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Plädoyer für den Rausch: „Ich bin für die Löwen da, nicht für den Jongleur!“

Alkoholfreie Spirituosen sind zumindest aus kommunikativer Sicht in aller Munde, ihre Macher verkünden den neuen, bewussten Zeitgeist. Alkohol aber ist als Geschmacksträger unübertroffen, der Rausch eine Bastion gegen den Effizienz- und Selbstoptimierungswahn der Gegenwart. In unserer neuen Serie versammeln wir verschiedene Stimmen, die sich dem Dogma der katerfreien Vernunft nicht beugen wollen. Zum Auftakt glaubt Martin Stein nicht, dass sich jemand auf „einen kleinen Seedlip“ verabreden wird – um am Ende des Abends neun davon getrunken zu haben.

Wussten Sie, dass mehrere Mönche oft viele Tage an der Schöpfung eines Sandmandalas arbeiten, indem sie aus kleinen Metallröhrchen mit atemberaubender Präzision und Geduld gefärbten Sand auf den Boden rieseln lassen? Für ein einzigartiges Kunstwerk, dessen Endlichkeit Programm, dessen Zerstörung im Schaffensprozess schon mit angelegt ist. Was für eine Geisteshaltung. Was für ein Kunstbegriff.

Es ist faszinierend. Es ist bewundernswert. Und es geht mir komplett am Arsch vorbei. Sollen sie doch streuen, die Männer in Orange, und dann kommen halt andere Männer in Orange und kehren das wieder weg. Mir doch wurscht.

Sehen Sie, und mit alkoholfreiem Gin geht mir das ganz ähnlich. Da steckt ebenfalls eine Menge Kenntnis und Arbeit und Mühe dahinter, und ich würde deshalb nicht einmal die Werbepause der n-tv Doku „Geniale Technik – Revolutionäre Kriegsschiffe“ verpassen wollen.

Wie wichtig ist dieser neue Industriezweig?

Und wieder laufe ich Gefahr, einen ganz wichtigen Trend der Gegenwart zu ignorieren. Als wären mir E-Scooter und Chia-Samen keine Lehre gewesen. Und trotzdem …

Das sind natürlich alles abseitige Gedanken eines MIXOLOGY-Außendienstlers aus seinem nachrangigen nicht-hauptstädtischen Büro. Ja, was weiß ich schon vom Durst der Metropolen. Hm. Aber manches stimmt mich doch misstrauisch, auch wenn im Norden schon Poké-Bowls gegessen werden, während im Süden die Bubble-Tea-Läden noch nicht mit dem Aussterben fertig sind. Es ist begrüßenswert, dass endlich das Spektrum nichtalkoholischer Alternativen in der Bar über Wasser, Apfelschorle und Virgin Colada hinausgehoben wird, keine Frage. Aber wie wichtig ist dieser neue Industriezweig? Ist es überhaupt ein Industriezweig? Oder doch eher ein Zweiglein? Wie steht es um das tatsächliche Potential?

Ganz sicher steigt die Qualität der angebotenen Produkte, das will ich keinem absprechen. Aber dass die Hersteller und Vertriebler hier so tun, als wäre der ganz heiße Scheiß am Start – nun ja, Klappern gehört zum Handwerk. Die Worte hör ich wohl, allein, mir fehlt der Glaube.

Wer gibt das Geld für sowas aus? Ich denke mir, vielleicht die gleichen Leute, die auch linksdrehendes Gletscherwasser aus Nepal kaufen. Wie viele sind das? Ist wohl so wie bei den Fans von Primal Scream: Irgendwo wird’s schon welche geben. Reicht das aus? Kann man auch die Neugierigen aus dem Promille-Lager für sich gewinnen, die mal probieren kommen? Oder geht das dann vor sich wie bei Carnivoren, die sich mal zu einer veganen Currywurst überreden lassen? Gar nicht so schlecht, ist dann das Fazit, und dann wird nie wieder eine gegessen.

Der Alkohol macht das Bild, der Rest den Rahmen

Das soll also der milliardenschwere Trend der Zukunft sein … ach was. Eher glaube ich noch, dass das neue Persil jetzt aber ganz in echt viel weißer wäscht als alle anderen Persil vorher. Der Ansatz der alkoholfreien Spirituose leuchtet mir nicht ein – als wäre der Alkohol das unerwünschte Nebenprodukt einer ansonsten ganz passablen Angelegenheit. Damit zäumt man das Pferd natürlich von hinten auf – bitte trinken Sie verantwortungsbewusst, meine Damen und Herren, aber machen Sie sich nichts vor: Alkohol war bei der ganzen Geschichte immer der Protagonist, daran ändern auch noch so gelungene Rotovap-Essenzen nichts. Der Alkohol macht das Bild, der Rest den Rahmen. Löst man nun das eine vom anderen, dann kann da schon was Interessantes herauskommen, aber letztlich ist das wie bei der Trennung von Ike & Tina Turner – nur dass man halt auf Ike hocken bleibt. Ja, der konnte schon auch was. Aaaaaaber …

Es geht hier tatsächlich um nichts weniger als die Neuerfindung des Rads. 3.000 Jahre lang sind große intellektuelle Ressourcen der Menschheit (die dann offensichtlich dem Umweltschutz und dem Weltfrieden gefehlt haben) in die Bestrebung gegangen, Alkohol geschmacklich erträglicher zu machen. Wohlgeschmack ohne Alkohol gab und gibt es schon lange, das war nie das Problem. Man wollte betrunken werden und das Ganze sukzessive weniger unangenehm gestalten, und rein vom wissenschaftlichen Standpunkt aus betrachtet, hat man es dabei ziemlich weit gebracht. Wenn man jetzt so tut, als könnte man die Essenz des Getränks bieten, indem man mikrosensorische Empfindungen beim Alkoholgenuss nachbaut, dann bietet man eine Brille für Cybersex an, mit der Argumentation, dass bei Licht betrachtet echter Sex ja eine ziemlich eklige Angelegenheit ist.

