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Mixology — Magazin für Barkultur

Der seltsame Fall des schamlosen Dr. Case

Copycats sind kein Phänomen der Start-up-Industrie. Abgekupfert wurde auch bei Cocktails früh, wie „Dr. Cases New Recipe Book“ beweist. Trotzdem, oder gerade deswegen, ist das Buch aus dem Jahre 1882 ein perfektes Anschauungsbeispiel, wie sich der Markt der alten Cocktailbücher entwickelt hat.

 

Das Sammeln alter Cocktailliteratur ist eine edle, jedoch kostenintensive Beschäftigung. Die Renaissance der Bar hat zu einer massiven Preisexplosion im Bereich der alten Bücher geführt, und pauschal kann man sagen, dass alles Gedruckte mit einem Alter über 80 Jahre auf jeden Fall dreistellige Preise fordert, ob das Buch nun selten ist oder nicht, ob da inhaltlich was geboten ist oder nicht.

Der heilige Gral kostet mehrere tausend Dollar

Von ganzem Herzen gedankt sei deshalb an dieser Stelle der MIXOLOGY, die mich darüber schreiben lässt, weswegen wiederum ich meiner Frau erklären kann, was für ganz eindeutig vernünftige Anschaffungen diese Bücher waren.

Für den heiligen Gral, die Jerry-Thomas-Erstausgabe von 1862, werden Beträge von vielen tausend Dollar verlangt und auch bezahlt –was schon erstaunlich ist angesichts der Tatsache, dass diese „Erstausgabe“ über mehr als ein Jahrzehnt hinweg in immer neuen Bindequoten mit unterschiedlichen Preisen und Einbänden in einer Gesamtauflage von wahrscheinlich insgesamt 8.000 Exemplaren nachgedruckt wurde. Nicht gerade Blaue-Mauritius-selten; höchstens FDP-selten.

Der Richtwert des Preises liegt in der Entstehungszeit. Zweiter Weltkrieg: teuer. Prohibition: sauteuer. Prä-Prohibition: leckmichamarsch-teuer. Und dann gibt es noch die Bücher von vor 1900, dem Kambrium der Cocktailgeschichte, eben mit Harry Johnson und Jerry Thomas als den mythischen Urvätern der alkoholischen Ursuppe, und da wird dem preislichen Wahnsinn dann nochmal ein Krönchen aufgesetzt.

Dr. Cases New Recipe Book: Von Brotrezepten bis zu Cobblers

Da kann man mal damit beginnen, die Verwandtschaft um ihre überflüssigen Nieren anzubetteln, weil man mit den eigenen Organen nicht besonders weit kommt. Und dann stolpert man über ein altes Werk mit dem Titel „Dr. Cases New Recipe Book“, einen Almanach aus New York von 1882, der dem geneigten Leser „2000 Valuable Recipes“ für alle denkbaren Lebenslagen anbietet. Aber wirklich alle. Eine Bibel des Do it Yourself. Auf 160 eng bedruckten Seiten erfährt man Schmelzverhältnisse für metallische Legierungen, Mittel gegen Krätze, Fadenwürmer und Sommersprossen, Mischungsanleitungen für Schnupftabak, Rezepte für Brot, Kuchen und Apfelmus, für Essig und Dünger.

Und?

Und für Cocktails, Cobblers und Punches. Das Buch hat tatsächlich sein eigenes „Bar-Keeper’s Department“, und das erstaunt dann schon. 1882, wie gesagt. Die Erstausgabe von Jerry Thomas datiert von 1862, und nur 20 Jahre später hatte seine Form von Spezialwissen offensichtlich Einzug in den populären Alltagsgebrauch gefunden. Wenn der New Yorker Landmann seinen frisch angerührten Dünger auf seinen Acker in der Bronx ausgebracht hatte, beschlug er vielleicht noch ein Pferd, goss ein paar Kugeln für seine Flinte und gönnte sich danach einen selbstgemachten Mint Julep. Ein eigenartiges Bild.

Jerry Thomas brach mit der Geheimnistuerei

Mit einer Vorstellung muss man dabei aufräumen: Auch 1862 waren Cocktails nicht wirklich etwas Neues – es hatte bloß noch nie jemand ein Buch drüber geschrieben. Vereinzelte Rezepte waren immer wieder in Zeitungen und Zeitschriften erschienen, aber nie gesammelt, weil die Barkeeper ihre Fachkenntnisse grundsätzlich lieber für sich behalten wollten – besonders natürlich, wenn man das Monopol auf einen bestimmten Drink hatte.

