Warum der Bar-Nerd noch immer wichtig ist
Der Nerd hatte es fast nie leicht in der Neuzeit. Das liegt allein schon in seiner Bezeichnung begründet. Befragt man das Wörterbuch, so bedeutet der englische Begriff wahlweise „Streber“, „Langweiler“, „Außenseiter“ oder „Sonderling“. Man geht nicht zu weit, wenn man behauptet, dass diese Begriffe allesamt negativ besetzt sind. Steve Urkel, der vielleicht archetypische Nerd der goldenen Sitcom-Ära, lässt grüßen.
Zwischen Tüftler und Sonderling
Selbst wenn die Feuilletons sich vor ein paar Jahren in der Diagnose überschlugen, The Big Bang Theory habe den Nerd ein für alle Mal der Uncoolness entrissen und ihn in die Mitte des kulturellen und gesellschaftlichen Mainstreams gepflanzt – so kann man dennoch die steile These wagen: Abgesehen vom Gehalt möchten wohl die wenigsten Menschen etwas mit einem trichterbrüstigen, schmallippigen und kauzigen Informatikgott gemeinsam haben.
Auch in der Bar haben Nerds ihre Spuren hinterlassen. Jedenfalls hat man begonnen, jene Bartender so zu nennen, die irgendwann damit anfingen, sich mit klarem Eis oder hausgemachten Bitters zu befassen; die sich auch äußerlich vom einst typischen Bartender-Aussehen dadurch abgrenzten, dass sie Zwirbelbärte, Hosenträger und Derbyschuhe oder aber Laborkittel trugen; die durchaus selbstbewusst – mal ausdrücklich, mal durch die Blume – zum Mainstream sagten: Das, was ihr macht, genügt nicht. Zwar waren die Bar-Nerds von Anfang an durchaus auf ihren Style bedacht, aber sie entsprachen doch der Definition: Abgrenzung durch Mehrwissen, die bewusste Wahl des Status als Sonderling. Und sie wussten noch etwas: Nerd, so sagt das Lexikon ebenfalls, kann auch „Tüftler“ heißen.
2019: Das Jahr, in dem niemand mehr Nerd sein will oder soll?
Diese Zeiten sind objektiv noch nicht lange her, doch die Bar-Landschaft hat sich ja auch rasant geändert: Vieles, was einst durch die Nerds initiiert oder propagiert wurde, ist heute in guten Bars mehr oder weniger Standard. Viele einstige Nerds wiederum befassen sich heute eventuell weniger mit der Herstellung von kristallklarem Eis, sondern eher mit der Frage, wie sich jenes auf wirtschaftliche Weise in einer Bar zur Anwendung bringen lässt; als erfolgreiche Unternehmer. Sowas nennt man im Allgemeinen Fortschritt. Komischerweise nennt man diese Leute dann nicht mehr Nerd.
Was geblieben ist, ist ein wabernder Begriff innerhalb der Szene, der – mal bezogen auf Berufskollegen, mal auf Gäste – von Barleuten und Gastronomen verwendet wird. Und der in letzter Zeit wieder häufiger, sowie vor allem negativer, benutzt wird. So scheint es zumindest dem Autor (und man darf und soll ihn gern korrigieren). Der Bar-Nerd, er hat momentan nur wenige öffentliche Fürsprecher.
Der Nerd, das willkommene Feindbild
Natürlich war der Nerd immer schon ein willkommenes Feindbild für jeden Reaktionär, auch eine Projektionsfläche für den teilweisen Neid all jener, die nicht seinen fachlichen Kenntnisstand besitzen. Denn der Nerd hat folgende Grundeigenschaft: Er zeigt sich mit dem Status-Quo unzufrieden, er ist neugierig auf weiterführende Möglichkeiten. Das hat früh dazu geführt, dass jene Bartender, die Dinge abseits des über Jahrzehnte kanonisierten Muffs populär machten, von den alten, etablierten Instanzen ohne Überlegung geschmäht wurden: Als weltfremd, als Träumer oder eben, das Wort eindeutig negativ meinend, als Nerds.
Ihnen wurde vorgehalten, nicht im Sinne der Praxis zu denken, nicht im Sinne der Lehrinhalte, wie etwa DBU oder IBA sie vermitteln. Noch vor wenigen Wochen benutzte ein bekannter Barschulbetreiber in einer Diskussion bei Facebook für jene Leute, die abseits seiner persönlichen Norm an neuen Themen arbeiten und oft Quereinsteiger sind, die Bezeichnung „Gastronomische Schwarzfahrer“. Doch wer neue Gedanken nur deswegen verschmäht, weil sie von den seiner Meinung nach falschen Leuten kommen, nun ja — geschenkt. Wer so polemisiert und jegliche Forschungsarbeit außerhalb des eigenen Lehrplans aburteilt, gehört noch nicht mal mehr ins Museum.
