Drinks der alten Kolonien im englischen Mutterland auf bedeutend mehr Zuspruch stießen, als das den Traditionalisten lieb war. Die Juleps, Cobblers und Cocktails waren enorm schmackhaft und wurden – revolutionär! – in praktischen Ein-Personen-Einheiten bereitet und verabreicht. Die Gäste mochten das; die Hüter der alten Werte nicht so besonders, und deshalb ist Cups and their Customs ein etwas groteskes 50-Seiten-Werk, das sich dem Thema Alkohol derart schulmeisterlich widmet, dass man sich an eine Aufklärungskampagne des Bundesgesundheitsministeriums erinnert fühlt. Viktorianisch eben: Wer Spaß am Trinken hat, der macht gewisslich etwas falsch.
Hochedukativ wird eine Historie des Trinkens dargeboten, und die beginnt bei Adam und Eva. Dann die Griechen. Die Römer. Die Kelten trinken aus den Schädeln der gefallenen Feinde, und etymologisch gehe auch „Schale“ auf „Schädel“ zurück (nette Idee, aber zweifelhaft). Der Begriff „Toast“: „Johnson verwendet ihn in seiner Übersetzung des Horaz, in Ode I, Buch IV, folgendermaßen …“ Bei den Angelsachsen schenkt König Witlaf einer Abtei sein Trinkhorn, woraus deutlich ersichtlich wird … – et cetera.
Die Shakespeare’sche Verwendung der Bezeichnung „Sack“ lässt vermuten … –rhabarberrhabarber. Nur halb ironisch verwenden die Autoren den Ausdruck „Bacchanology“ für ihre Arbeit. Man kann sich bildhaft vorstellen, wie ein junger Brite, durch die Lektüre geläutert, auf ewig dem Cocktail abschwört und entweder ins Kloster oder in den Krieg zieht. Und wie sich in New York Jerry Thomas vor Lachen den Bauch hält.

Die einzig wahre Wahrheit der royalen Trinkhoheit

Cups And Their Customs ist das Manifest eines Religionskrieges – die Geschichte des Getränkes wird vor allem deshalb erzählt, um zu beweisen, wie blöd alle anderen sind, während man selbst glücklicherweise die einzig wahre Wahrheit besitzt. Schon der Titel zeigt den Unterschied: „Cup“ bezeichnet sowohl das Gefäß als auch das darin befindliche Getränk. Der Humpen wird dann in der Runde herumgereicht, geht von Mund zu Mund, und zwar in festgefügter, zeremonieller Form. Nur der Prolet säuft allein.
Gerade im Beharren auf den Traditionen fallen natürlich Veränderungen umso mehr auf: Die alten Rezepte werden „so sehr wie möglich vereinfacht, um auch dem Uneingeweihten dienlich sein zu können.“ Da soll das eigene Produkt aufgehübscht und entstaubt werden. Zielgruppenmanagement im 19. Jahrhundert.
In der Abteilung „Modern Recipes“ erscheint der Punch, was schon bezeichnend ist: In den USA war der damals schon völlig aus der Mode gekommen (und deren Vielzahl in How to mix Drinks von 1862 nur noch auf Betreiben des Verlegers dort aufgeführt). Für ein Buch, das sich selbst als Rezeptsammlung versteht, finden sich in Cups And Their Customs ohnehin erstaunlich wenige, nämlich nur etwa zwei Dutzend, und auch deren Reiz wird durch den unstillbaren Drang der Autoren gemindert, immer noch ein Zitat und einen Vers und eine Referenz reinzupacken. Als gälte es zuvorderst, den Pedigree des Trinkens zu untermauern.

Auch der Julep gehört Good Ol’ Europe!

Dass tatsächlich der Julep erwähnt wird, muss man wohl auch in diesem Kontext verstehen: Das Wort stamme bekanntlich aus dem Persischen (aha!), und schon der 1723 verstorbene John Quincey habe ihn erwähnt (soso!). Und Milton schreibe folgende Zeilen (ach!). Vulgo: Ihr doofen Amis, bildet euch bloß nix ein, eigentlich ist das auch unserer. Ein ganzes Buch, das Verzweiflung angesichts neuer Ideen aus der neuen Welt signalisiert.
Dem Minzzweig in besagtem Julep zieht man jedoch den Borretsch als Aromageber vor, und ein prächtiger Stich der Pflanze schmückt denn auch das Frontispiz des Buchs. Das wahre Kulturkraut. Und die Konkurrenz? Den sensation-drinks aus Übersee „bringen wir kein freundschaftliches Empfinden entgegen.“ Ist ja eh nur Fusel, den keiner mag: „Wir verleihen unserer Befriedigung Ausdruck ob des geringen Erfolges, den ‚Pick-me-up‘, ‚Corpse-reviver‘, ‚Chain-lightning‘ und ihresgleichen in diesem Lande gehabt haben.“ Genau. Alles nur eine Modeerscheinung, diese komischen Cocktails. Geht vorbei. Kann man aussitzen.
Ein hochaufgelöster Scan des Buches (leider mit einigen fehlenden Seiten) findet sich in der Datenbank EUVS Vintage Cocktail Books.

Credits

Foto: Martin Stein

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