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Ruhestätte des Großmeisters: Harry Johnsons Grab

Die Entdeckung der Grabstätte Harry Johnsons in Berlin stellt die Frage nach Umgang mit Geschichte, Erinnerungskultur und Traditionsbewusstsein innerhalb der Barszene. Sie nannten ihn den The Dean, den Vorsitzenden, den Dekan. Ein Titel, der die Bedeutung von Johnson als eines der großen Vorbilder in der Geschichte des Bartending unterstreicht.
Wer schrieb nun wirklich das erste Handbuch für den Bartender-Beruf? Jerry Thomas oder Harry Johnson? Professor oder Dean? Henne oder Ei? Aus dem Jahre 1862 stammt das in den letzten Jahren intensiv wiederentdeckte Werk „The Bartender’s Guide“, auch bekannt unter dem Titel „How to Mix Drinks“ oder „The Bon-Vivant’s Companion“ aus der Feder von Jeremiah „Jerry“ P. Thomas, auch bekannt als „The Professor“.
Wo ist das Original?
Das „Bartenders’ Manual“ von Harry Johnson ist als Reprint aus dem Jahre 1882 verfügbar, trägt dabei aber den Zusatz “new and improved” und verweist damit auf Vorgängerschriften. Johnson selbst schreibt im Vorwort zu seinem Werk, er habe in San Francisco das allererste Handbuch für Bartender veröffentlicht, das jemals in Amerika verfasst wurde. Er nennt dafür eine Auflage von 10.000 Stück, die demnach vor 1882 erschienen sein müssen. Leider ist bis heute keines jener Exemplare aufgetaucht.
Dies ist aber nur bedauerlich für einige wenige Gastro-Historiker, nicht für heutige Bartender, für die sich die Lektüre von Johnsons Buch heute noch immer lohnt. Er war der Erste, der nicht nur Rezepte und Getränke beschrieb, sondern der zusätzlich noch Leitlinien für den Betrieb einer Bar und Verhaltensregeln für Bartender entwickelte. Es ist in der Tat erstaunlich, welche Aktualität sein Buch in weiten Teilen auch heute noch aufweist.
Hut ab und nicht auf den Boden spucken!
Mit hohem Anspruch und akribischer Genauigkeit schreibt Johnson Kapitel über Verhalten des Barmannes gegenüber dem Gast, Preiskalkulation für Drinks, Behandlung von Eis und Sauberkeit von glänzenden Oberflächen. Nützlich sind ebenfalls die Hinweise, wie man Ameisen und andere Insekten von den Flaschen fernhält, oder Tipps für Bewerbungsgespräche von Bartendern auf Arbeitssuche: Der „Dean“ empfiehlt, gut rasiert und in gebügelter Kleidung zu erscheinen, den Hut beim Betreten der Restaurants oder des Büros vom Kopf zu nehmen und beim Sprechen keine Zigarre im Mundwinkel zu haben oder auf einem Zahnstocher zu kauen. Auch vom Spucken auf den Boden rät Johnson ab.
Weiterhin beschreibt er sehr genau zahlreiche Arbeitstechniken und listet weit über 200 zeitgenössische Rezepturen. Johnsons “Manual” gilt zudem als erste Publikation, in der sich der Begriff „Martini“ samt Rezept findet, sowie ein Bild, unter dem dieser „Martine Cocktail“ heißt. Womöglich ein Druckfehler oder eine Referenz an den Vorgänger Martinez?
Ein preußischer Urahn der American Bar
Harry Johnson wurde am 28. August 1845 im preußischen Königsberg, dem heute russischen Kaliningrad, geboren und kam 1852 nach San Francisco, wo er in Saloons und Hotels arbeitete und, nach eigenen Angaben, bereits mit zarten 15 Jahren  anfing, Cocktails zu mixen. Später wechselte er über Chicago an die Ostküste nach Philadelphia und New York.
Das Wissen über das Leben und Wirken von Harry Johnson verdanken wir zu einem Großteil der sorgfältigen Recherche der beiden Cocktail-Historiker Anistatia Miller und Jared Brown, die ihre Erkenntnisse in den Büchern „Spirituous Journey. Book Two“ und „Harry Johnson’s New York“ zugänglich gemacht haben. Darin skizzieren die zwei Autoren sehr anschaulich den Berufsweg, wie ihn ein Bartender in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, vor dem Hintergrund der stetig bedrohlicher werdenden Macht der Prohibition, einschlagen konnte.
Historische Recherche ist schwierig. Der Umgang mit Erinnerung umso mehr.
In letztgenanntem Pamphlet gehen Miller und Brown noch von einer letzten Ruhestätte Johnsons auf dem Greenwood-Friedhof in Brooklyn aus. Eine Annahme, die sich nun als unzutreffend herausstellte. Anastatia Miller fiel bei ihrer nimmermüden Recherche ein neues Dokument in die Hände, was den Tod und die Bestattung eines Amerikaners in Berlin anzeigt. Bei genauerem Hinsehen kommt die Cocktail-Historikerin zu dem Schluss, dass es sich um Harry Johnson handeln muss, der zuletzt den Namen seiner zweiten Ehefrau, Martha Brown, annahm und unter diesem auch im Februar 1933 zu Grabe getragen wurde.