Jerry Thomas brach mit dieser Geheimnistuerei, aber er konnte sich das auch leisten: Er war eine Berühmtheit, und das nicht nur in New York, sondern im ganzen Land. Man muss davon ausgehen, dass auch ein durchschnittlicher Bürger in Baton Rouge, Louisiana, wusste, wer Jerry Thomas war. Ein Star hinter dem Tresen, dessen Name alleine die Gäste in Scharen anzog, und Thomas, der immer in eine Vielzahl mehr oder minder riskanter Geschäfte verwickelt war, hatte wohl wieder eine Gelegenheit gesehen, schnelles Geld zu machen. Als „How to Mix Drinks“ erschien, war das ein großer Erfolg, und bald zogen andere Verlage und Barkeeper nach, manche mehr, manche weniger originell – die Sache mit dem Copyright wurde damals wohl nicht so eng gesehen.

Dr. Case hat seine Cocktails abgeschrieben

Auch die Rezepte des Dr. Case verdienen einen strengen Blick: Laut Verlag war er Arzt und Professor an der Auburn University, und als solcher entweder ein Universalgelehrter, wie man sie seit den Tagen Leonardo da Vincis als ausgestorben glaubte, oder jemand, bei dessen universitärer Karriere der Fokus nicht primär auf dem Schutz geistigen Eigentums ruhte.

Kurz gesagt: Dr.Case hat ganz schamlos bei Jerry Thomas abgeschrieben, und zwar so ziemlich dessen komplettes Buch. „So ziemlich“ bedeutet, dass nicht alle der ursprünglichen Rezepte aufgeführt werden; die redaktionelle Eigenleistung des Dr. Case besteht hauptsächlich in verschiedenen Kürzungen und im Weglassen einzelner Teile.

Langer Teile, um genau zu sein. Bei allem Informationsdrang war die Platzfrage offensichtlich essentiell, und so wird der gesamte Jerry Thomas auf gerade mal sechseinhalb Seiten eingedampft. Das macht es dann schon mühsam, sich als Heimbartender fortzubilden, und nicht nur, weil das Papier mittlerweile vergilbt ist.

Dr. Case schreibt für den Sparfuchs

Das Zielpublikum des Dr. Case war aber definitiv der Sparfuchs, und das ist natürlich ein denkbar unedler Beweggrund. Da klaut er dem Jerry Thomas die Rezepte, damit auch die letzten Geizhälse noch an ihren Whiskey Cobbler kommen, und sägt am Verständnis für die Preiswürdigkeit hochwertiger Getränke. Möge er in einem billigen Sarg in saurer Erde ruhen.

Die allererste Erstausgabe von „How to Mix Drinks“ kostete einen Dollar fünfzig; mit dem schnellen Erfolg stieg der Preis fix auf zwei Dollar und schließlich auf zwei Dollar fünfzig. Dr. Cases New Recipe Book gab es für läppische fünfzig Cent.

Man muss nicht eigens erwähnen, dass sich das geändert hat. Weil es halt (zumindest partiell) ein Cocktailbuch aus den 1880ern ist, und davon gibt es nicht so besonders viele. Und, irgendwie, ist es natürlich auch ein Jerry Thomas, wenn auch entkernt und gefleddert.

Letztlich geht es um die Sammlerfreude

Allerdings lohnt sich für den Interessierten definitiv die Geduld –  schließlich liegt ja ein großer Teil der Sammlerfreude sowieso in der Jagd: Wenn das Ding als Cocktailbuch angeboten wird, werden gerne 400 Dollar verlangt.

Wenn es allerdings bloß als skurrile alte Schwarte mit seltsamen, überholten Rezepten angeboten wird, dann kann man es auch mal für einen Zwanni abstauben. Und das ist doch schön. Wenn man wo bedenkenlos sparen darf, dann doch bei einem Dr. Case.

Credits

Foto: Martin Stein

Comments (2)

  • Mangomix

    Danke, Herr Stein, für diesen lesenswerten und launigen Beitrag! Ich hoffe natürlich, Sie haben Ihr Exemplar nicht als “Cocktailbuch” erwerben müssen – für ‘nen Zwanni ist ein bisschen “Jerry Thomas 1862”, zwar indirekt, aber dafür mit viel historischer Aura, doch kein so schlechtes Preis-Leistungsverhältnis. Apropos Preis/Leistung: Irgendwie ja auch beruhigend, hier zu erfahren, dass schon zu Jerry Thomas’ Zeiten billigst zusammengeschusterte Rezeptsammlungen zu Schleuderpreisen auf den Massenmarkt geworfen wurden. Zumindest daran hat sich ja bis heute nicht viel geändert. (Und nein, das soll natürlich keine Anspielung sein auf Publikationen aus dem Hause Mixology!) Freue mich jedenfalls schon auf Ihre nächsten Beiträge über Ihre Sammlung hier auf Mixology!

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    • Martin Stein

      Vielen Dank. Freut mich sehr. Und, ja, ich hab nur einen Zwanni bezahlt. Vielleicht macht sich der Rest vom Buch auch noch irgendwie bezahlt. Spätestens bei der Zombie-Apokalypse.

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