Was natürlich objektiv gesehen auch stimmt. Und was trotzdem, oder vielleicht auch deswegen, echten Sex für ganz viele Menschen weiterhin erstrebenswert macht, während zur Cyberbrille vermutlich vor allem die greifen, die müssen, und nicht die, die wollen.

Auf einen „kleinen Seedlip“ verabreden?

Den Drang zur Selbstoptimierung gibt es aber natürlich schon viel länger als den Begriff dazu. Ständig wollen Menschen besser und vernünftiger werden, und verlässlich scheitern sie in diesem Bestreben, sonst gäbe es auch nicht tausend neue Diäten jedes Jahr, und Fitnesstudios könnten nicht 108 zahlende Mitglieder pro Quadratmeter beherbergen. Die Erfolgreichen sind im Fernsehen und auf YouTube, aber die anderen stehen im Supermarkt vor dir an der Kasse. Vielleicht könnte es ein Erfolgsrezept für die Hersteller alkoholfreier Spirituosen sein, Jahresmitgliedschaften zu verkaufen, die gegen das schlechte Gewissen der Konsumenten wirken, ohne dass die das Zeug dann auch tatsächlich trinken müssen.

Gut, das war jetzt wieder gemein. Die können schon was, die Produzenten, und sie werden auch immer besser. Aber wie soll denn die Endstufe davon aussehen? Wird sich jemals jemand auf „höchstens einen kleinen Seedlip“ verabreden und sich plötzlich dabei ertappen, dass er am Ende neun davon getrunken hat? Eine Bar lebt, egal auf welchem Niveau, auch immer von einer gewissen Maßlosigkeit, und wenn die Askese schon im Getränk angelegt ist, dann sieht es damit eben schlecht aus. Ich erinnere mich an einen Ausspruch von Klaus St. Rainer: „Wir freuen uns sehr, wenn ein Gast einen Manhattan zu schätzen weiß, aber um so einen Laden am Laufen zu halten, braucht man auch immer wieder jemanden, der sagt: auf geht’s, und jetzt Schampus für die Pferde!“

Das wird mit Alkoholfreiem nicht passieren. Eher wird der entsprechende Gast zum Pendant des ein-Espresso-pro-Stunde-Kunden, der jedem Cafébesitzer schon zu Herzrhythmusstörungen verholfen hat.

All das, was passiert, ist, im Wortsinn, ein Sturm im Wasserglas, wie mir scheint. Die Steigerungsraten sind enorm! Hurra! Na ja … 280 Prozent von ein bisschen mehr als Nix ist immer noch nicht wahnsinnig viel.

Es geht um die Löwen, nicht den Jongleur

Vermutlich hat Joerg Meyer für mehr Bewegung in der Industrie gesorgt, als er auf die Idee kam, dieses eine Gemüse in den Gin zu werfen. Und man muss deshalb auch annehmen, dass ihm Diageo bestimmt schon drei Milliarden Euro für seinen Laden angeboten hat, er aber aus purer Sturheit ablehnte. Und so drehte sich die Welt einfach weiter wie zuvor, und die verschmähten Milliarden gehen nun zu den No-ABVs, und die machen damit nun Sachen, die echt ziemlich gut sind.

Ziemlich gut.

In einer Branche, in der überall auf der Welt in den letzten zehn Jahren eine nie gekannte Perfektion anzutreffen ist, will ich aber nicht das trinken, was beinahe so gut ist wie das, was ich mag. Ich applaudiere deren Können mit der gleichen gelangweilten Höflichkeit, mit der man im Zirkus dem Jongleur applaudiert, bevor die Löwen kommen.

Ich bin aber wegen der Löwen da.

Credits

Foto: design_kuch – stock.adobe.com / Bearbeitung: Editienne

Comments (3)

  • Lars

    Lang leben die Löwen. Natürlich könnte es auch ne gute Show sein wenn man dann wieder die Jongleure zu den Löwen schmeißt.

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  • Jo

    Ein sehr engstirniger und privilegierter Beitrag, der die Existenz von schwangeren, stillenden, minderjährigen, medikamentennehmenden, lebergeschädigten oder ehemals alkoholabhängigen Personen komplett vergisst. Viele dieser Personen befinden sich in einem gesellschaftlichen Umfeld, in dem Alkohol trinken zur Norm gehört, an der sie nicht teilnehmen können. Hier sind leckere, alkoholfreie Alternativen einfach nur der Weg zu weniger Ausgrenzung.

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    • Mixology

      Liebe Jo,

      wir denken, dass aus dem Text relativ eindeutig ersichtlich ist, dass sich der Autor mitnichten gegen die kulinarischen Bedürfnisse der von Dir erwähnten Gruppen ausspricht oder sich über sie hinwegsetzt. Vielmehr spricht er den Rausch als wesensimmanenten Teil des Kulturraums namens »Bar« an und führt diesen Gedanken aus. Diesem Gedanken kann man folgen, muss man aber nicht. Man kann ihm auch, wie Du, widersprechen. Eine wie auch immer geartete Engstirnigkeit oder das Ausspielen von Privilegien konnten und können wir aber im Artikel nicht feststellen.
      Wir haben den Autor auf Deinen Kommentar aufmerksam gemacht, vielleicht äußert er sich ja auch noch persönlich.

      Herzliche Grüße im Namen der Redaktion
      // Nils Wrage

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