Die Neue Einfachheit der Bar und der Nerd schließen sich nicht aus
Allerdings hat sich in jüngerer Vergangenheit eine weitere Tendenz entwickelt, der es entgegenzutreten gilt: Im Anschluss an die revolutionäre Goldgräberstimmung der Bar, in der kein Drink zu vertrackt, keine hausgemachte Zutat zu abwegig, kein Bartool zu exzentrisch sein konnte, hat sich daran eine vollkommen nachvollziehbare Gegenbewegung entwickelt. Eine neue Einfachheit ist wieder für mehr und mehr Bars und Bartender zum Ideal geworden: Reduktion aufs Wesentliche, schlichte Drinks, weniger Fokussierung aufs Handwerklich-Technische. Auch weniger Konfrontation des Gastes mit den szeneinternen Trends, dafür mit mehr Augenmerk auf wirtschaftliche Gegebenheiten und auf Planbarkeit. Und das ist auch gut so: Eine „neue“ normale Bar, die (mit den Erkenntnissen der letzten Jahre ausgestattet) ganz anders auftritt und ganz andere Drinks anbietet. Es ist mittlerweile nicht mehr ungewöhnlich, auch in Bielefeld, Münster oder Regensburg einen erstklassigen Negroni zu bekommen, ohne stundenlang suchen zu müssen. Und niemand braucht eine Bar-Branche, die nur noch aus Nerds besteht.
Diese Fokussierung aufs Pragmatische hat jedoch eine große Kehrseite mit sich gebracht: Das verstärkte öffentliche Infragestellen des Nerds scheint in Mode gekommen zu sein. Die neue Einfachheit hat in ihm ein neues, altes Feindbild gefunden. Stattdessen wird in vielen Fällen das übliche, mittlerweile müßige Gastgeber-Mantra heruntergebetet, sobald öffentlich über handwerklich Fortschrittliches gesprochen wird. Der Rotationsverdampfer ist heute weniger ein Werkzeug; er ist zum Kampfbegriff jener Leute geworden, die sich gegen den Nerd aussprechen. Entgegen gehalten werden stets die gleichen Argumente: Der Nerd denke nicht an den Gast, er habe nur sich selbst im Kopf, er mache „Kunst für die Kunst“. Der Nerd, so lassen sich die Vorwürfe vielleicht gut zusammenfassen, gebe sich nicht mit einem simplen Whiskey Sour zufrieden.
Der Nerd denkt nicht an den Gast? Bullshit!
Das ist erstens Blödsinn und zweitens Äußerung grässlicher Rückwärtsgewandtheit. Denn dass ein Whiskey Sour heute im Durchschnitt aller Bars wesentlich besser schmeckt als vor zehn Jahren, ist dem Nerd zu verdanken. Dem Nerd, der einst sagte: Doch, es ist möglich, auch in einer großen Bar ausschließlich mit frischem Zitronensaft zu arbeiten. Und mit frischem Eiweiß. Gleiches gilt für den Martini, in den keine gefüllte Olive mehr geworfen wird, dafür aber wieder richtiger Wermut. Oder für die Erkenntnis, dass selbst hergestellte Zutaten bei korrekter und geplanter Arbeitsweise die Qualität steigern, die Kontrollierbarkeit der Wertschöpfungskette erhöhen und gleichzeitig sogar die Kosten senken können. Die Liste der Verdienste der Nerds ist endlos. Und trotzdem verschanzen sich mehr und mehr Fachleute hinter einem abwertend gemeinten Begriff für jene Leute, die weitersuchen.
Der Nerd stand am Anfang der Bar-Renaissance. Und er tut es immer noch, nur anders. Die Nerds waren vor zehn Jahren gleichzeitig jene, die in der ersten Reihe der Aufmerksamkeit standen. Heute ist der wirkliche Bar-Nerd der Gegenentwurf zum „Startender“. Denn der Nerd arbeitet konzentriert im Stillen, er arbeitet Bücher durch (auch Bücher, die nicht von Bartendern geschrieben wurden) und stellt seine Geräte dorthin, wo sie hingehören und von niemandem gesehen werden: in die Küche. Um mit ihnen zu arbeiten. Der Startender stellt den Rotovap ins Rückbüffet und destilliert Apfelschorle. Der Startender bläst zahllose halbe Gedanken und Rezepte in den Instagram-Äther und beteiligt sich an Competitions, er fliegt im Jahr zu acht Bar Shows mit den selben Rednern und meint, etwas für seine Weiterbildung zu tun. Der Nerd kauft sich lieber noch ein Buch und rechnet weiter an der Kalkulation, die es ihm ermöglicht, eine Zentrifuge oder ein Ultraschallgerät wirtschaftlich sinnvoll an seiner Bar einzusetzen.
Der Nerd war nie weltfremd. Er ist es heute weniger denn je. Vor allem aber trinkt auch der Nerd gern einen Gin & Tonic oder Daiquiri. Nur weiß er, dass es nicht genügen kann, sich damit zufriedenzugeben. Wer den Nerd für sein Suchen nach Neuem verurteilt, der hat wenig verstanden. Er hat nicht verstanden, dass er damit die fachliche Entwicklung der letzten knapp 20 Jahre von sich weist. Er ist dafür, den Status-Quo zu zementieren. Und eigentlich wissen wir alle ja auch, dass Steve Urkel am Ende durch ausreichend Tüfteln doch noch bei seiner angebeteten Laura Winslow gelandet ist.
Credits
Foto: Shutterstock
Uwe Christiansen
So was nenne ich nicht Nerd, man nennt es leidenschaftlicher Barkeeper oder simpel: Fachmann seines Berufes!
Peter Schütte
Erstklassiger Artikel! Ein Hoch auf die Nerds und unsere Barkultur! Ich werde hoffentlich immer einer bleiben.