Mit tatkräftiger Unterstützung des Düsseldorfer Bartenders und Bloggers Jörg Kalinke kontaktierten Brown und Miller im Jahre 2013 die Verwaltung des Friedhofs “Zum Heiligen Kreuz” in Berlin-Tempelhof und konnten dann 2014 tatsächlich die Tatsache der Grablegung sowie den Standort des Grabes verifizieren. Ein Grabstein ist allerdings nicht mehr vorhanden. Die Details zum Ablauf beschreibt Kalinke auf seinem Blog Drinkmix.

Eine erste Ehrung
Zum Bar Convent Berlin 2014 suchten sie gemeinsam den Friedhof auf, um eine Schale mit Blumenschmuck in Erinnerung an den Pionier des Bartender-Berufes niederzulegen. Doch wie geht es weiter? Jörg Kalinke erklärt: „Anistatia und mir selbst ist es sehr wichtig, die Erinnerung an einen Vorreiter unseres Berufsstandes zu würdigen und hochzuhalten. Es wäre großartig, einen Ort zu haben, an dem wir das Andenken Harry Johnsons pflegen können.“ Auch die Tatsache, dass Johnson für eine in Europa beheimatete Tradition des Bartending steht, spielt für das Recherche-Team eine Rolle.
„Im Februar jährt sich der Todestag von Harry Johnson, im August sein Geburtstag. Es wäre großartig, wenn eines der Daten für einen Erinnerungsmoment in Frage käme“, wünscht sich Kalinke. Zunächst gilt es aber, die Rahmenbedingungen zu klären und mit der Friedhofsverwaltung weitere Schritte abzustimmen, was allerdings viel Mühe erfordert, wie der Barmann berichtet: Die Administration des Friedhofs muss zu den möglichen Maßnahmen Stellung nehmen, etwaige Nachfahren müssen mit einbezogen werden und dann sind natürlich Spendenmittel und Engagement aus Bartenderkreisen gefragt, zu dem Kalinke in seinem Blogartikel aufrief.
Die bisherige Resonanz war sehr positiv und einige wichtige Protagonisten der aktuellen Barkultur in Deutschland boten ihre Unterstützung bereits an, wie er berichtet: „Es ist großartig. Klaus St. Rainer, Ulf Neuhaus, André Pintz oder Robert Potthoff signalisieren ihre Bereitschaft zum Mitmachen, aber auch Bartender aus Schweden und Tschechien wollen dabei sein.“
Traditionsbewusstsein ist mehr als eine historische Rezeptur
Vor allem ist natürlich auch Berlin gefragt. Hier erwägt derzeit der Vorstand des Hans-Schröder-Vereins zur Pflege der Barkultur, wie das Projekt und die damit verbundene Erinnerungskultur unterstützt werden könnte. Der Verein trat 2012 erstmals an die Öffentlichkeit, um den Berufsstand, die Fortbildung und den internationalen Austausch von Bartendern zu fördern, allesamt Aspekte, für die Harry Johnsons ebenfalls zeitlebens eintrat.
2013 bekräftigte der Verein seine Intention in Form einer Satzung, deren Auszüge auf dem Blog von Jörg Meyer nachgelesen werden können. Erste Gelder wurden durch engagierte Charity-Maßnahmen bereits eingenommen, allerdings hat man von weiteren Aktivitäten des Hans-Schröder-Vereins, benannt nach einem der langjährigsten Bartender in Deutschland, Hans August Schröder aus dem legendären Rum Trader, schon längere Zeit nichts gehört. Vielleicht bietet die Entdeckung der Begräbnisstätte von Harry Johnson ja einen Anreiz für den Vorstand, die weitere Entwicklung aktiv zu begleiten.
Aktive Erinnerung braucht Leidenschaft
Selbstverständlich erfordert ehrenamtliches Engagement nach Dienstschluss Mühe und Aufwand. Hinzu kommt, dass der Umgang mit Erinnerung und Gedenken nie besonders einfach ist. So verfügt Harry Johnson bislang nicht einmal über einen Wikipedia-Eintrag. Ob ein Erinnerungsstein oder ähnliches am Grab zustande kommt, wird sich erweisen.
Johnson selbst hätte dies Understatement womöglich gefallen, schließlich kommen auch die abschließenden Worte seines “Bartenders’ Manual” sehr bescheiden daher: „Die großspurige Attitüde, wie sie einige Bartender aufweisen und mit der sie glauben, ihre Kunden zu beeindrucken, sollte geflissentlich vermieden werden.“
Harry Johnson hat zeitlebens beeindruckt und sein Vermächtnis vermag dies auch noch heute, selbst in unseren Tagen. Er sollte nicht vergessen werden.